Zehn Jahre nach den Londoner Terroranschlägen

7/7 und die Angst im Kopf

Auf einem Werbeschild einer Zeitung steht: "Terroristen attackieren London - viele Tote"
Am 7. Juli 2005 kam es in drei U-Bahnen und einem Bus zu Explosionen durch Selbstmord-Attentäter. © afp / Paco Serinelli
Von Gabi Biesinger, Stephanie Pieper und Thomas Spickhofen · 06.07.2015
Am 7. Juli 2005 explodieren im Londoner Berufsverkehr vier Bomben, 56 Menschen kamen ums Leben, darunter die vier Attentäter. Sie haben das Leben im Vereinigten Königreich verändert. Bis heute wurden keine Hintermänner ausgemacht.
1. Überlebende: "Dieser Anschlag hat mein Leben verändert"
Für Sajda Mughal ist es immer noch etwas Besonderes, an diesen Ort zu kommen: zum Bahnhof King’s Cross – wo sie am Vormittag des 7. Juli 2005, nach einer gefühlten Ewigkeit, aus dem dunklen U-Bahn-Tunnel wieder das Tageslicht erreicht. Sajda steuert damals den nächsten McDonald‘s an, holt sich einen Tee – und versucht, zur Ruhe zu kommen. Zehn Jahre ist das jetzt her, aber noch immer blitzt die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag auf, noch immer hat die 33-Jährige ab und zu Albträume.
An diesem 7. Juli 2005 erreicht der islamistische Terror London: Vier Selbstmord-Attentäter sprengen sich in der morgendlichen Rushhour in die Luft, in einem Bus und in drei U-Bahnen.
An jenem verhängnisvollen Donnerstag nimmt Sajda – wie jeden Morgen – die Piccadilly Line auf ihrem Weg in die City. Kurz nachdem der Zug die Station King’s Cross verlassen hat, hört sie einen lauten Knall; die voll besetzte U-Bahn kommt abrupt zum Stehen, das Licht geht aus:
Es ist zehn vor neun. Niemand ahnt in diesem Moment, dass im ersten Waggon ein 19-jähriger extremistischer Muslim namens Germaine Lindsay eine Bombe gezündet hat – auch Sajda nicht:
"Wenn ich zurückblicke, wird mir klar: Ich stand unter Schock, ich habe einfach nur still da gesessen und geschwiegen. Ich dachte, der Zug wäre entgleist – und dass gleich der nächste Zug mit vollem Tempo auf uns drauf fährt – und dass wir alle sterben."
Um sie herum jammern Menschen, schreien, weinen, hämmern gegen Fenster und Türen, erinnert sich Sajda. Nach knapp einer Stunde dann die Erlösung: Polizisten befreien die Passagiere und geleiten sie durch den Tunnel zum inzwischen menschenleeren Bahnhof King’s Cross:
"Ich war damals Anfang 20: Ich wollte Karriere machen, verreisen, die Welt sehen, wollte mir was leisten. Doch dann hat dieser Anschlag mein Leben verändert."
26 Menschen sterben allein bei der Explosion in der Picadilly Line, 52 insgesamt an diesem Tag, rund 700 werden verletzt: Was 9/11 für New York ist, ist 7/7 für London. Sajda hat Glück im Unglück: Sie sitzt in einem Waggon in der Mitte des Zuges und bleibt körperlich unversehrt. Sie ist selbst Muslimin – und kann gerade deshalb nicht verstehen, dass andere junge Muslime unschuldige Menschen töten.
Der Islam besage, so Sajda: Töte man einen Unschuldigen, dann töte man die gesamte Menschheit. Nach diesem Tag des Terrors gibt die junge Frau ihren Job auf – und arbeitet seither für die Wohltätigkeitsorganisation JAN Trust, eine Anlaufstelle für verzweifelte Frauen im Norden Londons, viele von ihnen Musliminnen. Dort ist es Sajdas Anliegen, islamischen Extremismus an der Wurzel zu bekämpfen:
"Wir arbeiten mit der muslimischen Gemeinschaft, vor allem mit den Müttern, um sie über die Gefahren aufzuklären. Damit sie der Radikalisierung ihrer Söhne und Töchter entgegenwirken. Die Mütter schützen so nicht nur ihre eigenen Kinder, sondern die ganze Gesellschaft - damit so etwas nie wieder geschieht."
