Zeitgenössische Dichter und die Romantik

Die Poetisierung der Welt

26:48 Minuten
Zwei Brunnenfiguren reichen sich die Hände vor dem rosa Himmel, einem See und einem Alpenpanorama im Hintergrund.
Die Romantisierung der Welt ist zwar nicht gelungen, aber man kann Spuren des Versuches noch immer erkennen. © Eyeem/Thomas Giloteaux
Von Uta Rüenauver · 06.08.2021
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Die Welt muss poetisiert werden: Das forderten die Romantiker Ende des 18. Jahrhunderts. Was sagen Lyrikerinnen und Lyriker heute zu diesem Absolutheitsanspruch der Poesie? Und was bedeutet ihnen die Romantik für ihr eigenes Werk?
Die Romantiker erklärten den Dichter zum gottgleichen Schöpfer, der mit der Dichtung die verlorene Einheit zwischen dem Ich und der Welt wieder herstellen sollte. Doch wie stehen heutige Lyrikerinnen und Lyriker zu dieser Idee?
Die 1980 geborene Lyrikerin Carolin Callies hörte erstmals in der Schule von der Romantik:
"Ja, wann begegnet man der Romantik? Der begegnet man ja zuallererst mal in der Schule und da sehr ausführlich mit Novalis und der Blauen Blume und so weiter".
Für den Dichter Gerhard Falkner, 1951 geboren, spielt die Romantik eine große Rolle – nicht im sentimentalen, sondern im klassischen Sinn:
"Da wurden ja eigentlich auch die wesentlichen Kriterien für das Gedicht nochmal neu und sehr modern und sehr zeitgemäß definiert."

Romantik – damals und heute

Auch für den 47-jährigen Nico Bleutge ist die Romantik von großer Bedeutung. Ihren großen Clou sieht er darin, "dass all diese Trennungen, hier haben wir die Religion, dort die Philosophie, dort die Kunst, unterwandert werden sollen, insofern dass man denkt, das hängt eben alles mit dem anderen zusammen und bildet eigentlich eine Einheit."
Die 1980 geborene Kerstin Preiwuß findet, "dass die Gedankengänge der Romantik für uns alle innerhalb unserer Zunft stets und ständig Teil des dichterischen Grundmusters sind. Also sie sind eine Selbstverständlichkeit."
Zwei Lyrikerinnen und zwei Lyriker, die sich ganz selbstverständlich auf die Romantik berufen und davon auch in ihrem Werk beeinflusst sind.
Die Geburtsstätte der frühromantischen Bewegung Ende des 18. Jahrhunderts war Jena. Friedrich Schiller lehrt an der dortigen Universität Geschichte und zieht Scharen von begeisterten Anhängern in die Stadt. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Die Revolution in Frankreich hat gezeigt, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und gegen die Macht von Königtum und Kirche aufbegehren können. Die Aufklärung hat Früchte getragen. Doch Schiller sieht auch die Gefahr, die in der alleinigen Herrschaft der Vernunft liegt, wie sie die Aufklärung und ihr großer Philosoph Kant fordern.
Nico Bleutge hat sich mit der Aufklärung und mit Kant beschäftigt:
"Der baut seine Kritiken auf und analysiert alles durch, macht Unterscheidungen, hier ist die Sinnlichkeit, da ist der Verstand, hier ist die Anschauung mit ihren Formen, dort ist die Vernunft mit ihren Kategorien."

Die Dichtung als Mittel gegen die Entfremdung

Die Folgen eines ausschließlichen Gebrauchs der Vernunft hat Schiller bereits erkannt: Die Arbeitsteilung beschränkt den Menschen auf seine Funktion und lässt die Fülle seiner Vermögen und Bedürfnisse verkümmern. Entfremdet ist er von sich und der Welt. Einzig in der Kunst, so die Auffassung von Schiller, kann sich das Individuum in der gegenwärtigen Wirklichkeit noch in seiner Ganzheit erleben, werden Verstand und Sinnlichkeit gleichermaßen angesprochen. Nur so kann der Mensch noch Momente erfahren, in denen er sich frei und verbunden mit der Welt erlebt.
Das "Athenäum"-Fragment aus dem Jahr 1798 ist sozusagen das Manifest der Romantik. Darin heißt es:
"Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen."
In diesem Text formuliert Friedrich Schlegel den weltverändernden Anspruch der Dichtung. Schlegel und sein Bruder August Wilhelm, Ludwig Tieck und Friedrich von Hardenberg, der sich den Dichternamen "Novalis" zulegt, haben Schiller aufmerksam zugehört und sind überzeugt von der rettenden Kraft der ästhetischen Erfahrung. Sie rufen eine romantische Revolution aus.

Einheitssehnsucht in der Poesie

Die Romantik ist immer noch aktuell, findet Nico Bleutge. Und Carolin Callies interessiert sich besonders dafür, mittels Dichtung die Grenzen zwischen Wissenschaft und literarischer Arbeit aufzusprengen.
Auch Kerstin Preiwuß sieht Verbindungen von der Romantik zu heute:
"Also wie kann man die Fülle des Wissens erfassen und wie kann man einen Zugang herstellen zu den verschiedensten Teildisziplinen, aber auch die Möglichkeit, Verbindungen zu erkennen, die man vorher nicht gesehen hat."
Sehnsucht nach der verlorenen Einheit und ein lebendigen Einbildungs- und Ausdrucksvermögen zeichnen demnach die Dichter aus. Und die blaue Blume wird zum Symbol für diese romantische Einheitssehnsucht.
Auch in dieser Sehnsucht kann sich Nico Bleutge in seinem eigenen Schreiben wiederfinden:
"Der eigene Schreibprozess, der hat sehr viel mit so einer Einheitserfahrung zu tun, weil in den glücklichsten Momenten, die natürlich die seltensten auch sind, ist das so ein Aufgehen in den Stoffen und trotzdem hat man immer die Möglichkeit, analytisch zurückzutreten und sich anzusehen, was jetzt grade passiert. Ich habe das mal 'konzentrierte Euphorie' genannt und das ist ein Zustand, den ich genuin romantisch nennen würde."
Carolin Callies geht es ähnlich:
"Auch, dass es wirklich möglich ist, mit Sprache alles zu erschaffen. Und da ist es auch möglich, sich unterschiedliche Ichs anzuziehen. In jedem Gedicht in eine andere Rolle zu schlüpfen, andere Welten zu begehen."

Die Dichtung als funkelnder Kristall

Zwar gelang die Poetisierung der Welt nicht. Das absolute romantische Ich stieß sowohl an die Grenzen der Gestaltbarkeit der Wirklichkeit als auch an die Grenzen seiner eigenen Gestaltungsmacht. Doch die Poesie, sie bleibt auch heute durchweht vom Geist der Romantik.
Kerstin Preiwuß erklärt das so:
"Weil die Romantik ein Erkenntnisinteresse mit sich trug, das jeder bis heute auch mit sich trägt. Also wenn man Dichtung ernst nimmt, dann ist Dichtung immer ein Erkenntnisprozess."
Und Nico Bleutge reizt die Idee, "über die Sprache etwas zu bauen wie der novalissche Kristall, der in alle Richtungen funkelt."
(DW)

Das Manuskript zur Sendung finden Sie hier.

Die Sendung wurde erstmals am 30. August 2019 ausgestrahlt.
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