Yoko Ogawa: "Insel der verlorenen Erinnerung"

Im ewigen Winter des Vergessens

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Das Cover zeigt ein blau eingefärbtes Porträtfoto einer japanischen Frau im typisch gepunkteten Xerox-Verfahren. Auf das Foto sind gezeichnete Elemente gelegt.
Nominiert für den internationalen Booker-Preis: Yoko Ogawas "Insel der verlorenen Erinnerung". © Cover: Liebeskind Verlag
Von Peter Urban-Halle · 23.09.2020
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Eine namenlose Insel, eine anonyme Diktatur, eine brutale Polizei: Ein totalitäres Regime lässt willkürlich ausgesuchte Dinge und die Erinnerung verschwinden. Heldin des Romans ist eine Schriftstellerin, die am Festhalten der Erinnerung arbeitet.
Vor knapp zwanzig Jahren machte uns der Liebeskind Verlag mit der japanischen Autorin Yoko Ogawa und ihrem Roman "Hotel Iris" bekannt. Mit "Insel der verlorenen Erinnerung" ist nun ein gutes Dutzend voll. Es sind Bücher, in denen es um das Gegeneinander und die Balance von Eingesperrtsein und Freiheit, von Verschwinden und Erneuerung geht.
Ogawas Antriebskraft sei, wie sie gesagt hat, das Paradox zwischen Grenze und grenzenloser Freiheit. Entscheidenden Einfluss auf ihr Werk habe für sie die Lektüre von Anne Franks Tagebuch gehabt.

Regelmäßig verschwinden die verschiedensten Dinge

"Insel der verlorenen Erinnerung" ist ein erschütternder, beinah gnadenloser Roman. In einem sachlichen, spröden, scheinbar leidenschaftslosen Stil erzählt er von einer jungen Schriftstellerin, deren Vater, ein Ornithologe, gestorben ist, und deren Mutter, eine Bildhauerin, schon vor Jahren vom Regime abgeholt und tot zurückgegeben wurde.
Regelmäßig verschwinden die verschiedensten Dinge: Hüte, Vögel, Fotos, Früchte, Parfüm, Briefmarken, die Fähre. Die Mutter hatte einiges in einem geheimen Schrank aufbewahrt. Das war wohl der Grund ihrer Verhaftung.

Die Erinnerungspolizei holt Menschen ab

Die junge Schriftstellerin versucht durch den Roman, an dem sie schreibt, Vergangenheit und Erinnerung aufrechtzuerhalten. Bald wird ihr klar, dass ihr Lektor, ähnlich wie ihre Mutter, zu den wenigen Menschen gehört, die nicht vergessen können und daher in Gefahr stehen, von der sogenannten Erinnerungspolizei abgeholt zu werden.
Sie versteckt ihn in einem unterirdischen Raum ihres Hauses. Ihr einziger Helfer ist ein alter Mann, den sie seit ihrer Kindheit kennt.

Insel befindet sich im ewigen Winter

Mit den Dingen verschwinden auch die Erinnerungen an sie. Schlimmer noch: Die Menschen geben sich damit ab, es wird immer selbstverständlicher, dass etwas verschwindet, bald wird es nicht einmal mehr vermisst. Nur vereinzelt gibt es Protest.
Dabei wird die Versorgungslage immer schlimmer, nicht erst, als auch die Früchte verschwinden müssen. Was nicht so schwer ist: mit dem Verschwinden der Kalender gibt es auch keine Jahreszeit mehr, die Insel befindet sich im ewigen Winter.
Am Schluss bleibt nur die Hoffnung, dass auch die Erinnerungspolizei und das Regime über kurz oder lang verschwinden werden.

Auf Augenhöhe mit Orwell und Huxley

Auch aufgrund seiner verblüffenden Aktualität (das Original erschien schon 1994) war der Roman für den diesjährigen Internationalen Booker-Preis nominiert. Die Jury verglich sogar die Erinnerungspolizei mit dem Coronavirus.
Aber das führt auf eine falsche Fährte und lenkt von der allgegenwärtigen Gefährlichkeit menschlichen Allmachtstrebens ab. Ogawas Roman reiht sich ein in die Gruppe negativer Utopien (die gern "Dystopien" genannt werden), wie z.B. Aldous Huxleys "Schöne neue Welt", George Orwells "1984" oder Ray Bradburys "Fahrenheit 451".

Yoko Ogawa: "Insel der verlorenen Erinnerung"
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
Liebeskind Verlag, München 2020
352 Seiten, 22 Euro

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