Wunderwaffe mit Nebenwirkungen

Von Peter Kaiser · 29.05.2011
Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose kann das Gehirn schädigen und Behinderungen verursachen. In der EU wurde jetzt die erste Pille gegen MS zugelassen - ein hochwirksames Präparat mit riskanten Nebenwirkungen.
"Ich sage das gerne, als ich mit meiner Ausbildung als Neurologe angefangen habe, das ist jetzt noch nicht mal 20 Jahre her, damals haben wir unsere Patientinnen und Patienten diagnostiziert und haben gesagt, wir können relativ wenig für Sie tun. Heute hat sich das deutlich geändert."

"Es gilt als erstes in Europa zugelassenes orales Medikament, was man als Tablette nehmen kann. Ein hochwirksames Medikament mit ganz neuem Wirkprofil."

Eine rosa Mini-Pille gegen die Multiple Sklerose. Was wie ein wahr gewordener Traum daherkommt, macht die zwei betroffenen Frauen in der Berliner Landesstelle der Deutschen Multiple Sklerose-Gesellschaft skeptisch und hoffnungsvoll zugleich.

"MS bedeutet auf Deutsch: Die Krankheit der tausend Gesichter. Da ist es noch lange nicht gesagt, dass es das Medikament für alle MS-Erkrankten ist. Wir sind ganz verrückt danach gewesen, aber letzten Endes wissen wir nicht, wo das hinführt."

Fingolimod heißt das neue Medikament, mit dem die gefürchteten Schübe bei der MS verhindert werden sollen. Bernhard Hemmer, Leiter der Neurologischen Klinik rechts der Isar der TU München:

"Die MS ist ja eine Erkrankung, bei der man davon ausgeht, dass das Immunsystem das Gehirn attackiert. Und das Fingolimod setzt nun im Immunsystem an, und blockiert Immunzellen daran, aus dem Lymphknoten auszuwandern. Normalerweise ist es so, dass Lymphozyten, also weiße Blutzellen, immer durch den Körper wandern, unter anderem auch durch das Gehirn, und immer wieder in den Lymphknoten zurückkehren. Und mit diesem Medikament verhindert man, dass bestimmte Immunzellen aus den Lymphknoten austreten und damit auch nicht mehr in das Gehirn und dort Schaden anrichten."

Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose ist in Mitteleuropa die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. In Schüben kommt es zu Sehstörungen, Gliederschmerzen, motorischen Problemen oder Wahrnehmungsverzerrungen. Bisher wurde MS oft mit sogenannten Immunsupressiva behandelt, also Mitteln, die das Immunsystem beeinflussen und die gespritzt werden müssen. Nun kommt Fingolimod als erste MS-Pille dazu. Bernhard Hemmer und sein Team konnten nachweisen, dass Fingolimod in der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit wirkt.

"Und konnten letztlich nachweisen, dass das Nervenwasser sich verändert und dass die sogenannten T-Helferzellen und B-Lymphozyten, von denen man annimmt, dass die bei der MS wichtig sind, dass deren Zahl im Nervenwasser abnimmt."

Fingolimod soll vor allem bei hochaggressiven Krankheitsverläufen wirksam sein und Schübe verhindern. Schon im Vorfeld die neue Pille einzunehmen, ist eher kontraproduktiv, meint Lutz Harms, Neurologe an der Berliner Charité und Ärztlicher Beirat der Deutschen Multiple Sklerose-Gesellschaft.

"Um Gottes willen, prophylaktisch kann man das nicht nehmen. Es ist ein hochwirksames Medikament und wie das bei solchen Medikamenten natürlich auch ist, haben die auch Nebenwirkungen. Das ist nicht bei jeder MS zurzeit zugelassen, sondern bei solchen, wo die bisherige Basistherapie, sprich Interferon, versagt hat, oder aber wo wir einen sehr aggressiven Krankheitsverlauf von Anfang an haben."

Denn die neue Wunderwaffe gegen MS hat gleichzeitig etliche Nebenwirkungen.

"Wir haben Patienten, die das über Jahre hinweg genommen haben. In diesen Studien sind Nebenwirkungen aufgetreten. Das sind zum einen die natürlich bei solchen Medikamenten befürchteten Infektionsraten. Es kam auch zu zwei Todesfällen dabei. Patienten, bei denen sich die Herpesviren aktiviert haben. Im einen Fall. Im andern Fall kam es zu einer Neuinfektion. Und beide Patienten sind daran verstorben. Was darauf hindeutet, dass zumindest zum Teil auch die Immunreaktion auf Viren, wenn man sich neu infiziert, unterdrückt ist."

Dazu kommen solche Nebenwirkungen wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, erhöhte Leberwerte oder Beeinträchtigungen des Sehnervs.

"Und deswegen ist das Medikament, da einzusetzen, wo man weiß, man kommt mit den bisherigen Medikamenten nicht hin, wo man auch bereit ist, ein höheres Nebenwirkungsrisiko einzugehen."

Eine schwierige Abwägung, sagen die betroffenen Frauen von der Landesstelle Berlin der Deutschen Multiple Sklerose-Gesellschaft.

"Wenn es Ihnen so schlecht geht, dass Sie sagen, ich komme alleine damit nicht mehr zurecht, dann werden Sie auch bereit sein, irgendein Medikament zu nehmen. Ich habe grade einen dicken Schub hinter mir, mit homöopathischen Mitteln und einer Nahrungsergänzung und Stressverhalten bin ich einhergegangen, es dauert natürlich länger, als wenn ich Cortison bekommen hätte. Aber heute geht es mir gut. Ich habe das überwunden ohne alles, was die Schulmedizin bietet."