Wut und Zorn im Wahlkampf

"Eine Verletzung wird artikuliert"

Demonstranten protestieren am 06.09.2017 in Finsterwalde (Brandenburg) auf dem Marktplatz während einer Wahlkampfveranstaltung der CDU gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine Frau trägt dabei ein Schild mit der Aufschrift "Hau ab!"
Demonstranten protestieren in Finsterwalde (Brandenburg) auf dem Marktplatz während einer Wahlkampfveranstaltung der CDU gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. © dpa-Zentralbild
Uffa Jensen im Gespräch mit Christiane Watty  · 14.09.2017
Wenn Kanzlerin Merkel im Osten Wahlkampf macht, ist sie öfter mit lautstarken Pöblern konfrontiert. Dieser Zorn sei nicht per se zu verurteilen, meint Uffa Jensen vom Max-Planck-Institut. Es gebe auch Situationen, wo Zorn gerechtfertigt sei.
Christine Watty: Finsterwalde, Berlin, Torgau, aber auch mal Heidelberg – wenn Angela Merkel im Rahmen des Wahlkampfes zu den üblichen Marktplatzreden anreist, erwartet sie Zustimmung, aber auch immer wieder jede Menge Wut. Andere Politiker natürlich auch, aber die "Merkel muss weg"- und "Hau ab"-Rufe haben wohl derzeit die größte Lautstärke.
Die Autorin und Journalistin Jana Hensel war zum Beispiel bei einem Auftritt Merkels in Finsterwalde dabei und hat später über die Szene vor der Bühne geschrieben: "Plötzlich riefen die Leute 'Hau ab, hau ab' und bliesen wie wild in ihre Trillerpfeifen, ein ohrenbetäubender Lärm. Da war sie, diese Wut und Brutalität, die man sonst hinter den schönen Fassaden nur vermuten kann. Plötzlich war sie mit den Händen zu greifen." Zitat Ende. Was tun mit oder gegen diese Wut? Das bespreche ich mit Uffa Jensen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut im Forschungsbereich Geschichte der Gefühle und Autor des Buches "Zornpolitik". Guten Morgen, Uffa Jensen!
Uffa Jensen: Guten Morgen!
Watty: Überrascht es Sie, dass Kanzlerin Angela Merkel bei Wahlkampfauftritten nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland so massiv angefeindet wird?
Jensen: Die Massivität überrascht in der Tat ein bisschen, allerdings ist das ja eine längere Entwicklung, und wenn man sich Pegida-Veranstaltungen oder auch die Diskussionen 2010 um das Buch von Sarrazin anschaut, dann gibt es da einfach eine längere Entwicklung. Dann ist es wiederum nicht so überraschend, finde ich.
Watty: Ist diese Wut, die da ausbricht – klar, das Ende einer Entwicklung, aber dennoch besonders ausgeprägt im Moment?
Jensen: Ja, sicher. Natürlich steigert sich das jetzt im Wahlkampf auch hoch. Und es gibt natürlich auch Gruppen oder Parteien wie die AfD, die davon profitieren wollen und die das dann auch so ein bisschen versuchen, zu organisieren. Insofern ist es jetzt vielleicht eine zu erwartende Entwicklung.
Watty: Welche Rolle spielen denn Gefühle generell in der Politik?

