Yalo verstand nicht, was vor sich ging

12.08.2011
Ein libanesisches Leben in Zeiten des Krieges: In seinem Roman "Yalo" beschreibt Elias Khourys die Verheerungen, die der Bürgerkrieg in der libanesischen Gesellschaft angerichtet hat.
Seit dem Ende des Bürgerkriegs thematisiert der in Beirut geborene Schriftsteller immer wieder die Konfliktlinien im zerrissenen Libanon. Elias Khoury, 1948 in Beirut geboren, ist Schriftsteller, Redakteur und Kritiker und ein namhafter libanesischer Intellektueller, der oft als Gastprofessor an amerikanischen Universitäten vorträgt und dessen Publikationen in der ganzen arabischen Welt diskutiert werden. Zeitweise lebte er in Jordanien, als Aktivist der palästinensischen Befreiungsorganisation Fatah. Nach seiner Rückkehr in den Libanon 1970 arbeitete er zunächst für die PLO und wurde im libanesischen Bürgerkrieg schwer verwundet. Seit dem Ende des Bürgerkriegs thematisiert er immer wieder neu die Konfliktlinien und Fraktionskämpfe im ethnisch, religiös und politisch zerrissenen Libanon, vor allem den palästinensisch-israelischen Dauerkonflikt, am eindrucksvollsten in dem Roman "Das Tor zur Sonne" (2004).

Auch in dem Roman "Yalo" wendet sich Khoury wieder den Zerstörungen und Verheerungen zu, die der Bürgerkrieg der 1970er-Jahre in der libanesischen Gesellschaft angerichtet hat. Seine Perspektiv-Figur ist ein politisch naiver und orientierungsloser libanesischer Junge namens Yalo, der Schule und Lehre abbricht, sich mit vierzehn Jahren einer der Bürgerkriegsmilizen anschließt, in eine haltlose Existenz als Räuber, Prügler und Vergewaltiger hineindriftet, sich in Bluttaten und Sexualität verliert und schließlich im Gefängnis landet, wo seine Persönlichkeit durch Folter gebrochen und ein falsches Geständnis von ihm erpresst werden soll.

"Yalo" ist also eine negative Coming-of-Age-Geschichte: Der jugendliche Held gelangt nicht zur Reife und Selbstbestimmung; vielmehr wird er durch seine Bürgerkriegserfahrungen, durch Gewalt, Terror und Folter, brutalisiert und verliert sich in verwirrend vielen widersprüchlichen Rollen und Teil-Identitäten, ist Täter und Opfer zugleich, und findet sich in seinem Leben nicht zurecht. Der Eingangssatz des Romans – "Yalo verstand nicht, was vor sich ging" – kann als Leitmotiv des Romans gelten.

Die Fakten von Yalos Lebensgeschichte kommen erst allmählich in Rückblicken zum Vorschein, im Verlauf der Ermittlungen, Verhöre und Foltern, denen er im Gefängnis unterworfen wird. Erpresst werden soll vor allem sein Geständnis, Teil eines Netzwerks von Sprengstoff-Attentätern im Dienste Israels gewesen zu sein. Im Gefängnis wird Yalo von seinem Ermittler gezwungen, seinen Lebenslauf immer wieder neu und immer wieder anders zu schreiben. Das stürzt ihn in qualvolle Identitätsnöte, in denen Vergangenheit und Gegenwart mit Träumen und Fantasien verschwimmen. In aller verwirrenden Widersprüchlichkeit kommt Yalo letztlich doch den Realitäten seines Lebens auf die Spur, vor allem den Rätseln seiner komplexen Familiengeschichte. Yalo entstammt einer verfolgten und unterdrückten Minderheit, der orientalischen Christen-Sekte der Syro-Aramäer.

Elias Khoury variiert ständig die literarischen Mittel und den Blickwinkel auf Yalos Leben: Autobiografie wechselt mit erzwungenen Geständnissen, Polizeiberichten und auktorialer Erzählung. Das Gerichtsurteil beendet den Roman – und Yalos Erkenntnis, dass er sein Leben vergeudet hat.

Besprochen von Sigrid Löffler

Elias Khoury: Yalo
Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
378 Seiten, 24,90 Euro

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