Wunderglaube und Melancholie

12.03.2008
Einen kühnen Bogen einer 130 Jahre alten Familiendynastie schlägt die italienische Autorin Mariolina Venzia in ihrem Roman "Tausend Jahre, die ich hier bin". Handlungsort ist die Basilikata, ein italienischer Landstrich, der einiges an archaischen Traditionen und bäuerlichen Gepflogenheiten zu bieten hat.
Eigentlich hätte es Don Francesco ahnen müssen: Die Geburt seines Sohnes bedeutete nichts Gutes für seine Familie. Dabei hatte der wohlhabende Großgrundbesitzer so lange auf die Ankunft eines Stammhalters gewartet. Eine Tochter nach der anderen war zur Welt gekommen, von einem männlichen Erben keine Spur.

Als die Bäuerin Concetta, mit der Don Francesco nicht einmal ordentlich verheiratet ist, kurz nach der nationalen Einigung Italiens 1861 wieder in den Wehen liegt, zerspringen von ihren Schmerzensschreien die Ölkrüge und der Vorrat für ein ganzes Jahr ergießt sich über die ärmlichen Gassen des kleinen Dorfes Grottole. Die hungerleidenden Dorfbewohner stürzen sich auf den wundersamen Ölfluss, fangen die kostbare Flüssigkeit auf und taumeln zufrieden nach Hause. Aber in der Familie bahnen sich unselige Verwicklungen an.

Mit dem bizarren Missgeschick der zerborstenen Ölkrüge beginnt Mariolina Venezias Roman "Tausend Jahre, die ich hier bin", der in einem kühnen Rundumschlag die Geschicke einer Familiendynastie über einen Zeitraum von hundertdreißig Jahren nachzeichnet. Er lässt Generation um Generation Revue passieren und handelt die Wegmarken der italienischen Geschichte von der nationalen Einigung, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der Rolle der Kommunistischen Partei, der Ermordung Aldo Moros bis zu den Umwälzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nebenbei ab.

Angesiedelt ist das Ganze in der Basilikata, jenem Landstrich, dessen Rückschrittlichkeit durch Carlo Levis großartigen Roman "Christus kam nur bis Eboli" (1945) legendär wurde. Das Element des Archaischen, der Wunderglaube, die Verwurzelung in bäuerlichen Gepflogenheiten und die tiefe Melancholie dieses Menschenschlages ist auch bei Mariolina Venezia zu spüren und durchdringt vor allem die erste Hälfte des Buches.

Mariolina Venezia gelingen atmosphärisch dichte Passagen über den Dorfalltag im 19. Jahrhundert, anschaulich schildert sie die Zwänge traditionell verankerter Lebensgemeinschaften, auch einige Figuren prägen sich mit ihren Eigenarten ein. Da gibt es die missgünstige Albina, die zweitälteste Tochter Concettas, die ihr Leben lang auf die ältere Schwester eifersüchtig ist und mit ihrer Missgunst ihren Mann Vincenzo in den Tod treibt.

Da gibt es die zähe Lucrezia, die Mutter des zukünftigen Ehemannes von Alba, der Urenkelin Concettas, die mit unerschöpflicher Energie für den Unterhalt ihres Sohnes Rocco sorgt. Auch Rocco, ein zurückgezogener, intelligenter Junge, der später Lehrer wird und seine Umgebung für die Ideen der Kommunistischen Partei begeistert, gewinnt präzise Konturen.

Bestimmte Eigenschaften der Urgroßmütter und Urgroßtanten scheinen sich zu verkapseln, von Generation zu Generation weiter gegeben zu werden und sich bis in die Gegenwart auf die Charaktere der weiblichen Mitglieder der Familie niederzuschlagen. Deshalb seufzt Gioia, die Ururenkelin von Concetta irgendwann 1989 eines Tages auf, sie habe das Gefühl "seit tausend Jahren hier zu sein".

Venezia, 1961 in Matera in der Basilikata geboren, verarbeitet in "Tausend Jahre, die ich hier bin" ihre eigene Familiengeschichte und verwebt Anekdoten und Legenden ihrer Kindheit mit historischen Umbrüchen, die Italien zu verkraften hatte. Doch trotz ihrer erzählerischen Qualitäten kann die Autorin ihr ambitioniertes Unterfangen eines Familienepos nicht überzeugend verwirklichen. Allzu viel packt sie in die knapp dreihundert Seiten hinein, allzu umfangreich ist das Personal, allzu eilig durchschreitet sie die Jahrhunderte.

Einen mitreißenden epischen Atem entfaltet die 47-jährige Autorin, die heute in Rom zu Hause ist, als Regisseurin und Dokumentarfilmerin gearbeitet hat und mit Gedichten debütierte, nur in wenigen Kapiteln. Die Kunst hätte in der Beschränkung auf einige ausgewählte Schicksale gelegen: Da es in der Familie an romanhaften Verwicklungen nicht mangelt, wäre das Spannungspotenzial ausreichend gewesen. So bleibt sie zu sehr an der Oberfläche, die Psychologie einzelner Figuren leuchtet mitunter nicht ein, durch die Fülle der Geschichten entwertet sie einzelne Episoden, die für sich genommen größere Wirkung hätten entfalten können.

Dass ihr Roman 2007 mit einem der renommiertesten italienischen Literaturpreise "Premio Campiello" ausgezeichnet wurde, hat verschiedene Gründe. Man kann in Italien gerade eine Rückkehr zu regionalen Stoffen beobachten - die mittlere Generation erkennt, dass die erst in der Nachkriegszeit vollzogene überstürzte Industrialisierung mitnichten verarbeitet wurde. Melania Mazzuccos Bestseller "Vita" (2003) der von der Auswanderungswelle in die USA um 1900 erzählt, geht in eine ähnliche Richtung.

Vor allem in Romanen bemüht man sich um eine Aufarbeitung von Fragen der Herkunft und der Entwurzelung, was nicht nur eine soziale Funktion hat, sondern auch literarisch interessante Entwicklungen befördert. Aber gerade Familiengeschichten haben in der italienischen Literatur eine große Tradition: Elsa Morante, Natalia Ginzburg und Fabrizia Ramondino haben Familien zum Angelpunkt wegweisender erzählerischer Werke gemacht und waren formal unkonventioneller als Mariolina Venezia. Hinter ihren großen Ahnherrinnen bleibt die Verfasserin von "Tausend Jahre, die ich hier bin" weit zurück.

Rezensiert von Maike Albath

Mariolina Venezia, Tausend Jahre, die ich hier bin
Aus dem Italienischen von Susanne van Volxem
Piper Verlag. 304 Seiten. 18,00 Euro.