Wolfgang Schivelbusch: "Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin"

Lust auf intellektuelle Entgrenzungen

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Wolfgang Schivelbuschs Gesprächsband ist ein streitbares Buch voller Spontaneität und Direktheit. © Deutschlandradio / Rowohlt
Von Helmut Böttiger · 04.11.2021
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Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat eine anregende intellektuelle Autobiographie in Gesprächsform vorgelegt. Es ist eine unterhaltsame Exkursion in Felder, in denen die Kultur- und Geistesgeschichte äußerst spannend sein kann.
Wolfgang Schivelbusch, der demnächst 80 Jahre alt wird, ist ein Privatgelehrter im besten Sinn. Er hatte nie eine feste akademische Anstellung, aber seine kulturgeschichtlichen Essays sprühen vor Esprit und Gelehrsamkeit - und vermutlich hat das gerade etwas damit zu tun, dass er bewusst nicht in die Mühlen einer Universität geraten wollte. Der Weg, den er gehen konnte, war vielleicht ein generationsspezifisches Privileg.
"Die andere Seite" ist eine Art Autobiografie, eine anregende, unterhaltsame Exkursion in Felder, in denen die Kultur- und Geistesgeschichte wirklich spannend sein kann. Verblüffend ist der mündliche Charakter des Textes. In seinem Vorwort erklärt der Autor, dass dies das Ergebnis einer "Schreibblockade" war.
Das Ergebnis ist ein Gesprächsband mit Fragen und Antworten - und die Antworten Schivelbuschs, von ihm dann doch mit Bedacht redigiert, sind in ihrer Spontaneität und Direktheit sehr anregend.

Das Berlin der 68er-Generation

Berühmt wurde er durch seine "Geschichte der Eisenbahnreise", die 1977 erschien und mitten in einer hochpolitisierten Umgebung eine durch ihre sinnliche Anschaulichkeit überrumpelnde historische Feldstudie war, wie man sie in Deutschland vorher so nicht gekannt hatte. Schivelbusch schien anfangs ein typischer 68er zu sein, er ging von Frankfurt nach Westberlin und fand sich sofort in einem Lesekreis zu Marx' "Kapital" wieder, zusammen mit Dieter Sturm, dem Dramaturgen der "Schaubühne", und dem aus der DDR stammenden Theaterautor Hartmut Lange.
Vor allem aber prägte ihn der mythisch gewordene Peter Szondi. Seine Schilderung dieses einzigartigen Komparatisten ist faszinierend, vor allem die zentrale Beobachtung, dass Szondi sich in der genauen und inspirierenden Textarbeit manchmal vergaß und plötzlich emphatisch Gedichte rezitierte, und zwar, wie sein Freund Paul Celan, in der Manier des althabsburgisch-expressiven Schauspielers Alexander Moissi.

Abwendung von der akademischen Theorie

Dies ist ein Teil der Erklärung dafür, warum Schivelbusch sich instinktiv von der akademischen Theorie abwandte und immer wieder überraschende alltags-, technik- und zeitgeschichtliche Stoffe aufspürte. "Die andere Seite" meint aber nicht nur den Gegenpol zum Universitätsbetrieb, sondern auch ganz direkt die USA.
40 Jahre lang lebte der Autor halbjährlich wechselnd in Berlin und in New York, und seine Beschreibungen der Unterschiede zwischen Amerika und Europa sind sehr instruktiv. So sei die Demokratie in den USA durch eine Tabula Rasa entstanden, in Europa durch eine jahrhundertelange Springprozession. In den USA sei man Demokrat aus Eigennutz und nicht aus Moral.
Wie erstaunlich viele seiner hedonistisch-privilegierten Altersgenossen durchlief auch Schivelbusch eine konservative Wende. Er stößt sich an einer hegemonialen liberalen Saturiertheit, prangert kulturelle Bequemlichkeiten an und schüttelt ob gewisser Auswüchse süffisant den Kopf. Ein streitbares Buch, das Lust macht auf Erkenntnis, Archiv- und Bibliotheksekstasen und intellektuelle Entgrenzungen.

Wolfgang Schivelbusch: "Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
335 Seiten, 26 Euro

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