Wolfgang Kaschuba zur Identitätspolitik

Identitäten müssen verhandelbar sein

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Im Bild ist das mit rote Farbe besprühte Straßenschild Mohrenstraße zu sehen. Darüber hängt an einer Hauswand eine Überwachungskamera.
Von der Tätergeschichte zur Opfergeschichte: Die Figur des Mohren ist in der europäischen Geschichte ambivalent. © imago images / Christian Spicker
Wolfgang Kaschuba im Gespräch mit Julius Stucke · 13.03.2021
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Identität ist wichtig, aber niemand sollte das Hoheitsrecht der Identitätspolitik für sich beanspruchen, sagt der Ethnologe Wolfgang Kaschuba. Anhand der "Mohrenstraße" zeigt er, dass Fälle oft weniger klar sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen.
In der gegenwärtigen Debatte über Identitätspolitik warnt der Ethnologe Wolfgang Kaschuba vor "Identitätsbashing".
"Trotz aller Kritik und Proteststürme, die über dieses Wort, diesen Begriff hinweggegangen sind, muss man einfach noch mal festhalten: Identität ist in der Tat ein wichtiges Thema, es geht um Selbstbestimmung, um Bilder, die wir von uns selber entwickeln wollen."
Gleichzeitig gehörten zur Identität aber auch Austausch und Debatte darüber - und Freiheit. "Denn jeder Raum, der von einer Gruppe eingenommen werden muss, muss mit anderen zugleich geteilt werden", mahnt der Ethnologe. "Wer sozusagen das Hoheitsrecht der Identitätspolitik für sich beansprucht, liegt falsch. Das liegt nicht im Kern der Identität. Identitäten sind formbar, gestaltbar und sie müssen auch verhandelbar sein."

Die "Mohrenstraße" - ein komplizierter Fall

Letztlich seien nur wenige Dinge völlig eindeutig, unterstreicht Kaschuba mit Blick auf die Debatte um die von antirassistischen Initiativen vehement geforderte Umbenennung der Berliner Mohrenstraße.
"Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Dinge nicht immer ganz einfach sind", sagt er. Denn die Figur des Mohren sei bereits vor etwa 1200 Jahren nach Europa gekommen.
"Die Mohren, also Mauren aus dem Gebiet des heutigen Mauretaniens, sind vorwiegend unterwegs im Auftrag ihrer muslimischen Herrscher und bekriegen die europäischen Grenzregionen Griechenland, Italien, Spanien. Und dort treten sie 700 Jahre lang als Söldner, als Krieger und auch als Mörder auf."
So seien beispielsweise im italienischen Otranto 600 Männer wegen ihres christlichen Glaubens von ihnen hingerichtet und ihre Familien versklavt worden.
"Das ist also eine Tätergeschichte und so kommt der Mohr auch in viele Handlungen – nicht als Sklave, sondern als Feldherr, als Krieger und eben auch als Söldner."

Wer mit Geschichte argumentiert, muss die ganze nehmen

Später sei die Geschichte dann gekippt: "Dann haben wir den europäischen Rassismus, wir haben den Kolonialismus, und dann wird in der Tat daraus auch eine Geschichte der Opfer."
Nun könne man darüber diskutieren, ob man deshalb diesen Straßennamen hier nicht mehr haben wolle. "Aber man sollte, wenn man den Geschichtshintergrund als Argument nehmen will, den ganzen nehmen", mahnt Kaschuba.
"Dann kann man sich die Geschichte eben nicht mehr aussuchen, sondern dann muss man sie teilen. Und wer die Geschichte des Rassismus sieht, muss eben natürlich auch die 1000 Jahre vorher zumindest mit in Anschlag bringen."
(uko)

Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba ist Abteilungsleiter im Institut für Migrationsforschung (BiM) der Berliner Humboldt-Universität. Er ist zudem Vorstandsmitglied der Deutschen Unesco-Kommission und sitzt im Rat für Migration.

Die gesamte Sendung "Der Tag mit Wolfgang Kaschuba" hier zum Nachhören:
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