Yitskhok Rudashevski: "Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna"

Es ist nicht so, dass man schon alles weiß

08:36 Minuten
Straßenszene im jüdischen Ghetto Wilna
Yitskhok Rudashevski schreibt vom Alltag im jüdischen Ghetto Wilna. © dpa / picture alliance / akg-images
Von Stefanie Oswalt · 09.04.2021
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Jüdische Tagebücher aus dem Osten der nationalsozialistisch besetzten Gebiete sind selten. Mittlerweile ist das beeindruckende Tagebuch des jungen Intellektuellen Yitskhok Rudashevski auf deutscher Sprache erhältlich und offenbart einen großen Geist.
Auf einem litauischen Dachboden, unter Staub und Sand, liegt im Juli 1944 ein bedeutsames Notizbuch. In Vilnius, deutsch Wilna, Hauptstadt Litauens, hat gerade die Rote Armee die Stadt von den deutschen Besatzern befreit. Sore Voloshin kehrt in das Haus zurück, in dem sie mit ihrer Familie während der Auflösung des Ghettos im Jahr zuvor, also im September 1943, untergebracht war. Alle ihre Verwandten sind in den Wäldern von Ponar erschossen worden. Da entdeckt sie auf dem Dachboden neben Fotos ihrer Familie auch das Tagebuch Ihres Cousins, Yitskhok Rudashevski.
Ein einzigartiges Dokument, wie sich herausstellen wird. Sie übergibt das Tagebuch dem noch Ende 1944 von Überlebenden gegründeten Jüdischen Museum von Vilnius, später landet es im Archiv des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts in New York.

Ein einzigartiges Fundstück

Der Historiker Wolf Kaiser ist bis heute von dem jungen Autoren begeistert:
"Weil es sich hier um einen Jungen handelt, einen hochbegabten Jungen, der in Wilna in dieser jiddischen Kultur, die auf der Haskala, der jüdischen Aufklärung beruht, groß wird und der mit sehr wachem Geist und scharfem Beobachten und eigenem Nachdenken erlebt, was in Wilna geschieht."
Das sei nicht wenig:
"Von der Bildung des Ghettos über die dann schon sehr bald einsetzenden Massenmorde, aber auch das Alltagsleben im Wilnaer Ghetto unter den schwierigen Verhältnissen, die dort herrschten und der nicht nur ein passiver Beobachter bleibt, sondern sich sehr engagiert in der Schule, als es ihm wieder möglich ist, zur Schule zu gehen, und in Jugendclubs, in literarischen Zirkeln, bei historischer Forschung zur Geschichte des Ghettos, die er mit Freunden betreibt – also das ist schon besonders faszinierend."

Der Vergleich mit Anne Frank hinkt

Wolf Kaiser ist als ehemaliger stellvertretende Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz seinem Thema treu geblieben. Er forscht weiter über das Schicksal der nationalsozialistischen Opfer. Nun hat er Yitskhok Rudashevskis ursprünglich auf Jiddisch verfasstes Tagebuch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen und einer Einführung versehen.
Es gehe ihm nicht darum "immer wieder dasselbe" zu veröffentlichen, sondern zu zeigen, wie unterschiedliche die Erfahrungen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung seien, sagt Wolf Kaiser.
"Das was Yitskhok Rudashevski beschreibt, ist eben keineswegs dasselbe, was Anne Frank beschreibt. Und das eine lässt sich nicht durch das andere ersetzen."