Dies ist Sajda Mughal heute, da sie selbst zwei kleine Kinder hat, besonders wichtig. Sie ist schwarz gekleidet, hat ihre Augen mit einem dicken, dunklen Kajalstrich umrandet und trägt ihr langes, braunes Haar offen. In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag wird auch sie als Dunkelhäutige – obwohl selbst Opfer – angepöbelt von weißen Briten. Was ihr bis heute bisweilen passiert:
"Es macht mich traurig und frustriert mich, dass wir hier in Großbritannien leben, in einer so vielfältigen Stadt wie London – dass wir aber auch im Jahr 2015 noch sowohl die Radikalisierung von Muslimen erleben müssen als auch den Hass auf den Islam."
Sajda hat einen Neuanfang gemacht: weil sie dem Tod ins Auge geblickt hat, und weil sie eine zweite Chance bekommen hat.
Sajda ist eine der Überlebenden von 7/7 - und nimmt das Leben heute als kostbar wahr.
2. Chronologie I: Horror in der Rushhour
Am Morgen des 7. Juli 2005 herrscht in der britischen Hauptstadt noch Partystimmung: Die Menschen freuen sich, dass London am Tag zuvor den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2012 erhalten hat. Es ist kühl, auch für Londoner Verhältnisse, 14 Grad, kein Regen, aber eine leichte Brise. Um kurz vor zehn geht ein Notruf bei der Polizei ein – einer von vielen, jetzt schon:
"Es gab eine Explosion in einem Bus, da liegen Menschen auf der Straße, es ist die Linie 30, glaube ich, und es sieht auch so aus, als seien Menschen tot."
Zu diesem Zeitpunkt sind Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte bereits seit knapp einer Stunde im Einsatz, an drei Orten, der Doppeldecker-Bus am Tavistock Square ist nun der vierte. Fast zeitgleich explodieren um 8 Uhr 50 Bomben in drei U-Bahnen: Betroffen sind – neben der Piccadilly Line nahe King’s Cross – zwei Züge der Circle Line, nahe den Stationen Liverpool Street und Edgware Road. In bis zu 30 Metern Tiefe spielen sich dramatische Szenen ab, wie ein Augenzeuge schildert:
"Die Leute haben angefangen zu schreien, weil man das Feuer riechen konnte. Jeder dachte, dass wir jetzt sterben. Manche haben angefangen, Gebete zu singen, andere haben versucht, die Fenster mit ihren bloßen Händen zerschlagen. Es gab keine Informationen vom Fahrer, über 20, 30 Minuten wurde der Rauch immer dichter und die Schreie wurden immer lauter, es war ein höllisches Durcheinander."
Die Rettungsarbeiten in den tief liegenden und sehr engen Tunneln gestalten sich schwierig. Zunächst wird als Ursache ein Problem mit der Elektrizität genannt. Um viertel vor zehn – eine Stunde nach den Explosionen in den drei U-Bahnen – reißt dann ein Sprengsatz das obere Deck vom Bus der Linie 30 ab. Da wird gerade der gesamte U-Bahn-Betrieb eingestellt, wenig später fährt auch kein einziger Bus mehr. Um kurz nach elf bestätigt die Polizei: Es handelt sich um koordinierte Terroranschläge. Der Polizeichef von London, Ian Blair, fordert die Menschen auf, Ruhe zu bewahren:
"Bleiben Sie, wo Sie sind. Alle Transportmittel in London sind außer Betrieb genommen oder angehalten. Das Sicherste was wir tun können ist, sie da zu lassen wo sie sind",
… so der Polizeichef. Das ist nicht ganz einfach. Aus vielen U-Bahn-Stationen werden Pendler evakuiert, Tausende irren danach durch die Stadt. Nicht in London ist an diesem Tag der britische Premierminister Tony Blair – er weilt gerade in Gleneagles in Schottland, als Gastgeber des G8-Gipfels:
"Es ist klar, dass es eine Serie von Terroranschlägen in London gegeben hat. Offensichtlich sind Menschen zu Tode gekommen oder schwer verletzt worden. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern und ihren Familien."
