"Zeige deine Wunde"

Von Barbara Wiegand · 05.04.2007
Im Hamburger Bahnhof und dem Medizinhistorischen Museum der Charité ist in der Ausstellung "Schmerz" zum Beispiel ein Beißstab zu sehen, wie er bei Operationen im 19. Jahrhundert ohne Narkose verwendet wurde. Man kann aktuelle Schmerzprotokolle aus der Charité lesen oder einen aufgeklappten Stuhl von Joseph Beuys mit der Aufschrift "Zeige deine Wunde" betrachten.
Am Anfang ist der Schmerz in der Haupthalle des Hamburger Bahnhofs – Autsch! Ist das erste Wort, dass einem beim Anblick eines im gleißend hellen Licht präsentierten Beißstabes entfährt, wie er im 19. Jahrhundert bei Operationen noch ohne Narkose verwendet wurde.

Kuratorin Annemarie Hürlimann: " Diese Einkerbungen sind wie kleine Schmerzspuren, physische Spuren, die einen wirklich sehr ergreifen und sehr viel Assoziationen auslösen und die Frage nach dem Ausdruck des Schmerzes, der Form des Schmerzes, einer Geschichte des Schmerzes, weil nach der Narkose brauchen wir ja solche Beißstäbe nicht mehr, und so weiter. Und das war die Initialzündung überhaupt über ein Thema wie Schmerz in einer Ausstellung nachzudenken. "

Der Leder umwickelte Metallstab ist also ein von Zahnspuren gezeichnetes Symbol des Titelthemas, künstlerisch passend begleitet von Bruce Naumans Video eines schreienden Clowns.

Im nebenan gezeigten Animationsfilm von William Kentridge liegt der Patient stellvertretend für die südafrikanische Nation im Krankenbett. Die Diagnose: Leiden an der vergangenen Apartheid. Dem Schmerz, so wie er den Menschen von der Geburt bis zum Sterben begleitet, ist man also im Hamburger Bahnhof und dem benachbarten Medizinhistorischen Museum der Charité auf der Spur. Mit den Mitteln der Kunst und den Instrumenten der Wissenschaft.

Eugen Blume, Leiter des Hamburger Bahnhofs: " Wir sind auf den Schmerz gekommen, weil wir im Grunde etwas Produktives zeigen wollten. Also ein Phänomen, was stark mit der künstlerischen Kreativität aber auch stark mit der Wissenschafts-Kreativität verbunden ist. Der Schmerz ist so ein treibendes Moment in unserem Dasein. Das kann jeder nachvollziehen, wenn Sie Schmerzen haben, unternehmen Sie was. Und das kann man bei vielen Künstlern sehen, dass der Schmerz quasi ein Initiationspunkt ist, der das Werk sehr stark beeinflusst und die künstlerischen Produktionen voranbringt. Die andere Seite ist, dass Künstler über den Schmerz reflektieren."

Ein Reflektieren über den Schmerz in seinen verschiedensten Formen – auf unterschiedliche Art und Weise. Zum Beispiel ironisch wie der Kroate Mladen Stilinovic mit seinem Lexikon, in dem er einzelnen, schwarz hervorgehobenen Worten, Schmerz zufügt: Der Kopf, die Liebe, ja, sogar die Kunst können weh tun …

" Die Idee dahinter ist, dass unsere Sprache sozusagen von Schmerz durchdrungen ist. Alle Worte sind mit dem Schmerz verbunden. Guter Schmerz, Böser Schmerz, wie auch immer. Ja, Zwischen-Schmerz ist auch ein schönes Wort. Es ist eine konzeptionelle Arbeit, wie ein minimalistisches Gedicht. Wenn Sie es laut lesen, hören sie immer: Schmerz, Schmerz, Schmerz. "

Wie sieht er aus, wie drückt er sich aus? Der Schmerz? Woran leiden wir, und wie leiden wir mit? Fragen, die sich die in mehrere Kapitel unterteilte Ausstellung stellt. Auf der Suche nach Antworten werden aktuelle Schmerzprotokolle aus der Charité gezeigt, die neben dem von Schlüter gefertigten, bronzenen Antlitz eines sterbenden Kriegers weit mehr als nüchterne Tabellen sind. Oder auch der Film von Bill Viola, der den nicht im Bild gezeigten Schrecken in den mitfühlenden Gesichtern der Umstehenden spürbar macht.

Immer wieder geht es auch um die Überwindung des Schmerzes – in der Wissenschaft und im Glauben. In der Medizin durch Aspirin und Narkose beherrschbar, basiert die Kunst hier immer wieder auf dem für unsere Kultur so zentralen Motiv der Passion Christie. Setzt sich mit Martyrium und Mysterium auseinander. Von Dürers großem Passionszyklus und der Originalpartitur der Matthäus Passion von Bach, bis hin zu Franzis Bacons drastisch ins Bild gesetzter Kreuzigung.

Hinter einem Regal voll von Herzen und Gedärmen in Formaldehyd gehängt, sind in diesem Raum Malerei und Medizinhistorie im Schmerz vereint, gehen eine Symbiose ein. Ganz im Sinne der Ausstellungsmacher. Denn die an Einlegearbeiten des Brit-Artisten Damien Hirst erinnernden Objekte sind in Wahrheit pathologische Präparate aus dem Museum der Charité. Und wenn ebendort mitten unter solchen Organen ein Stuhl von Joseph Beuys steht, dann wird zudem klar: Die Kunst ist in dieser Schau genauso wenig Dekoration wie die Wissenschaft bloße Illustration.

Thomas Schnalke, Direktor des Medizinhistorischen Museums: " Dieser Stuhl ist insofern interessant, es ist ein alter Stuhl. Irgendwo hervorgezogen aus irgendeiner Kammer, nur der Sitz ist leicht abgehoben. Wir würden wahrscheinlich so einen Stuhl in die Ecke stellen und wegschmeißen. Beuys sieht diese klaffende Stuhlwunde und schreibt drauf: Zeige deine Wunde und er stellt uns das Werk inmitten einer Präparatelandschaft, die allesamt von einem gewesenen Leben Zeugen. Und hier haben wir plötzlich den Appell: Öffne dich, zeige dein Leben, zeige dich in deinem Schmerz, zeige deine Wunde. "

Eine Öffnung der Wissenschaft hin zur Kunst und umgekehrt, die in der Schmerz-Ausstellung bisweilen zu Lasten der Kunst geht, wenn medizinische Instrumente, Filme, Schriften überwiegen. So hätte das eine oder andere Skalpell weniger und die ein oder andere intensive künstlerische Auseinandersetzung mehr der Ausstellung gut getan.

Dennoch ist das Experiment, wie Eugen Blume es nennt, gelungen. Statt das Werk eines Künstlers, eine Sammlung zu zeigen, hat man ein übergreifendes Thema gesetzt. Und dabei dem Betrachter viel Raum gelassen, für eigene Gedanken und Annäherungen.
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