Zeitgeschichte

Erinnern ohne Zeitzeugen

04:23 Minuten
Am Brandenburger Tor wird Gemüse angebaut 1947: Im Hintergrund das beschädigte Brandenburger Tor.
Der Zeitzeuge dokumentiert durch seine Person eine raum-zeitliche Gesamtsituation der Vergangenheit, so Martin Sabrow. Hier: Gemüseanbau 1947 in Berlin. © imago/ akg-images
Überlegungen von Martin Sabrow · 02.09.2019
Audio herunterladen
Vor 80 Jahren begann mit dem deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg. Daran erinnern wir uns auch über Zeitzeugenberichte. Langsam werden diese aber weniger. Welche Folgen das hat, darüber denkt der Historiker Martin Sabrow nach.
Zeitzeugen gehören zur Zeitgeschichte. Aber je länger die einschneidendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts in die Vergangenheit zurücksinken, desto schwächer wird ihre Stimme. Kaum noch jemand ist unter uns, der über sein Schicksal als Häftling in einem Konzentrationslager Auskunft geben kann.
Noch kleiner ist die Zahl derer, die den Kriegsausbruch 1939 bewusst miterlebt hat, und die Generation derjenigen, die Zeugen der nationalsozialistischen Machtergreifung waren, ist weitgehend verstummt. Was bedeutet das Ende der Zeitzeugenschaft für unsere Geschichtskultur?

Der Zeitzeuge – eine Figur der Vergangenheitsverständigung

Es bedeutet jedenfalls nicht zwingend das Ende des Streits um die Deutung der Vergangenheit. Im Gegenteil: Die einhundertste Wiederkehr des Ersten Weltkriegsausbruchs 2014 hat die verhängnisvolle Weichenstellung von 1914 überhaupt erst wieder in das Bewusstsein unserer Zeit gehoben; das folgende Jubiläum der Novemberrevolution von 1918 hat ein über Jahrzehnte fast vergessenes Ereignis in die Erinnerung zurückgerufen und seine Bedeutung für die Geschichte Weimars neu definiert.
Zudem ist der Zeitzeuge eine vergleichsweise junge Figur der Vergangenheitsverständigung. Er ist nicht identisch mit dem Tatzeugen, der ein miterlebtes abgrenzbares Geschehen durch seine Darstellung für andere so präzise wie möglich nachvollziehbar und beurteilbar macht. Er ist auch nicht gleichzusetzen mit dem historischen Fachexperten, der vor Gericht oder in den frühen Fernsehproduktionen zur NS-Geschichte als beglaubigende Instanz auftritt, um Ereignisse und Einschätzungen zu bestätigen und zu kommentieren.

Unmittelbare Begegnung mit Geschichte

Der Zeitzeuge dokumentiert durch seine Person eine raum-zeitliche Gesamtsituation der Vergangenheit. Er autorisiert eine bestimmte Sicht gleichsam von innen als mitlebender Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter.
Deswegen konnte der Zeitzeuge erst in einer Zeit Bedeutung gewinnen, die der subjektiven Erinnerung Raum gab. Der Nürnberger Prozess 1946 kannte den Typus des vom Tatzeugen zu unterscheidenden Zeitzeugen noch nicht. Spektakulär in Erscheinung trat der Zeitzeuge das erste Mal im Eichmann-Prozess 1961. Vor dem Bezirksgericht Jerusalem bot Generalstaatsanwalt Gideon Hausner 112 Zeugen auf, die die zerklüftete israelische Gesellschaft dazu bringen sollten, "mehr über die Leiden der europäischen Juden zu erfahren und (...) so auch die (...) kollektive Identität der Israelis bzw. Juden zu festigen."
Es ist also nicht allein die Botschaft, die die Aura des Zeitzeugen ausmacht, sondern gleichermaßen ihre Beglaubigung. Im Zeitzeugen begegnen wir der Vergangenheit nicht nur mittelbar – in der Erzählung –, sondern zugleich auch unmittelbar – in der überlebenden Person. Der Zeitzeuge ist ein sprechendes Relikt, der als Überrest der Vergangenheit in die Gegenwart ragt und denselben Eindruck von Echtheit und Originalität vermittelt wie das Pergament einer mittelalterlichen Urkunde oder die Überreste der Berliner Mauer. Der Zeitzeuge konnte zur "Leitfigur der öffentlichen Erinnerung" aufsteigen, weil er Authentizität im wahrsten Sinne des Wortes "verkörpert".

Das allmähliche Verstummen

Längst hat das Bedürfnis nach der Begegnung mit Zeitzeugen das Phänomen des "sekundären Zeitzeugen" hervorgebracht, der als "Zeuge des Zeugen" historisches Erleben in die nächste Generation weitergibt. Und die Shoah Foundation in Los Angeles arbeitet daran, Lebenserinnerungen von Holocaust-Überlebenden so aufzubereiten, dass sie als Avatare, also als digitale Hologramm-Interviewpartner, auch nachwachsenden Generationen dauerhaft zur Verfügung stehen.
Das allmähliche Verstummen der Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts verändert den Charakter der öffentlichen Auseinandersetzung über die Vergangenheit. Aber es verbannt die deutsche Katastrophe nicht aus der Zeitgeschichte. Denn die stellt schon lange nicht mehr nur die Epoche der Mitlebenden dar, sondern weit darüber hinaus auch die Epoche der Miterinnernden.

Martin Sabrow ist Direktor des Leipniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.



Der Historiker Prof. Dr. Martin Sabrow spricht bei einer Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung
© Deutschlandradio
Mehr zum Thema