Blair verlässt den G8-Gipfel in Gleneagles und fliegt zurück in die Hauptstadt. Dort wendet sich auch Königin Elisabeth II. an ihr Volk:
"Die, die diese brutalen Taten gegen unschuldige Menschen verüben, sollten wissen, dass sie nichts an unserer Art zu Leben ändern werden."
Im Untersuchungsbericht heißt es später, in der ersten Stunde nach den Anschlägen hätten Chaos und Konfusion geherrscht. Der Funkverkehr habe nicht funktioniert, Einsatzfahrzeuge seien an die falschen U-Bahnhöfe geleitet worden, Notausgänge seien versperrt, Erste-Hilfe-Kästen verschlossen und die Notrufleitungen überlastet gewesen.
3. Die Helfer I: Die Rettung – physisch und psychisch
Dr. Peter Holden ist bestens darin geschult, in Notfall-Situationen den Überblick zu behalten. Bei Katastrophen müsse man die sechs Cs im Griff haben, erklärt der Rettungsmediziner:
Kommandos geben, die Kontrolle behalten, koordinieren und kooperieren, um Chaos zu vermeiden. Holden ist Mitglied im Vorstand der britischen Ärztekammer, der Medical Association. Die residiert in London im vornehmen Stadtteil Bloomsbury in einem prächtigen, denkmalgeschützten Gebäude. Gegenüber liegt ein kleiner, grüner Park, der Tavistock Square. Dort sitzt Holden heute auf einer Bank in der Sommersonne. Er deutet auf das Fenster, hinter dem er vor zehn Jahren, am 7. Juli 2005, vormittags vor seinem Computer saß:
Plötzlich habe es diesen Knall gegeben, so Holden, alles habe lachsrosa ausgesehen – das sei die Druckwelle gewesen. Er hört damals Schreie, Kollegen rennen über den Flur. Holden ist der erste am Fenster – und erkennt sofort, dass eine Bombe explodiert ist:
Er warnt einige Kollegen, nicht aus dem Fenster zu gucken, weil sie die Bilder sonst nie wieder loswürden. Der rote Doppeldecker-Bus wird genau vor dem Eingang der Ärztekammer zerfetzt. Das Dach aufgerollt wie eine Sardinenbüchse, Blut auf der Straße, verstreute Gliedmaßen. Ein Glück, dass wegen einer Tagung gerade mehrere Ärzte anwesend sind. Holden koordiniert die Versorgung der Verletzten. In Nadelstreifen und Krawatte behandeln seine Kollegen die Opfer mit dem Inhalt aus ein paar Erste-Hilfe-Kästen:
"Wir haben die Tischplatten von Klapptischen als Tragen benutzt. Wir rissen die Vorhänge runter und schnitten sie in Streifen zum Verbinden. Das ja ist schließlich ein Bürogebäude und kein Krankenhaus."
Dass zufällig 16 Ärzte am richtigen Ort sind, hat Leben gerettet.
Improvisieren muss an diesem Tag des Terrors auch Pfarrer Bertrand Olivier in der St. Botolph’s Church, ein paar Meilen weiter im Osten der Stadt. Die kleine Kirche liegt direkt neben der U-Bahn-Station Aldgate, durch die Opfer einer der U-Bahn-Explosionen geborgen wurden. St. Botolph’s wird zum Sammelpunkt für die Rettungskräfte:
In der Kirche hätten die Retter durchatmen können, so Olivier – um die schrecklichen Bilder zu verarbeiten, die sie unten in der U-Bahn gesehen hätten. Olivier ist Franzose, er stammt aus Dünkirchen und ist überwältigt von der Hilfsbereitschaft:
"Das ist dieser vielbeschworene Dünkirchen-Geist aus dem Krieg. Die Menschen haben angepackt und Mitgefühl gezeigt."