Zorn und Angst sind momentan sehr präsent

Jensen: Gefühle spielen eine wichtige Rolle an vielen Stellen. Ich habe mich eher mit den Verneinungsgefühlen, also mit negativen Gefühlen wie Zorn oder Angst beschäftigt in dem Buch, weil ich auch denke, dass die gerade im Moment sehr präsent sind und sich auf Muslime, auf Ausländer, auf Flüchtlinge richten. Mit dem Problem wollte ich mich beschäftigen in dem Buch.
Watty: Dann gern ein paar Worte dazu. Also diese negativen Gefühle sind vorhanden, gar keine Frage, das haben wir jetzt eben auch festgestellt, weil wir es aktuell auch wieder erleben können selbst, wenn es um Politiker geht und alle anderen Zielgruppen von Wut und Hass und Angst und so weiter, die kennen wir auch. Die entspringen ja aber schon der Tatsache, dass man gegen etwas ist. Wie kommt da Wut raus statt eben das Normale, was wir auch kennen, sich gegen etwas zu positionieren und anzufangen, darüber zu reden?
Jensen: Das Buch heißt "Zornpolitik", und zwar aus dem Grund, dass ich eigentlich finde, man müsste zwischen Wut und Zorn genauer unterscheiden. Wut ist so eine Art Zustand, den man auch haben kann, wenn man irgendwie Hindernisse im Alltag hat. Man kann sich darüber aufregen, dass Stau ist, und dann empfindet man Wut.
Zorn ist viel genauer eigentlich etwa verbunden mit einem moralischen Unrecht. Man hat das Gefühl, es wird einem Unrecht getan, man wird quasi innerlich verwundet und regt sich darüber auf. Es ist sozusagen eine moralische Empörung im Zorn drin, die ist sehr stark, und ich glaube, die sieht man auch bei diesen Veranstaltungen sehr deutlich. Dass es nicht nur darum geht, Leute zu beschimpfen, sondern es geht eben auch darum, eine Benachteiligung, eine Verletzung zu artikulieren.
Uffa Jensen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Uffa Jensen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung© Deutschlandradio/Maurice Wojach
Watty: Wie soll man auf der anderen Seite umgehen mit Wut oder dann in diesem Fall natürlich eigentlich mit dem Zorn?

Medien und Politik reagieren oft nicht richtig

Jensen: Natürlich ist das jetzt erstmal schwierig. Ich finde, eines der Grundprobleme ist, dass die Medien und auch die Politik häufig nicht so richtig darauf reagieren und dann sagen, Leute, nun hört mal auf mit euren Emotionen und werdet mal rationaler. Lasst das mal weg. Und ich glaube nicht, dass das eine sinnvolle Haltung dazu ist, sondern ich glaube vielmehr, dass wir die Emotionen als solche verstehen müssen und als solche auf sie reagieren müssen und auf sie eingehen müssen.
Watty: Die Autorin Jana Hensel, die ich vorhin schon zitiert habe, die in Finsterwalde dabei war, die hat tatsächlich eine Art des offenen Briefes in der "Zeit" veröffentlicht an Bundeskanzlerin Angela Merkel und hat dann im Deutschlandfunk auch erzählt, was sie eigentlich in diesem Moment sich vielleicht gewünscht hätte, was man mit dieser Wut und diesem Zorn tun kann.
Jana Hensel: Ich bin mir nicht sicher, ob man auf diese Pöbler, auf diese Trillerpfeifenleute – das ist verbale Gewalt –, ob man auf die tatsächlich reagieren kann, ob man mit denen ins Gespräch kommen kann. Ich bin mir da nicht sicher. Aber ich habe eben die große Menge an Menschen gesehen, Familien, Rentner, Schüler, ältere Leute, Kinder, die in ganz friedlichen Absichten gekommen war. Und ich glaube, die brauchen ein Signal, mit denen muss man sich verständigen, weil dieser rechtspopulistische Diskurs nicht nur im Osten, gerade in ländlichen Regionen, zu einer gewissen Alltagskultur gehört. Und wir müssen die Leute ermutigen.
Watty: Das sagt Jana Hensel. Und ich fand, das ist ein ganz interessanter Punkt, dass es in diesem Fall gar nicht darum geht, die Wütenden, die Zornigen zu belehren, ins Gespräch zu kommen, sondern vor allem für alle, die da sind, zu zeigen, ich nehme das wahr, was da passiert, aber man kann eben auch reagieren. Ist das eine Haltung, die Sie nachvollziehen oder unterstützen können?
Jensen: Ja, das würde ich auf jeden Fall. Ich finde es auf jeden Fall richtig, dass man bei der Kommunikation über Emotionen mit den Menschen, die sie haben, redet, aber auch, dass man mit denen redet, die sozusagen danebenstehen. Und wir in der politischen Gesellschaft, die wir danebenstehen, uns darüber wundern, dass wir auch adressiert werden.

