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Gaucks Jordanien-Besuch
Aliens aus dem Land der Obergrenzendebatte

Rund 28.000 Flüchtlinge leben im jordanischen Lager Azraq, das Joachim Gauck auf seiner Reise besucht hat. Für sie alle gibt es keine Perspektive. Von sieben Millionen Einwohnern Jordaniens sind mehr als zwei Millionen Flüchtlinge. Beschämend für die Besucher aus einem Land, in dem zurzeit eine Obergrenzendebatte geführt wird, findet Deutschlandradio-Chefkorrespondent Stephan Detjen.

Von Stephan Detjen | 09.12.2015
    Eine Lehrerin und Schulkinder vor einem Zaun im jordanischen Flüchtlingslager Azraq
    "Eine verlorene Generation" oder "tickende Zeitbomben": Die Kinder im jordanischen Flüchtlingslager Azraq. (Deutschlandradio / Stephen Detjen)
    Hier kommen die Leute aus dem Land, das darüber diskutiert, ob es eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen geben muss. Wie Aliens von einem anderen Planeten nähern sie sich. Ihre Wagenkolonne rast über die Wüstenstraße und zieht eine dichte Staubwolke hinter sich her. Polizei vorneweg, dann eine lange Folge von schwarzen Limousinen, Kleinbussen und Geländewagen mit verdunkelten Fensterscheiben. Am Kotflügel des Mercedes in der Mitte der Wagenfolge flattert eine schwarz-rot-goldene Standarte im Wind. Der Bundespräsident und seine Entourage besuchen das Flüchtlingslager Azraq in der jordanischen Wüste.
    Von einer leichten Hügelkuppe aus können wir das Lager zum ersten Mal sehen. Ein Meer von tausenden, weißen Blechhäusern glänzt in der Sonne. Jede dieser aus Fertigteilen zusammengeschraubten Notunterkünfte beherbergt fünf Menschen in einem Raum nicht größer als ein durchschnittliches deutsches Wohnzimmer. Tagsüber werden die Matratzen hochgeklappt und an die Wand gelehnt. In einer Ecke ist Platz für den kleinen Gaskocher, den jede Flüchtlingsfamilie bei der Ankunft erhält. Im nächsten Sommer, so hoffen die Betreuer des UN Flüchtlingshilfswerks UNHCR, können die Häuser mit Strom versorgt werden. Mithilfe der IKEA Stiftung soll ein Solarpark in Azraq gebaut werden.

    Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge im Lager sind Kinder
    Der Merzedes Benz des Bundespräsidenten Joachim Gauck steht im Flüchtlingslager Azraq in Jordanien. Am Kotflügel des  Mercedes in der Mitte der Wagenfolge flattert eine schwarz-rot-goldene Standarte im Wind. Im Hintergrund sieht man weiße Zelte und Bewohner des Flüchtlingslagers.
    Bundespräsident Joachim Gauck besucht das Flüchtlingslager Azraq in Jordanien. (Deutschlandradio / Stephen Detjen)
    Rund 28.000 Flüchtlinge aus Syrien leben hier. Für noch einmal so viel sind schon Unterkünfte bereit gestellt. Und für weitere 100.000 hat das Flüchtlingshilfswerk UNHCR Decken, Matratzen und einfache Kochutensilien in einem riesigen Lagerhaus eingelagert. Mehr als die Hälfte der Einwohner des Lagers Azraq sind Kinder. Joachim Gauck trifft einige von ihnen in einer der Blechhallen im Zentrum des Lagers, die den Schulcampus bilden. Leuchtende Augen, strahlende Gesichter, als sich der Besucher aus Deutschland mit Begleitern, Personenschützern und Kamerateams in das Klassenzimmer drängt.
    "Eine verlorene Generation" sei das, "tickende Zeitbomben", hatte uns am Vortag ein jordanischer Blogger erzählt, den der Bundespräsident zu einer Begegnung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren eingeladen hatte. Für die Menschen in diesem Lager gibt es keine Perspektive: nicht hier, inmitten der Wüste. Nicht in der Heimat, die immer tiefer im Krieg versinkt. Nicht in Jordanien, das wie kaum ein anderes Land dieser Welt Flüchtlinge aufgenommen hat.

    Am Ende seines Besuchs wird Gauck in das Häuschen einer Familie geführt, die ihn mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen bewirtet. Sie hatten das Lager vor einigen Monaten schon verlassen um – so wie rund 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge – ihr Glück in der Mitte der jordanischen Gesellschaft zu suchen.
    Drei kleine Jungen stehen vor hellgrünen Wellblechhütten im Flüchtlingslager Azraq in Jordanien.
    Eine Schule für die Kinder, ein Dach über dem Kopf und ein paar Dollar Unterstützung vom UNHCR: Das erwartet die Flüchtlinge im jordanischen Lager Azraq. (Deutschlandradio / Stephen Detjen)
    "Thank you Germany"
    Doch auch da wird es eng. Die zunehmende Konkurrenz von Billiglöhnern heizt den Arbeitsmarkt auf. Neben den 650.000 registrierten Syrern sind zehntausende Ägypter auf der Suche nach Arbeit nach Jordanien gekommen. Die Familie, die Gauck trifft, ist jetzt nach Azraq zurückgekehrt. Hier gibt es wenigstens die Schule für die Kinder, ein Dach über dem Kopf und ein paar Dollar Unterstützung vom UNHCR.
    Und es gibt hier Menschen wie Nida Yassin. Die 27-jährige Jordanierin hat Englisch studiert und arbeitet jetzt als Helferin für das UNHCR. "I love the refugees", sagt Nida und strahlt unter ihrem schick gebundenen Kopftuch und einer modischen Sonnenbrille. Ihre Kollegin Aoife McDonnell hatte uns zuvor am Tor des Lagers begrüßt. "Thank you Germany", rief Aoife in den Minibus. Deutschland habe so viel für Flüchtlinge getan, ein Beispiel für Europa und die Welt sei das, meint die Irin im hellblauen UNHCR Anorak.


    Aber was heißt das für das Land, in das wir nach nicht einmal vier Flugstunden noch am späten Nachmittag zurückgekehrt sind? Deutsche Besucher in Jordanien werden von ihren Gastgebern gerne mit einer simplen Rechenaufgabe konfrontiert: Jordanien hat knapp 7 Millionen Einwohner. Mehr als zwei Millionen von ihnen sind Flüchtlinge, vor allem Syrer und Palästinenser, die zum Teil seit Generationen mit unsicherem Rechtsstatus in Jordanien leben.
    Eine UNHCR Mitarbeiterin spielt auf einem Platz im jordanischen Flüchtlingslager Azraq mit Jungen Fußball, während die Mädchen in der Schule sind. Am Nachmittag ist für die Jungen Unterricht.
    Eine UNHCR Mitarbeiterin spielt mit Jungen Fußball, während die Mädchen in der Schule sind. Am Nachmittag ist für die Jungen Unterricht. (Deutschlandradio / Stephen Detjen)
    Deutschland hat mehr als 80 Millionen Einwohner, lautet der zweite Teil des Dreisatzes. Den letzten Teil der Aufgabe darf sich der Gast aus Deutschland selbst hinzudenken. Was kann der Besucher aus einem Land antworten, in dem in verödeten Landstrichen Ostdeutschlands leerstehende Wohnhäuser aus der DDR-Zeit abgerissen, Schulen wegen Kindermangel geschlossen und Pflegekräfte für eine überalterte Bevölkerung gesucht werden? Man kann kaum anders als beschämt von einer solchen Reise zurückkehren.