Wolfgang Herrndorfs Werke als Hörbuch

Wen das nicht berührt, dem kann man nicht helfen

04:57 Minuten
Zu sehen ist eine Straße, die durch ein Getreidefeld führt. Darauf ist ein blaues Auto. Das Bild stammt aus der Verfilmung des Romans "Tschick" von Wolfgang Herrndorf.
Unterwegs im geklauten Lada: Der Roman "Tschick" von Wolfgang Herrndorf wurde in Deutschland zwei Millionen Mal verkauft. © Imago / Studiocanal Film
 Von Tobias Wenzel · 06.05.2019
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Bereichernd und inspirierend: Die drei Romane und das Tagebuch von Wolfgang Herrndorf sind jetzt als Hörbuchedition erschienen. Nicht nur "Tschick" wurde treffsicher im Ton eingesprochen. Ein kleines Manko hat unser Rezensent dennoch gefunden.
"Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem", schreibt Wolfgang Herrndorf im März 2010 in sein Tagebuch "Arbeit und Struktur", für das Hörbuch gelesen von August Diehl. Mit damals Mitte 40, den Tod im Blick, ist der Autor produktiv wie nie zuvor. Aber schließlich raubt ihm der Tumor sein Erinnerungsvermögen, wenn auch in geringerem Umfang als der Hauptfigur seines Romans "Sand":
"Leere Wüste. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Er wusste nicht, warum die Männer ihm den Schädel eingeschlagen hatten. Er wusste nicht, ob sie ihm überhaupt den Schädel eingeschlagen hatten. Er konnte sich nicht erinnern. Und er konnte sich auch nicht erinnern, wer der Mann war, dem sie den Schädel eingeschlagen hatten, wenn er dieser Mann war. Sein Name fiel ihm nicht ein."

Die Sprecher treffen den Ton

Nicht nur Stefan Kaminski, sondern jeder Sprecher dieser Hörbuchedition zu den Hauptwerken Herrndorfs trifft immer den richtigen, bei diesem Autor sich oft ändernden Ton. Deshalb ist es so schade, dass der Argon Verlag, um CDs zu sparen, die Profiproduktionen in hörbar reduzierte MP3-Dateien gewandelt hat.
Trotzdem wird man schnell in die originellen Geschichten hineingezogen. So auch in den von Hanno Koffler gelesenen Roadmovie-Roman "Tschick" mit seinen zwei jugendliche Außenseitern als Hauptfiguren. Erzählt aus der Perspektive von Maik Klingenberg, Sohn einer Alkoholikerin:
"Nächste Woche wieder Samstag, Frau Klingenberg?"
"Kann ich nicht, da fahr ich weg."
"Ach, wo fahren Sie denn hin?"
"Auf die Beautyfarm."
"Und dann kam immer, immer, immer von irgendwem am Tisch, der das noch nicht kannte, die wahnsinnig geistreiche Bemerkung: ‚Das haben Sie doch gar nicht nötig, Frau Klingenberg!‘"
"Und meine Mutter hat ihren Brandy Alexander runtergekippt und gesagt: 'War ein Witz, Herr Schuback. Ist ’ne Entzugsklinik.'"

Mit dem Lada durch die ostdeutsche Provinz

Mit einem geklauten Lada erkunden die beiden Jungen die ostdeutsche Provinz und lernen auf einem Müllplatz Isa kennen. Isa und Maik kommen sich näher. Der unvollendete Roman "Bilder deiner großen Liebe" erzählt aus Isas Perspektive, wie sie zuvor aus der Psychiatrie abgehauen ist und sich zu Fuß durchgeschlagen hat.
Man hängt förmlich an den Lippen von Natalia Belitski, die den poetischen Blick der 14-Jährigen genauso grandios interpretiert wie ihre verrückten Momente. Etwa wenn Isa einem Spaziergänger sagt, sie stamme von einem anderen Planeten. Der Mann fragt, ob sie gekommen sei, um den Menschen den richtigen Weg zu weisen oder um sie auszulöschen, und fügt hinzu:
"Wenn ich mir persönlich was wünschen dürfte, würde ich darum bitten, noch etwas mit der Auslöschung zu warten. Ich muss heute Nachmittag meine Tochter vom Kindergarten abholen."
"Ihre Wünsche spielen keine Rolle. Auslöschung steht auch nicht in meiner Macht."
"Keine Macht? Als Haupt der außerirdischen Invasion?"
"Ich bin kein Haupt. Ich bin keine Invasion. Ich bin nur Titularkönigin von Kastilien und León, und meine Truppen sind abgängig. Deshalb. Normal wäre mir Auslöschung auch lieber."
"Das beruhigt. Es ist immer wieder eine Freude, sich mit jungen, intelligenten Menschen zu unterhalten, die noch Ideale haben im Leben."

Nachdenken über Selbstmord

In seinem von wunderbar genauen Beobachtungen und Analysen wie auch starken Emotionen getragenen Tagebuch "Arbeit und Struktur" – Herrndorf denkt verzweifelt über die sichersten Selbstmordmethoden nach –, verrät er, dass es ein reales Vorbild für die Figur der Isa gibt:
"Eines Tages verschwand sie aus Nürnberg, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Es waren nur ein paar Tage, die ich sie kannte. Ich glaube, die glücklichsten in meinem Leben."
Wer sich nach dem Hören dieser 32 Stunden Wolfgang Herrndorf nicht berührt, inspiriert und reicher als zuvor fühlt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

Wolfgang Herrndorf: "Werke"
Gelesen von Natalia Belitski, Stefan Kaminski, Hanno Koffler und August Diehl
Argon Verlag, 6 MP3-CDs
Gesamtlaufzeit: 31 Stunden und 56 Minuten, EVP: 24,95 Euro

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