Der Pfarrer plündert einen Sandwichladen, um den Einsatzkräfte zu Essen zu geben. In der ersten Nacht nach dem Anschlag versorgt er die übermüdeten Polizisten an den Absperrungen mit reichlich Tee:
"Wir haben uns mit mehreren Pfarrern abgewechselt, sind auch mal eingesprungen, wenn einer austreten musste. Es war eine sehr sonderbare Atmosphäre, aber auch zutiefst menschlich."
Während die Helfer sich um die Verletzten kümmern und die Rettungskräfte noch mit den Bergungsarbeiten beschäftigt sind, ermitteln Polizei und Geheimdienst bereits fieberhaft, wer für den blutigen Anschlag in London verantwortlich ist.
4. Chronologie II: Die Jagd nach den Verantwortlichen
Die Identität der Selbstmord-Attentäter wird innerhalb weniger Tage aufgedeckt: Es sind vier Männer, zwischen 18 und 30 Jahre alt, drei von ihnen britische Staatsbürger pakistanischer Herkunft aus Leeds im Norden Englands und ein gebürtiger Jamaikaner aus einer Kleinstadt nordwestlich von London. Sie sind auf den Überwachungskameras der U-Bahnhöfe deutlich zu erkennen, mit Rucksäcken, in denen sie ihre Bomben versteckt haben. Zuerst sagt der MI5: Die Anschläge kamen aus heiterem Himmel. Aber dann wird schnell klar: Mindestens einer der vier Attentäter hat schon lange im Visier des Inlandsgeheimdienstes gestanden, zwei waren bei der Polizei bekannt. Der Terrorexperte Crispin Black hat sich Jahre später intensiv mit den Ermittlungsergebnissen befasst:
"Mindestens zwei von ihnen sind der Polizei schon vorher begegnet. Sie wurden zum Beispiel der Geldwäsche verdächtigt, und zwar zur Unterstützung von dschihadistischem Terror. Aber, so wird erzählt, unser Geheimdienst hatte viel zu tun und war der Meinung, er müsse sich um ein paar größere Fische kümmern."
Der mutmaßliche Anführer Mohammad Khan ist schon 2001 auf einem Geheimdienst-Foto zu finden und taucht 2004 in einem MI5-Video auf. Er bewegt sich im Umfeld islamischer Extremisten, trifft sich mehrfach mit einem Mann, der selbst Anschläge plant und auch festgenommen wird. Am Tag der Anschläge in London kennt man Khans Namen, seine Adresse, seine Kontakte, sogar seine Autozulassung – nur nicht die Gefahr, die von ihm ausgeht. Bis heute ungeklärt ist, ob die vier Täter Hintermänner hatten. Anders könne es aber eigentlich gar nicht gewesen sein, meint später Terrorexperte Crispin Black:
"Es gibt diese Vorstellung, dass diese Männer allein gearbeitet haben. Niemand glaubt das wirklich. Es wäre für sie sehr schwierig gewesen, wenn man sich die Chemikalien ansieht, die sie benutzt haben, das alles zu entwickeln und vorzubereiten ohne das Wissen anderer Leute."
Aber trotz zahlreicher Festnahmen können nie Hintermänner überführt werden. Khan selbst begründet den Anschlag in einem Video mit dem Einsatz britischer Soldaten in Afghanistan und im Irak. Zwei Wochen nach den Anschlägen vom 7. Juli gibt es erneut Attentatsversuche in London, die Bomben detonieren jedoch nicht. Damals erschießt die Polizei einen Unschuldigen: Jean Charles de Menezes, einen 27-jährigen Brasilianer. Die Beamten verwechseln ihn mit einem Verdächtigen und strecken ihn in einer U-Bahn-Station mit sieben gezielten Schüssen nieder. Die Anwältin der Familie kündigt erst vor wenigen Wochen an, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen:
"Die Familie wird gegen die britische Regierung vor den höchsten Gerichtshof in Europa ziehen, weil kein einziger Polizist des Mordes an Jean Charles de Menezes angeklagt wurde. Die Familie glaubt, dass es genug Belege für eine strafrechtliche Verfolgung jener gibt, die Jean Charles getötet haben, aber auch gegen ihre Vorgesetzten, die für den Einsatz verantwortlich waren."
