Zeitreise ins alte Europa

05.08.2013
Das alte, vorchristliche Griechenland gilt als Ursprungsland der Demokratie. Der Sprachwissenschaftler Harald Haarmann weist nun nach, wie stark die ansässige Ursprungsbevölkerung die eingewanderten Hellenen-Stämme beeinflusst hat.
Die Vorstellung, dass sich die vorhomerischen Stämme der Griechen nach ihren Wanderungen in einem kulturellen Niemandsland niederließen und dort – gleichsam aus dem Nichts heraus – ihre einzigartige Hochkultur samt Demokratie erfanden, ist falsch. Der international angesehene Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann legt in seinem neuen Buch überzeugend dar, wie sehr unsere klassischen Griechen von der bisher weitgehend unbekannten Hochkultur profitiert haben, die sie vorfanden, unterwarfen oder assimilierten.

Logischerweise nimmt jede Einwanderungs- und Eroberungsvölkerschaft etwas von dem auf, was sie vorfindet. Das klassische Beispiel hierfür sind Europas Fluss- und Gebirgsnamen. Für die Erforschung der vorschriftlichen Geschichte liefern die vergleichende Sprachwissenschaft, die Archäologie, die mündliche Überlieferung, das Brauchtum und religiöse Riten eine immer größere Vielzahl von Fragmenten, die - interdisziplinär analysiert und gedeutet - im Fall von Griechenland ein erstaunlich kohärentes Mosaik der beiden miteinander verschmolzenen Kulturen liefern.

Viele Schlüsselwörter des Griechischen, Ortsnamen, Namen von Göttinnen und Göttern, politische Begriffe sind nicht-indoeuropäischen Ursprungs. Durch die vergleichende Sprachwissenschaft und archäologische Funde lässt sich nachweisen, dass diese Wörter Sachverhalte bezeichnen, die den eingewanderten Stämmen vorher unbekannt waren.

Die zwei betreffenden Kulturen unterschieden sich, so Haarmann, radikal voneinander. Die Hellenen-Stämme waren die Nachfahren von strikt hierarchisch strukturierten Steppenvölkern, während die alteuropäische Vorbevölkerung antihierarchisch-genossenschaftlich organisiert war. Der Ort, an dem unweit der Akropolis in Athen beide Kulturen am engsten manifest sind, ist die Pnyx – ein westlich der Akropolis gelegener Hügel, auf dem die griechische Volksversammlung, die ekklesia, tagte.

In der hierarchischen Tradition der Steppenvölker waren ausschließlich Männer Mitglieder der ekklesia. Am Fuße der Pnyx manifestierte sich die andere, antihierarchische Tradition: Hier trafen sich die Frauen zu ihren der Göttin Demeter geweihten Festen und führten eine Tradition der egalitären Urbevölkerung weiter. Die Frauen waren frei, allerdings besaßen sie kein Stimmrecht und standen unter der Vormundschaft der Männer.

Dass das Wort Pnyx vorgriechisch ist, belegt, dass hier an diesem Ort alte Traditionen verortet waren und, teilweise in anderer Konstellation, weiterlebten. Das hierarchische hellenische und das egalitäre sich selbst verwaltende Prinzip der Ursprungsbevölkerung koexistierten im klassischen Griechenland.

Harald Haarmanns Buch klärt im besten Sinne des Wortes auf. Er versetzt seine Leserinnen und Leser in die Lage, eine Zeitreise zu unternehmen in eine Epoche, die in vielfältiger Weise bis in unsere Gegenwart weiterwirkt. Das Erbe, das die Griechen antraten und weiterentwickelten, ist auch unser Erbe. Der basisdemokratische Ansatz, den die alteuropäische Gesellschaft entwickelt hatte und mit Erfolg praktiziert hatte, verhalf den Griechen, ihre für uns noch immer vorbildliche Kultur zu entwickeln, eine Utopie, die als kreative Herausforderung verstanden werden kann.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Harald Haarmann: Mythos Demokratie. Antike Herrschaftsmodelle im Spannungsfeld von Egalitätsprinzip und Eliteprinzip
Verlag Peter Lang, Frankfurt / Main 2013
306 Seiten, 39,95 Euro