Die Wütenden wollen wahrgenommen werden

Ich glaube auch, wenn man das macht, also wenn man sozusagen reagiert auf die Leute, wenn Merkel jetzt vielleicht nicht direkt mit ihnen reden würde, aber auf sie eingehen würde in ihren Reden, in der Tat das nicht nur ein Signal an das Publikum wäre, sondern auch an die, die da wütend sind. Weil die wollen natürlich auch gern wahrgenommen werden. Sie haben das Gefühl, dass sie in unserer heutigen Gesellschaft keinen Platz haben oder keine Stimme haben, wenn sie eben nicht sich so über Gefühle und so lautstark äußern.
Watty: Sie machen ja die Unterscheidung zwischen Wut und Zorn. Mir ist auch noch aufgefallen, dass wir ja einerseits die Wut und den Zorn nicht gerne mögen und schwierig damit umgehen können. Andererseits, wenn es das eben nicht gibt, sind auch wieder alle nicht zufrieden. Beispiel Kanzlerduell: Alle sind geschmeidig einer Meinung, dann kommt hinterher die große Kritik: Wieso streitet sich keiner, wieso sind die nicht sauer aufeinander, verschiedene Positionen? Also da sind wir ja auch alle so ein bisschen zwiegespalten, wie wir eigentlich mit diesen unterschiedlichen Gefühlen in der Politik umgehen wollen und welche wir wann wie eingesetzt haben wollen.
Jensen: Ich verstehe das Buch auch als einen Aufruf, darüber mehr nachzudenken, welche Rolle Gefühle eigentlich in der Politik spielen sollen. Es wäre ja völlig sinnlos zu glauben, dass Politik ein unemotionales System ist. Und es ist vielleicht auch gerade der Eindruck im Moment der Alternativlosigkeit, die ewige große Koalition, die ein bisschen dazu führt, dass Gefühle quasi keinen Platz haben und ein bisschen erlahmen, und dass man da wieder rauskommen muss, das finde ich schon sehr nachvollziehbar. Und das ist auch ein Aufruf, über Gefühle mehr nachzudenken in der Politik.
Watty: Also wir brauchen nicht mehr Zorn, das können wir, glaube ich – den Zorn sollten wir streichen. Aber mehr Gefühle und auch Auseinandersetzungen schon?
Jensen: Ja, ich meine, auch Zorn kann natürlich, wenn er als wirklich radikaler Hinweis darauf ist, dass hier etwas schief läuft und dass Leute benachteiligt werden, kann auch ein gerechter Zorn mal sinnvoll sein. Nur, wenn er jetzt irgendwie heute organisiert wird und vor allem, wenn er vor allem gerichtet wird auf Flüchtlinge, auf Ausländer, die in der Regel natürlich nicht die Ursache für diesen Zorn sind, sondern eben eine Benachteiligung in der Gesellschaft, ein Nicht-gehört-werden, wenn das so läuft, dann muss man sich dagegen wenden.
Aber es kann schon mal sein, es kann schon mal eine Situation vorkommen, wo Zorn auch gerechtfertigt ist. Aber generell, natürlich ist eine Gesellschaft glücklicher, wenn sie das nicht braucht und sozusagen andere Gefühle in der Politik eine Rolle spielen wie Vertrauen, Zuversicht und Ähnliches.
Watty: Danke schön! Sagt Uffa Jensen über Wut und Zorn und vor allem überhaupt allgemein Gefühle in der Politik. "Zornpolitik" heißt das Buch, das wir jetzt schon mehrfach angedeutet haben. Uffa Jensen, ich bedanke mich sehr für Ihren Besuch hier in "Studio 9" im Deutschlandfunk Kultur.
Jensen: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Uffa Jensen: "Zornpolitik", Suhrkamp Verlag Berlin 2017, 208 Seiten, 16 Euro

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