Nach den Londoner Anschlägen wird das Personal der Sicherheitsbehörden aufgestockt, dennoch heißt es bei den Fachleuten: Anschläge wie die am 7. Juli 2005 seien auch in Zukunft möglich.
5. "Homegrown terror": Großbritannien reagiert auf die Gefahr
"Keep calm and carry on": Die Briten gelten als Volk, das in schwieriger Lage nicht in Panik verfällt, das die Ruhe bewahrt, das weitermacht. So ist auch die Stimmung in der Zeit nach den schrecklichen Terror-Anschlägen. Die damalige Labour-Regierung will dennoch Stärke demonstrieren: Sie sieht sich bereits wegen der britischen Beteiligung am umstrittenen Irak-Krieg unter Druck – und kündigt kurz nach 7/7 an, die Anti-Terror-Gesetze zu verschärfen. Innenminister Charles Clarke:
"Wir können dieser neuen Terrorgefahr nur dann wirksam begegnen, wenn wir demonstrieren: Es wird euch nicht gelingen, uns zu schwächen. Im Gegenteil: Wir werden unsere demokratischen Institutionen mit allen Mitteln verteidigen."
Polizei und Inlandsgeheimdienst MI5 fordern rasch mehr Befugnisse, mehr Personal – und mehr Spielraum, um Terror-Verdächtige festzusetzen. Bis zu 90 Tage sollen die in Haft bleiben, ohne ihnen eine konkrete Straftat zur Last legen zu müssen – so sieht es der Gesetzentwurf im Herbst 2005 vor. Doch dagegen rebelliert nicht nur die Opposition, sondern auch ein Teil der Labour-Fraktion. Das Wort vom "Polizeistaat" macht die Runde. Worüber sich Premierminister Tony Blair seinerzeit aufregt:
"Wenn diejenigen, die unser Land schützen, eine solche Maßnahme für sinnvoll erachten, dann ist es meine Aufgabe, sie dabei zu unterstützen!"
Am Ende lautet der Kompromiss, die Festhalte-Frist nicht auf 90, sondern auf 28 Tage zu verlängern. Die Selbstmord-Attentäter konfrontieren das Land erstmals mit dem Phänomen der "homegrown terrorists": Denn die Täter waren zwar Söhne pakistanischer bzw. jamaikanischer Einwanderer, die jedoch in Großbritannien geboren und aufgewachsen sind; trotzdem wurden sie hier radikalisiert.
Und selbst wenn der MI5 heute doppelt so viele Mitarbeiter hat wie noch 2005: Der Verfassungsschutz steckt in der Bredouille, meint Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London:
"Sie haben eine große Zahl von potenziell gewaltbereiten Islamisten, aber nur sehr wenige davon können wirklich rund um die Uhr beobachtet werden – d.h. man muss hier Abwägungen treffen. Und das ist in England in der Vergangenheit auch schon schiefgegangen. Und je weniger Kapazität man hat, desto größer natürlich auch die Gefahr, dass weitere solche Fehler passieren."
Wie beim Mord am Soldaten Lee Rigby 2013 im Londoner Stadtteil Woolwich: Die beiden Täter hatten Kontakt zu islamischen Hasspredigern und waren auf dem Radar des MI5, wurden aber nicht als akut bedrohlich eingestuft.
Heute stehen die Sicherheitskräfte – nicht nur in Großbritannien – zusätzlich vor einer neuen Herausforderung: Die Terror-Miliz "Islamischer Staat" lockt junge Muslime zu Tausenden nach Syrien und in den Irak, um dort zu kämpfen – so wie "Jihadi John" aus den IS-Enthauptungsvideos, der aus London stammen soll.
Neumann sieht hier einen Identitätskonflikt der zweiten bzw. dritten Einwanderer-Generation manifestiert, die sich frage:
"Gehöre ich in die Kultur meiner Eltern oder Großeltern, oder gehöre ich wirklich in dieses Land? Und das ist in allen westeuropäischen Ländern – egal, was die Politik gemacht hat – immer häufig der Anfangspunkt, der viele junge Muslime offen dafür macht, von Rekrutierern und von Radikalisierern angesprochen zu werden. Denn die haben eine Antwort darauf, die so einfach ist, dass sie für viele Leute attraktiv ist."
