"Zeit die spricht"

Rezensiert von Jochen R. Klicker · 26.04.2005
Seine erste Zeitschrift für Kultur und Politik (Marcha) leitete er mit 20 Jahren. Als er 22 war, erschien sein erster Erfolgsroman (Los dias sequentes). Doch seinen Durchbruch erlebte der linke Publizist und Schriftsteller Eduardo Galeano 1971 mit "Die offenen Adern Lateinamerikas". Da war er 31 und musste zum ersten Mal Uruguay verlassen, weil die Zensoren der Militärdiktatur mit dieser umfassenden Geschichte der imperialistischen Ausbeutung Lateinamerikas nicht einverstanden waren.
Heute liegen "Die offenen Adern..." allein in der deutschen Übersetzung in der 18. Auflage vor; und wer in den letzten Jahrzehnten irgendwo in Lateinamerika Volkswirtschaft, Geschichte oder Politische Wissenschaften studiert hat, hat das Buch als Pflichtlektüre lesen müssen.

In diesen Tagen erschienen ist das bisher letzte Buch von Eduardo Galeano: "Zeit die spricht", 333 wundersame, verzaubernde und beglückende Geschichten aus den letzten 500 Jahren Lateinamerikas. Oft ist der Text bitter geraten, aber immer wird er lächelnd erzählt.

"Jetzt bin ich stolzer denn je, in Amerika geboren zu sein, in diesem beschissenen, in diesem wundervollen Kontinent. "

Das schrieb Eduardo Galeano - prominenter Publizist der lateinamerikanischen Linken - 1986 an seinen Verleger. Da war er gerade nach neun Jahren im spanischen Exil voller politischer Hoffnung in seine Heimatstadt Montevideo zurückgekehrt. Wie in anderen Staaten Mittel- und Südamerikas, so hatte damals auch in Uruguay die Militärdiktatur dem kleinen Pflänzchen Demokratie weichen müssen. Galeano und viele politisch engagierte Journalisten und Schriftsteller mit ihm waren davon überzeugt, dass man Elend und Armut in Lateinamerika endlich beseitigen und Gerechtigkeit schaffen könne für jedermann.

Und heute? Heute schreibt Eduardo Galeano wieder sehr skeptisch über gesellschaftliche Defizite wie "Die Armut". So die Überschrift einer vierzeiligen Minigeschichte aus seinem neuesten Buch "Zeit die spricht".

"Die Statistiken sagen, dass es viele Arme gibt, doch die Armen der Welt sind viel mehr als die vielen, die sie zu sein scheinen. Die junge Forscherin Catalina Álvarez Insúa hat auf ein nützliches Kriterium hingewiesen, mit dem die Zahlen korrigiert werden können: "Arm sind diejenigen, die ihre Tür verschlossen halten", sagte sie. Als sie ihre Definition formulierte, war sie drei Jahre alt. Das beste Alter, um die Welt zu betrachten und zu erkennen. "

Was an dieser "Zeit die spricht" des heute 65-jährigen Galeano sofort auffällt: Fast alle seine 333 kurzen Geschichten vom Leben werden lächelnd erzählt, selbst wenn die geschilderten Begebenheiten alles andere als heiter sind. Und anders als in anderen Galeano-Büchern zuvor werden diese - zum Teil ganz unscheinbaren - Begebenheiten arrangiert zu kleinen theatralischen Skizzen. Zu Szenen eines permanenten Theaters von Gut und Böse.

"Gut und Böse, Böse und Gut, die Akteure wechseln die Masken. Helden werden zu Monstern, und die Monster werden zu Helden, je nachdem, wie es jene verlangen, die das Drama schreiben. "

Die Figuren seines kleinen Welttheaters entlehnt der Autor der Geschichte und den Geschehnissen der letzten 500 Jahre. Da verkauft ein Alter geschmuggelte Zigaretten und beichtet ein Reumütiger die sieben Todsünden.

Einem anarchistischen Dichter spielt man auf dem Standesamt einen Tango und für die Sonne über Pennsylvania lässt man eine Irre arbeiten. Der 7-jährige Luis fragt sich, ob der liebe Gott böse wird, wenn er nicht an ihn glaubt, während der berühmte Erwachsenen-Pädagoge Paolo Freire sich heimlich im Kinodunkel zu simplen Tom-Mix-Filmen schleicht.

Die Plots für alle Text-Miniaturen des poetischen Gesellschaftskritikers liefert das einfache Leben - vergangenes, just erlebtes, für morgen erträumtes: das Wasser, die Erde, die Kindheit, die Liebe, das Wort, die Angst, die Macht, die Niedertracht, der Krieg, der Zorn, der Tod. Und gelegentlich sogar Gott selbst. Dementsprechend wechselt der Stil: des Erzählers Skizze für Skizze, Szene für Szene: Von Erzählung, Essay und dem Gedicht in Prosa über Biographie, Chronik und der Anekdote zu Bericht, Reportage und der Magazin-Story.

Anders als 1986 macht sich jedoch der Quer- und Vordenker der Globalisierungskritiker von Attac keine Illusionen mehr. Die Globalisierung heute marschiert wie die Kolonialherrschaft einst. Und die Peripherien der Armut, die abhängig sind von den globalen Finanzmetropolen, werden ausgebeutet wie eh und je. - Trotzdem lädt Eduardo Galeano mit anrührender Poesie ein, uns hoffnungsvoll offen zu halten für die Zeit mit ihren unvorhersehbaren Überraschungen, die zu erkunden und zu erlauschen bleiben. Eben jene "Zeit die spricht".

"Aus Zeit sind wir. Sind ihre Füße und ihre Stimmen. Die Füße der Zeit schreiten in unseren Füßen. Über kurz oder lang, das ist bekannt, verwischen die Winde der Zeit die Spuren. Die Reise des Nichts, niemandes Schritte? Die Stimmen der Zeit erzählen die Reise. "

Eduardo Galeano, Zeit die spricht. 333 Geschichten vom Leben.
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
Peter Hammer Verlag Wuppertal
380 Seiten
22 Euro