"Wolken in Kisten verpacken"

Frank Meinshausen im Gespräch mit Jürgen König · 14.10.2009
Mit der Metapher "Wolken in Kisten verpacken" beschreibt Frank Meinshausen die Schwierigkeiten des Übersetzens von chinesischer Literatur. Belletristik, die die Probleme des Einzelnen beschreibe, habe zugenommen, so der Wissenschaftler.
Jürgen König: Auf der Frankfurter Buchmesse in unserem Übertragungswagen vor der Halle 5, da sitzt jetzt Frank Meinshausen. Geboren wurde er 1965, studierte moderne Sinologie und Germanistik in Tübingen, in Nanjing in der Volksrepublik China und dann wieder in Heidelberg. Frank Meinshausen arbeitet als Übersetzer für chinesische Literatur, als Sprachlehrer, auch als interkultureller Trainer. Ein Lehrbuch für modernes Chinesisch hat er herausgegeben sowie gemeinsam mit Anne Rademacher eine Anthologie mit neuen Erzählungen aus China. Im Sommer erschien bei DTV, Titel "Neue Träume aus der Roten Kammer". Über den Gastauftritt Chinas bei dieser Buchmesse ist so viel schon diskutiert worden, meist ging es dabei um Autorinnen und Autoren, die nicht nach Frankfurt reisen durften. Jetzt soll uns Frank Meinshausen einen Überblick geben über die chinesische Literatur, so wie sie sich auch in Frankfurt präsentiert. Guten Tag, Herr Meinshausen!

Frank Meinshausen: Guten Tag, Herr König!

König: In unserer Sendung "Fazit" kamen gestern Abend chinesische Germanistikstudenten zu Wort, die meinten, die deutsche Literatur sei so unglaublich traurig. Ist die chinesische Literatur so sehr viel fröhlicher?

Meinshausen: Es gibt vor allen Dingen junge Autoren, die auch gerne einen humoristischen Ton anschlagen in ihren Erzählungen, aber gleichzeitig gibt es auch Autoren, die sehr ernste Thematiken anschneiden – Probleme der Modernisierung, der Veränderungen in Dorf oder Stadt. Ich würde jetzt mal aus dem Bauch heraus sagen, dass die chinesische Literatur nicht unbedingt lustiger ist als die deutsche Literatur. Ich denke, nicht.

König: Man liest ja immer wieder, die chinesische Literaturszene blühe. Was heißt das konkret, wie sieht dieses Blühen aus?

Meinshausen: Es gab in den 70er-Jahren und davor noch natürlich, nach 1949, doch eine relativ einheitsgraue Literatur, die geprägt war vom sozialistischen Realismus. Die Literatur musste bestimmten Vorgaben entsprechen, politischen Vorgaben. Sie hatte auf eine bestimmte Weise das Leben der sozialistischen Menschen zu schildern, Kritik durfte nur ganz in geringen Maßen geäußert werden. Und das, was man kritisieren durfte, die Themen, über die man sprechen durfte, die waren auch sehr eingeschränkt. Das war alles von außen vorgegeben. Es gab wenig persönliche Literatur. Das hat sich dann in mehreren Schüben, würde ich mal sagen, geändert. Das erste Aufblühen gab es 1979/1980, da gab es auch zum ersten Mal sehr persönliche Lyrik. Die Lyrik hat einen großen Sprung nach vorn gemacht mit der Gruppe der sogenannten obskuren Lyriker. Dann auch die Prosa hat mehr westliche Schreibtechniken beispielsweise adaptiert und hat sehr viel experimentiert noch in den 80er-Jahren. In den 90er-Jahren kam es dann zu einem wahren Boom, der – ich würde mal sagen – privaten Literatur, also Literatur, die sich sehr viel mit Themen des Einzelnen beschäftigt, also mit beispielsweise Problemen in der Familie, mit Erfahrungen mit Drogen, dem Problem des Erwachsenwerdens, Sexualität, aber auch realistischeren Schilderungen des Arbeitslebens beispielsweise - also auch die soziale Realität, die sich ja immer mehr veränderte in den 90er-Jahren, die wurde immer besser dargestellt, sodass es im Prinzip in China mittlerweile die Gattung gibt, die wir heute auch kennen. Natürlich, wenn man genau hinschaut, gibt es Unterschiede, aber im Wesentlichen ist die Literatur heute auch so reich wie bei uns, so reichhaltig.