Großbritannien sei jetzt doppelt gefordert, so Neumann: Einsteiger abhalten und zugleich IS-Aussteiger und Rückkehrer strafrechtlich verfolgen bzw. de-radikalisieren.
Zur Prävention setzen Politik und Sicherheitskräfte verstärkt auf die Überwachung der Kommunikation von Terror-Verdächtigen: Allein im vergangenen Jahr haben britische Minister entsprechenden Maßnahmen in 2800 Fällen zugestimmt. Die Polizei hat außerdem in einer halben Million Fällen auf Meta-Daten zugegriffen: wer wann mit wem telefoniert oder gemailt hat.
Eine Praxis, die der frühere Chef des britischen Geheimdienstes GCHQ, David Omand, als notwendig verteidigt, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Der Whistleblower Edward Snowden hat enthüllt, dass der GCHQ in erheblichem Umfang Kommunikationsleitungen anzapft – was in Großbritannien allerdings für weit weniger Aufregung sorgt als in Deutschland. Den Nutzen der britischen Anti-Terror-Gesetze hat – im Auftrag von Regierung und Parlament – kürzlich ein unabhängiger Jurist überprüft; auch er zweifelt den Sinn der massenhaften Überwachung nicht an. Die neue konservative Regierung plant, die Sicherheitsgesetze erneut zu verschärfen. Innenministerin Theresa May:
"Kriminelle nutzen neue Kommunikationsformen, deshalb müssen wir unsere Gesetzgebung anpassen – um sicherzustellen, dass unsere Sicherheitskräfte alle Befugnisse haben, die sie brauchen."
Unter anderem will sie die Telekommunikationskonzerne verpflichten, Verbindungsdaten künftig zwölf Monate lang aufzubewahren; und sie will – in Verdachtsfällen – verschlüsselte Nachrichten knacken können. Kritiker dieses Vorhabens in Großbritannien sprechen bereits von einer "Schnüffel-Charta" – und bezweifeln, dass weniger Bürgerrechte einhergehen mit mehr Sicherheit vor Terror-Anschlägen wie denen vom 7. Juli 2005.
6. Die Helfer II: Die Angst vor dem Terror – gestern und heute
In der St. Botolph’s Kirche in Aldgate, in der Bertrand Olivier nach den Bombenanschlägen Rettungskräfte betreut, muss der Pfarrer auch heute noch die Frage beantworten, warum ein Gott denn solches Grauen zulasse:
"Das ist eine Frage, die viele beschäftigt. Man kann nur sagen: Gott gibt uns einen freien Willen, und leider entscheiden sich manche Menschen dafür, grauenvolle Dinge zu tun."
Pfarrer Olivier nimmt wahr, dass die gesellschaftlichen Spannungen in Großbritannien nach den Terroranschlägen zugenommen haben:
"Besonders junge Muslime können sich diskriminiert fühlen, es gibt Rassismus, Islam-Feindlichkeit. Aus meiner theologischen Perspektive frage ich mich auch, was läuft falsch in unserer Gesellschaft, so dass manche jungen Menschen sich ausgegrenzt fühlen. Das ist eine Frage, die wir wohl nicht morgen lösen können, aber mit der wir in allen westlichen Gesellschaften konfrontiert sind."
Die Mutter von Pfarrer Olivier lebt in Paris, darum ist ihm das blutige Attentat auf die Redaktion der Satire-Zeitung "Charlie Hebdo" zu Jahresbeginn noch einmal besonders nahe gegangen:
"Auch die britische Kulturtradition erwartet, dass man sich über alles lustig machen kann. Aber könnte man auch eine andere Perspektive einnehmen? Welchen Preis hat die Freiheit, solche Cartoons malen zu können?"
Pfarrer Olivier rechnet fest damit, dass London früher oder später wieder vom Terror getroffen wird. Doch die Londoner lassen sich davon nicht einschüchtern. Sie wollen einen normalen Alltag führen, sonst hätten die Terroristen ja gewonnen.
