Wünsche und Zweifel

18.08.2010
Ein Deutscher, ein Algerier, ihr Kind und die schwierige Begegnung mit dem Fremden: Michael Roes erzählt kenntnisreich von der algerischen Kultur und macht nebenbei einen Exkurs in die Philosophiegeschichte der Freundschaft.
Algerien im Jahr 2007: Voller Unruhe wartet Matthias, deutscher Algerienreisender und Ich-Erzähler in Michael Roes’ neuem Roman, am Flughafen von Algier darauf, endlich im Flugzeug nach Berlin zu sitzen. An seiner Hand hält er den kleinen Milan - das Kind, das er und sein algerischer Freund Yanis in den vergangenen Jahren in Berlin gemeinsam großgezogen haben. Yanis, ein junger Mann aus der Kabylei, war erst vor kurzem nach Algerien zurückgekehrt - und dann von seinem ältesten Bruder getötet worden. Mit seiner Beziehung zu Matthias und Milan habe er Schande über die Familie gebracht. Matthias bringt nun das Kind wieder nach Deutschland.

Mit der Szene am Flughafen beginnt und endet "Geschichte der Freundschaft". In deren Mittelpunkt steht die emotional wie kulturell so schwierige Beziehung zweier Männer, die aus völlig verschiedenen Welten stammen und versuchen, das Unmögliche zu leben: eine Begegnung mit dem Fremden, ohne das Fremde zu enteignen. Aus Sicht von Matthias wird die Geschichte erzählt. Er bringt Yanis, den er während eines Urlaubs in der von politischen Unruhen heimgesuchten Kabylei kennen- und lieben gelernt hat, unter falschem Namen nach Deutschland. Um ihn zu schützen, denn in Algerien wird Yanis von den Behörden gesucht - auf einer Demonstration soll er einen Polizisten getötet haben. In Berlin aber beginnen zwischen den beiden Männern aufgrund ihrer unterschiedlichen Kulturen erst die Probleme - bis sie mit Yanis’ Rückkehr in seine Heimat einen tödlichen Ausgang nehmen.

Roes - der seinen Protagonisten tagebuchartig in einer extrem verknappten, zugleich extrem verdichteten Sprache immer nah am konkreten Detail erzählen lässt - ermöglicht kenntnisreiche Einblicke in die algerische Kultur. Er skizziert deren archaische, durch und durch patriarchalische Machtstruktur kompromisslos, doch voll Empathie. Die Art und Weise, in der Roes die Geschichte dieser Freundschaft durchgängig mit Exkursen in die Begriffsgeschichte der Freundschaft verschränkt, verleiht dem Roman besonderen Reiz. Philosophen wie Foucault und Bataille spielen dabei ebenso eine Rolle wie auch die westliche Popkultur oder die griechischen Mythen. Roes gestaltet in diesem Roman Freundschaft als einen gesellschaftskritischen Gegenentwurf jenseits der Machtbeziehungen von Gott und Religion, Familie und Staat.

"Geschichte der Freundschaft" handelt insofern von einer Utopie – aber auch von deren leisem Scheitern. Denn Yanis kann die Freiheit, die sich ihm bietet, nicht wirklich annehmen; Matthias will Verständnis zeigen, leidet jedoch an der Asymmetrie ihrer Beziehung; er hat das Gefühl zu geben, ohne etwas zu bekommen. Alle Themen, die das belletristische wie das essayistische Werk von Michael Roes prägen, sind in diesem Roman vereint: das Sohnesopfer und die Archaik des Fremden, die Auseinandersetzung mit dem Blick des Anderen und dem eigenen Blick. Zugleich aber ist "Geschichte der Freundschaft" – das darf man verraten – bis dato sicher der persönlichste Roman des Autors. Das merkt man ihm an: Er ist Wünschen und Zweifeln zugleich.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Michael Roes: "Geschichte der Freundschaft", Roman
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010
208 Seiten, 22,90 Euro
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