König: Westliche Schreibtechniken seien teilweise adaptiert worden, schreiben Sie. Gibt es typisch chinesische Schreibtechniken, also Arten von Literatur, die wir hier so nicht oder nur sehr wenig kennen?

Meinshausen: Ich würde es nicht unbedingt … ja, ob man es Schreibtechnik nennen kann …

König: Oder Erzählformen, so was meine ich.

Meinshausen: Erzählformen sind es eher, ja. Also im Chinesischen werden – und das sehen Sie auch am Umfang der Romane, die ja auch bei uns in der Übersetzung schon erschienen sind, teilweise mit 800 Seiten und länger – es wird oft sehr lang, also wir haben den Eindruck, sagen wir mal, wir als westliches Publikum haben den Eindruck, dass oft sehr langatmig erzählt wird, dass viele Dinge wiederholt werden. Aber das gehört so ein bisschen auch zur klassischen Literatur dazu, das kommt so ein bisschen auch aus der Tradition der langen Romane. Für uns wirkt das ein bisschen oft in die Länge gezogen. Es wird aber auch sehr viel naturmetaphorisch wiederum, das ist auch so eine Besonderheit. Es gibt bestimmte Autoren, die das gerne einsetzen, Naturmetaphorik, wo die Natur dann die Befindlichkeit, die innere Befindlichkeit des Erzählers oder einer bestimmten Person widerspiegelt.

König: Welche Rolle spielt die Unterhaltungsliteratur auf dem chinesischen Buchmarkt?

Meinshausen: Eine sehr große mittlerweile. Dies ist vor allem zu finden, also natürlich im Printbereich auch, aber vor allen Dingen jetzt im Internet, da gibt’s eine wahre Explosion. Sie haben mittlerweile bis zu 50.000 Romane online, die online stehen. Das sind allerdings auch zum Teil Pay-Books. Also es läuft dann so, dass man die Hälfte des Buches oder Dreiviertel kann man kostenlos lesen und dann wird aller à 1000 Zeichen wird dann bezahlt. Da muss dann ein geringer Betrag bezahlt werden. Es gibt jetzt auch eine große Internetgemeinde. Wenn Sie allein daran denken, dass die Internetuser, die Zahl der Internetuser hat unheimlich zugenommen. Im Jahr 2000 betrug die noch zehn Millionen und heute sind 340 Millionen Menschen in China online. Und sehr viele Leute schreiben im Internet, sie können dadurch auch ohne den Umweg über den Verlag publizieren, und es wird vor allen Dingen werden sehr viele Phantasy-Romane geschrieben. Im Internet finden Sie sehr viele Abenteuer-Schwert-Romane, sehr viel Romane auch mit epischer Länge, die dann auch mehrere Bände im Prinzip füllen würden, wenn man sie drucken würde. Und es gibt Kolportageromane über das moderne Stadtleben, da haben Sie also eine unheimliche Bandbreite.

König: Und das wird auch alles gelesen, also die Chinesen sind ein Volk von Lesern?

Meinshausen: So ist es, ja. Sie sehen auch im Alltag, dass viele Leute Bücher in der Hand haben. Es wird sehr viel gelesen.

König: Was kostet ein Buch in China?

