Wolfgang-Tillmanns-Schau in London

Schwer besorgt und voller Optimismus

Der Fotograf Wolfgang Tillmans
Der Fotograf Wolfgang Tillmans © imago / APress
Von Stephanie Pieper · 15.02.2017
Die schwule Community, die Techno-Kultur, das Leben mit Freunden, die Natur: Hier findet der Fotograf Wolfgang Tillmanns seine Motive. Nun ehrt ihn die Tate Modern in London mit einer Ausstellung. Sie trägt schlicht den Titel "2017", zeigt aber sein Schaffen der vergangenen Jahrzehnte.
"The State We're In" - der Zustand, in dem wir uns befinden ist ein treffender Titel für dieses Foto, drei mal vier Meter groß: Es zeigt eine Meeresoberfläche. Im Hintergrund bauen sich größere Wellen auf, im Vordergrund schwappen kleinere Wellen, der Horizont verschwindet fast am oberen Bildrand. Gefährliche Strömungen sind unsichtbar und doch zu erahnen. Eine unruhige See, fotografiert von Wolfgang Tillmans 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise:
"Das sind Gedanken, die sich gleichzeitig abspielen - einerseits diese Wahrnehmung der Natur, andererseits die Wahrnehmung von dieser enormen Spannung, die ich in dem Moment irgendwie als Sinnbild der Zeit, in der ich lebe, in der wir leben, gesehen hab'."
Das Bild hängt in einem Ausstellungsraum der Tate Modern, in dem sich Tillmans mit "Grenzen" befasst: Er fotografiert Grenzkontrollen an Flughäfen, und er besucht Lampedusa und Tunesien, lange bevor die Flucht über das Mittelmeer die Schlagzeilen beherrscht. Gleichwohl versteht sich Tillmans nicht als politischer Aktivist:
"Die Ausstellung hat eben keine direkte Botschaft, denn das ist auch nicht unbedingt die Rolle von Kunst, aber trotzdem spricht sie hoffentlich sehr klar."
Bereits Anfang der 90er-Jahre zieht es ihn nach England - erst als Student, später als Fotokünstler in London. Mit der Kamera dokumentiert er seinen Freundeskreis und zugleich gesellschaftliche Strömungen: die schwule Community, die Techno-Kultur, die Anfänge der Love Parade. Tillmans lade den Betrachter immer wieder ein, Dinge neu zu sehen, die ihm selbst wichtig sind, sagt Chris Dercon, nicht nur Kurator der Schau, sondern auch ehemaliger Direktor der Tate Modern und künftiger Intendant der Berliner Volksbühne:
"Er - und wie er arbeitet - funktioniert wie ein Verstärker, wie ein Beobachter. Aber wahrscheinlich auch wie jemand, der immer wieder auf der Suche ist nach Themen, die unsere Welt prägen."

Politisch treibt Tillmans 2003 der Irak-Krieg und heute der Brexit um

Im Jahr 2000 erhält Tillmans - als erster Fotograf und als erster Nicht-Brite – den Turner Prize, den renommiertesten britischen Kunstpreis. Und 2003 würdigt ihn die Tate Britain mit einer Einzelschau. Seinem Schaffen seitdem widmet sich diese neue Ausstellung: Porträts, Landschaften und Stillleben - Dias, Videos und Musik. Politisch treibt Tillmans 2003 der Irak-Krieg und heute der Brexit um, den er im vergangenen Jahr mit einer Plakat-Kampagne zu verhindern suchte:
"Das Ganze hat enormes Spaltungspotenzial, und das macht mir Sorgen - dass eben es nicht mehr darum geht, was teilen wir, was hält uns zusammen, sondern was trennt uns. Und das ist eine Zentrifugalkraft, der ich mich auch weiterhin entgegenstellen will."
Der Künstler verbringt seit einigen Jahren die meiste Zeit in seinem Studio in Berlin, fühlt sich aber in London trotz Brexit weiter zu Hause. Vor mehr als zehn Jahren schon, als noch niemand vom "postfaktischen Zeitalter" sprach, hat Tillmans ein "truth study centre" initiiert, um in Bild- und Text-Collagen vermeintliche Wahrheiten gegenüberzustellen und Lügen zu entlarven:
"Ich bin zwar schwer besorgt um unsere Zeit, aber voller Optimismus gleichzeitig."
Und so konfrontiert Wolfgang Tillmans im letzten Raum der Schau die Besucher mit einer leeren, weißen Wand – eine Projektionsfläche für das Jetzt, für Hoffnung.
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