Auch Dr. Peter Holden, der am Tavistock Square das Ärzteteam rund um die Busexplosion koordinierte, rechnet mit weiterem Terror:
"Es ist unvermeidlich, dass eine der bedeutendsten Hauptstädte der Welt irgendwann wieder getroffen wird. Mit Überwachungsmaßnahmen können wir das Risiko minimieren aber nicht ausschließen. Wir müssen einfach gut vorbereitet sein."
Peter Holden musste drei Jahre nach den Anschlägen vor Gericht aussagen, als die Effektivität der Rettungsmaßnahmen am 7. Juli 2005 überprüft wurde. Er ist zufrieden, dass sich seitdem einiges verändert hat:
"Seit den Anschlägen hat die Regierung begriffen, dass die Notfallpläne besser werden müssen. Wir beispielsweise beraten jetzt offiziell die Regierung. Wir waren damals nicht so vorbereitet, wie man es in einer modernen Gesellschaft erwartet hätte. Es gibt jetzt regelmäßige Übungen, mehr Trainings. Wir sind inzwischen so gut vorbereitet, wie man es eben sein kann."

7. Die Opfer II: Das Leben beginnt neu
Auch Garri Holness ist einer der Überlebenden von 7/7: Der schwarze Sänger steht an jenem Morgen im ersten U-Bahn-Waggon der Piccadilly Line ganz dicht neben dem Terroristen Germaine Lindsay. Der reißt 26 Menschen mit in den Tod, doch Garri überlebt – wie durch ein Wunder. Er ist in London geboren und aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Jamaika, so wie die des Selbstmord-Attentäters. Auf ihn ist Garri wütend, aber er empfindet – damals wie heute – keinen Hass.
Er hasst aber jene islamistischen Prediger, die die vier Täter einer – wie er sagt – Gehirnwäsche unterzogen haben, die ihnen eingeredet haben, sie würden mit ihrer Tat zu Märtyrern. Garri glaubt bis heute, dass es irgendwo auf der Welt Hintermänner der Londoner Terror-Anschläge gab, auch wenn diese nie zweifelsfrei identifiziert, nie gefasst, nie verurteilt wurden. Zugehen will er dagegen auf junge radikale Muslime in Großbritannien:
"Wir müssen verstehen, warum sie das getan haben, was ihre Probleme waren: Die Attentäter lebten doch in England, sie waren Engländer – warum haben sie sich trotzdem für diesen falschen Weg entschieden? Wir dürfen Muslime nicht verteufeln, sondern müssen mit ihnen reden, sie überzeugen, ihnen andere Lösungen als den Terror anbieten."
Garri, das verwundete Opfer, hat selbst keine einfache Vergangenheit: Als 17-Jähriger war er in einer Jugendgang und saß drei Jahre im Gefängnis. Er meint, Polizei und Geheimdienst sollten im Kampf gegen den Terror mehr Leute aus der Community, mehr Leute mit "street credibility", einsetzen. Wer den Mitte 40-Jährigen heute trifft, dem fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass er sein linkes Bein etwas nachzieht: Bei dem Anschlag hat er seinen linken Unterschenkel verloren; und wenn er die Ärmel seines Pullovers hochzieht, sind noch die Narben der Verbrennungen zu erkennen. Aber Garri ist glücklich, dass er lebt.
Gleich, ob es regnet oder schneit: Garri ist froh, dass er seine Augen öffnen kann – auch wenn ihn sein eigener Körper jeden Tag erinnert an das, was vor zehn Jahren passiert ist. Nach dem Anschlag hat er zu einer neuen Spiritualität gefunden. Er macht weiter Musik und hält Vorträge über seinen Umgang mit dem Trauma. Garri versucht, jeden Tag zu genießen – weil man nie wisse, was das Schicksal für einen bereithalte
Seit den Terror-Anschlägen vom 7. Juli 2005 in seiner Heimatstadt London versucht Garri Holness, nicht mehr in der Vergangenheit steckenzubleiben, sich nicht um die Zukunft zu sorgen, sondern im Hier und Jetzt zu leben.
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