Meinshausen: Die Preise sind jetzt verhältnis…, also wenn wir jetzt nach unseren Maßstäben beurteilen, dann würden wir sagen, die Bücher kosten ja gar nichts, aber in China verdient man ja nicht so viel. Die Preise liegen etwa zwischen einem Euro und drei Euro, das ist das Normale. Und wenn Sie mehr bezahlen, dann sind das schon aufwendige Herstellungsverfahren. Da sind viele Bilder drin, das sind dann Kunstbücher zum Beispiel, aber normalerweise bewegt sich das in diesem Bereich.

König: Das Chinesische ist ja eine sehr metaphernreiche Sprache. Welche Besonderheiten, welche Schwierigkeiten vielleicht auch hat ein Übersetzer damit?

Meinshausen: Das Chinesische hat mehrere Schwierigkeiten beim Übersetzen. Und zwar würde ich an erster Stelle nennen, dass beispielsweise die Verben keine festen Zeitformen haben. Das heißt, Sie können einen Satz als Zukunftsäußerung, also als Zukunftssatz übersetzen in die Gegenwart oder in die Vergangenheit. Oft haben Sätze keine Subjekte oder Objekte. Im Ganzen gesehen würde ich sagen, dass Chinesisch sehr, also die Interpretation eines Satzes, sehr kontextabhängig ist und dass es bewusst offen gelassen, manchmal die Bedeutung bewusst offen gelassen wird, mehrdeutig ist. Ich sage immer, das ist, wie wenn Sie Wolken in Kisten verpacken wollen. Die Kisten verändern sozusagen unsere deutsche Grammatik, die ja sehr viele Regeln hat und sehr viele Regeln kennt und viele Zeitformen, und die Wolken, das wäre das Chinesische.

König: Sätze ohne Subjekt und Objekt, sagen Sie. Wie sieht so ein Satz aus? Ich meine, da bleibt ja nicht mehr viel übrig.

Meinshausen: Es ist nicht so zu verstehen, dass es jetzt gleichzeitig kein Subjekt und Objekt hat.

König: Ach so, Pardon.

Meinshausen: Das Subjekt kann wegfallen, das Objekt kann wegfallen. Ja, manchmal müssen Sie das einfach aus dem Zusammenhang ersehen, wo das Subjekt des Verbs jetzt ist. Also das Subjekt des Verbs ist meistens schon im Satz davor zu finden. Es ist alles sozusagen schon erschließbar, sonst wäre es ja auch nicht übersetzbar, aber es ist eben, sozusagen wenn Sie den Satz isolieren, dann klappt das schon schwieriger. Also es ist sehr schwierig, wirklich definitiv zu sagen, was meint der Autor, es muss alles im Kontext behandelt werden.

König: "Wolken in Kisten verpacken" finde ich schon ein sehr schönes Bild. Ist das, Herr Meinshausen, was wir hier in Deutschland an chinesischer Literatur in Übersetzung lesen können, repräsentativ für die Literaturen Chinas?

Meinshausen: Das würde ich gar nicht mal so unbedingt sagen. Es sind natürlich viele Autoren dabei, die in China auch ein großes Publikum haben, ohne Frage, wenn Sie an Autoren wie Mo Yan oder Yu Hua (Anm. d. Red.: Name schwer verständlich im Hörprotokoll) denken. Aber um jetzt noch mal auf die Internetliteratur zurückzukommen: Diese Art von Romanen, also gerade die Phantasy-Literatur oder die Geschichtsromane beispielsweise, die finden gar nicht den Weg nach Deutschland. Und vielleicht würden sie auch nicht immer dem deutschen Geschmack entsprechen. Ich glaube, wir haben da schon andere Vorstellungen, wie solche Romane zu funktionieren hätten. Aber in China gibt’s einfach einen anderen Geschmack, einen anderen Literaturgeschmack.

König: Vielen Dank! Chinesische Literatur vorgestellt von Frank Meinshausen. Die Anthologie "Neue Träume aus der Roten Kammer" von Frank Meinshausen, herausgegeben gemeinsam mit Anne Rademacher, ist erschienen im Deutschen Taschenbuch Verlag.