Berichte und Analysen eines Jugendlichen

Yitskhok Rudashevski schreibt vom Alltag im Ghetto, dem ständigen Hunger, den Gefahren der Essensbeschaffung, dem Schmuggel und den Razzien, der Kälte, weil Heizmaterial fehlt. Er berichtet vom verzweifelten Kampf um Arbeitsausweise, das Entsetzen beim Abtransport der für die Vernichtung bestimmten Menschen und er empört sich über das Auftreten der jüdischen Ghettopolizei:
"Plötzlich haben jüdische Polizisten neue offizielle Kopfbedeckungen aufgesetzt... Sie marschieren adrett im Gleichklang vorbei... Sie wirken wie Litauer: wie Häscher. Mich überkommt ein unangenehmes Gefühl. Ich hasse sie vom Grund meines Herzens, Ghettojuden in Uniform, und wie arrogant sie in Stiefeln ausschreiten, die sie beim Plündern gestohlen haben."
Doch trotz dieser widrigen Umstände zeigt sich Yitskhok Rudashevski in seinem Tagebuch immer wieder als begeisterungsfähiger Jugendlicher voller Hoffnung, Wissensdurst, voller Sehnsucht nach sozialen Begegnungen, voller Lebenshunger.
"Samstag, 9. Januar 1943: Heute Abend findet das große Klubfest statt. Unsere frischen Klubräume sind voll mit Mitgliedern und Gästen. Unser Saal glänzt mit einer eigenen Bühne mit einem durchsichtigen Vorhang und Spiegeln... Wir sind jung, der ganze Saal ist erfüllt von jugendlicher Freude und Arbeit. Unser Geist, den wir in den Ghettomauern stolz zeigen, ist das schönste Geschenk an die jetzt heraufziehende Zukunft. Lang lebe die Jugend! – der Fortschritt unseres Volkes."

Historische Ghettoforschung während der Haft

"Ich finde eine Stelle besonders ergreifend, wo er beschreibt, wie er mit dieser kleinen Forschungsgruppe, die diese 14-Jährigen da gegründet haben, Ghettobewohner aufsucht, und mit ihnen über ihr Leben im Ghetto spricht, weil sie das dokumentieren wollen. Und er dann darüber reflektiert, dass er da sachliche Fragen stellt und er dann das ganze Unglück dieser Familien erfährt. Und er sagt dann: Ich schreibe das in einigen kalten Sätzen auf und aus dem, was ich aufschreibe, kommt mir sozusagen das Blut entgegen."
Als Yitskhok Rudashevski mit der Niederschrift seines Tagebuchs beginnt, ist der Jugendliche noch nicht einmal 15 Jahre alt. Seine Tagebuchaufzeichnungen beeindrucken durch ihre Reflexionen, die ihren Autor als sehr reif für sein Alter erscheinen lassen.

Bildung ist seine Form des Widerstandes

Über seine Situation im Ghetto hat er keinerlei Illusionen, aber er entwickelt auch Vorstellungen für seine eigene Zukunft. Als die technische Schule im Ghetto um neue Schüler wirbt, entscheidet er sich dafür, seine Studien weiter zu betreiben:
"Meine Entschlossenheit zu studieren hat sich zu etwas wie einer Trotzhaltung gegenüber der Gegenwart entwickelt, die es hasst zu studieren und liebt zu arbeiten, zu schuften. Nein, ich habe entschieden, dass ich für morgen leben will, nicht für heute."
Doch die hoffnungsvollen Gedanken aus dem Januar 1943 währen nicht lange. Zwar nehmen auch die Ghetto-Bewohner die Misserfolge der Wehrmacht wahr, richtet sich ihre Hoffnung auf das Vorrücken der Roten Armee Richtung Westen – aber im Ghetto kommt Unruhe auf, man hört von brutalen Massenmorden durch die deutschen Besatzer.

Alle Familienmitglieder wurden ermordet

Yitskhok Rudashevski verspürt eine "Schlachthausatmosphäre". Am 7. April 1943 schreibt er einen letzten Eintrag in sein Tagebuch.
"Unsere Stimmung ist ein bisschen besser. Man kann im Klub ein glückliches Lied hören. Wir sind jedoch auf alles vorbereitet, denn der Montag hat bewiesen, dass wir auf nichts vertrauen und glauben dürfen. Uns kann das Schlimmste passieren."
"Es ist nicht so, dass man schon alles weiß, was wichtig ist, wenn man weiß, dass sechs Millionen Juden ermordet worden sind. Man muss es genauer, wissen, denke ich. Und man kann es aus solchen Quellen auf eine Weise erfahren, die einem im Gedächtnis bleibt."
Nach der Räumung des Ghettos vom 23. bis 25. September 1943 gelingt es Yitskhok Rudashevski noch, sich mit seiner Familie unter grauenvollen Bedingungen zu verstecken. Aber auch dieses Versteck fliegt wenig später auf – alle Mitglieder der Familie werden Anfang Oktober in den Wäldern von Ponar ermordet. Nur seine Cousine Sole Voloshin entkommt - und findet sein Tagebuch auf einem Dachboden unter Staub und Sand.

Yitskhok Rudashevski: "Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Juni 1941 – April 1943"
Metropolverlag, Berlin 2020
150 Seiten, 16 Euro

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