Zeitgeschichte aus filmkünstlerischer Perspektive

Von Wilhelm Warning · 26.04.2008
Die Olympischen Sommerspiele in München sollten Deutschland von seiner neuen, seiner demokratischen und weltoffenen Seite zeigen. Doch überschattet wurden die Spiele von dem Attentat auf die israelische Mannschaft. Die Künstlerin Sarah Morris setzt sich in ihrem neuen Film mit den Ereignissen aus dem Jahr 1972 auseinander. Zu sehen ist der Mix aus filmischem Essay, Doku und Kunstwerk im Lenbachhaus in München.
Ein Film als Kunstwerk? Ein Kunstwerk als Film? Natürlich, diesen Medienmix gibt es in der Kunst schon lange. Aber hier? Das Porträt eines Mannes und doch keines. Ein Dokumentarfilm und doch keiner. Ein filmischer Essay und doch keiner. Zeitgeschichte und doch nicht. Ein politisches Werk und ein Kunstwerk. Eines mit vielen Ebenen hat Sarah Morris geschaffen, das auf den ersten Blick wirkt, als solle da ein schreckliches Ereignis umgeschrieben werden. Aber, sagt Kurator Matthias Mühling, dieser Film habe mit Kunst zu tun …

"Weil Kunst sich immer schon die Frage stellt, wie etwas abgebildet werden kann, wie etwas repräsentiert werden kann, wie bestimmte Sachverhalte dargestellt werden können. Und das ist die Frage unserer Zeit."

Sarah Morris stellt Georg Sieber in den Mittelpunkt. 1972 war er der Psychologe der Münchner Polizei. Vielleicht stellt sich Georg Sieber auch selbst in den Mittelpunkt. Inszeniert sich. Rückt sich zurecht. Weil er damals ausgebootet wurde, am frühen Morgen des 5. September 1972, als die palästinensische Terrorgruppe "Schwarzer September" im olympischen Dorf elf israelische Sportler als Geiseln nahm. Sagt er. Die Polizei habe nicht versagt. Keine stümperhafte Aktion, damals, in den Sportlerunterkünften und später dann, nachts, am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, als alle Geiseln ermordet wurden. Damit habe er nichts zu tun gehabt, sagt Georg Sieber, der Psychologe, und blickt in die Kamera von Sarah Morris. Man habe alles den Israelis überlassen. Die hätten von ferne befohlen, was die Polizei nicht leisten konnte.

"Also, ich habe dann sehr schnell gesagt, wenn wir denn sowieso nichts zu sagen haben, wenn wir sowieso alles nur das machen, was die Israelis selber wollen, dann werde ich auch nicht mehr gebraucht. Und da ich den Eindruck hatte, es wird ein Blutbad geben, habe ich auch schon gleich dann um 8.00 Uhr offiziell erklärt: Ich quittiere meinen Job, das wird ein Desaster werden. Der Einsatz ist nicht geleitet."

Die Künstlerin überlässt ihm die Szenerie. Hier und da gleitet die Kamera durch die Straßen Münchens, schwebt über die geschwungenen Zeltdächer der Olympiaanlage, zeigt Bilder aus dem Staatsarchiv, das lichte Treppenhaus, abgegriffene Akten und Bücher. Sarah Morris nutzt Mittel des Dokumentarfilms. Aber ihr Blick ist offen. Sie bietet eine Projektionsfläche. Vielleicht will sie, dass er, der wortgewandte, angesehene Polizeipsychologe, sich und seine Sicht darstellt, frei von Selbstkritik an seiner Arbeit oder der der Münchner, der bayerischen Polizei. Und ohne Bedauern. Schuld an dem Desaster seien allein die gewesen, die im fernen Israel die Anweisungen gaben. Und die deutschen Politiker, die dem zustimmten.

"Es war eine ganz schlichte, jetzt im Nachhinein kann man sagen, beschämende Situation. Aber es war damals vollkommen plausibel und es war auch richtig."

Damit provoziert Sarah Morris Widerspruch. Sieber, das arme Opfer, der alles hätte besser machen können. Nein, so kann man das nicht stehenlassen, denkt man. Und ist in die Falle getappt, die die Künstlerin hier aufgestellt hat. Kein Dokumentarfilm mit dem Willen zur Objektivität. Sondern ein Kunstwerk. Und doch bleibt die Frage, wie es dabei um die Wahrheit steht. Für Kurator Matthias Mühling, der den Film mit einem sehr konzentrierten und klugen kleinen Buch begleitet, ist das eine der komplexen Ebenen dieses Kunstwerks.

"Natürlich ist das Thema komplex. Wissenschaft und Medien betreiben die Reduzierung von Komplexität. Aber Kunst macht das nicht. Insofern bin ich nicht unzufrieden, dass der Film komplex ist. Was passiert mit demjenigen, der es anschaut: Das müssen wir jetzt abwarten. Und natürlich wollen wir, dass es kontroverse Diskussionen über diesen Film gibt. Aber wir wollen nicht, dass es nur kontroverse Diskussionen darüber gibt, was Herr Sieber sagt. Sondern wir wollen, dass es auch kontroverse Diskussionen darüber gibt, wie bestimmte Dinge in den Medien dargestellt werden, wie Kunst bestimmte Dinge abbilden kann, und wir wollen aber auch, dass die Themen, die in diesem Film vorkommen, vernünftig verstanden werden."

Service: Sarah Morris - 1972
Lenbachhaus München
Vom 26. April bis zum 3. August 2008