Wolfgang Herles: "Vorwiegend festkochend"

Vom Sonntagsbraten zum Streetfood

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Buchcover zu Wolfgang Herles: "Vorwiegend festkochend"
Sättigungsbeilagen seien in Deutschland oft halb verkocht und plump, schreibt Wolfgang Herles in seinem Buch. © Random House
Von Susanne Billig · 21.10.2019
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Fleisch, Gemüse, Sättigungsbeilage: Der Deutsche schätze Ordnung auf dem Teller, sagt Wolfgang Herles. In seinem Buch beschreibt er unterhaltsam den Wandel deutscher Esskultur, teilt aber auch gegen Vegetarier aus.
"Pünktlich zum Zwölfuhrläuten wurde am Sonntag die Grießnockerlsuppe aufgetragen – ein festes Ritual in meinem Elternhaus. Die Sitzordnung bei Tisch repräsentierte Hierarchie und Ordnung. Das Familienoberhaupt am Kopf des Tisches bekam das schönste Stück Fleisch, und zwar als Erster."
Ach, wer über 50 erinnert sich nicht an diese Familienszene! In seinem neuen Buch "Vorwiegend festkochend" taucht Wolfgang Herles tief in die deutsche Küche und Seele ein. Von A wie Apfelbaum bis Z wie Zuckerbrot ist sein Buch gegliedert. Die Einträge dazwischen kommen teils deutsch-deftig daher, wie Bohnenkaffee, Goldbroiler oder Sonntagsbraten, teils sind sie als Querschnittsthema angelegt, wie Extrawurst, Tischmanieren oder Völlerei.

Feine Küche ist anderswo normal

Deutsche wollten etwas Strammes auf dem Teller, erklärt Wolfgang Herles – ohne viel Schnickschnack. Ordnung und Hierarchie seien ihnen dabei unabdingbar. Oben rangiert der Fleischhappen, in der Mitte das Gemüse, unten die "Sättigungsbeilage". Die unspezifische Wortwahl spricht Bände: "Oft ist sie vernachlässigt, halb verkocht und plump", notiert der Autor. Noch weniger Beachtung schenke der allgegenwärtige deutsche Imbissbudengast dem Essen, das er in einem Akt basaler Kalorienzufuhr in sich hineinstopfe, während ihm das Fett aus den Mundwinkeln triefe. Selbstverständlich kennt Deutschland auch die "Feinkost". Doch Italiener und Franzosen haben dafür nicht mal ein Wort. "Dort ist die feine Küche der Normalzustand."
Inzwischen findet allerdings ein Wandel statt, auch das spiegelt sich in dem Buch wider. Wie sehr sich die deutsche Küche geöffnet hat, zeigt sich an den vielen Anglizismen, die sich längst in unsere Rede über das Essen eingeschlichen haben. Darum ist in diesem Buch auch von Veggiedays, Streetfood und Convenience-Produkten die Rede.
Veggie – das ist für den Autor allerdings ein rotes Tuch und so müssen sich vegetarische Leserinnen und Leser als "Körnerfresser", "Moralapostel" und "professionelle Kostverächter" beschimpfen lassen. Das Kapitel "Vegetarier und Veganer" echauffiert sich über Fleischersatzprodukte, obwohl die kein sonderlich deutsches, sondern ein internationales Phänomen sind.

Bratwürstel mit Wasabi?

Dabei kennt die Küche hierzulande von Reibekuchen über Himmel und Erde bis zum Steckrübenauflauf zahllose fleischfreie Arme-Leute-Gerichte, die früher einen Großteil des Alltagsessens ausmachten – das hätte ein interessanteres Kapitel ergeben als modische Attacken. Denn dass Wolfgang Herles immer auch die Kochstellen der Armen im Blick hat, auf denen quer durch die Jahrhunderte der Hunger verwaltet wurde, zeigt er in vielen Passagen.
Ergreifend schreibt er von der Verelendung der Kleinbauern im 17. Jahrhundert und von den frühen Industriearbeitern, die ihre leeren Mägen mit billigem Schnaps zu betäuben suchten. Das ist gut beobachtet, historisch vielfältig recherchiert, oft persönlich und immer süffig geschrieben. Und die Zukunft? "Bratwürstel mit Wasabi", prophezeit der Autor – wenn sich Cross-Culture-Cuisine und Omas Küche vermählen.

Wolfgang Herles: "Vorwiegend festkochend – Kultur und Seele der deutschen Küche"
Penguin Verlag, München 2019
416 Seiten, 29 Euro

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