Wohlstand oder Tradition

Von Ruth Kirchner · 06.07.2011
Chinas tibetische Minderheit ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach mehr Wohlstand und der Furcht vor dem Verlust ihrer Sprache und Kultur. Die Provinz Tibet ist für ausländische Journalisten weitgehend gesperrt – unabhängige Recherchen sind dort nicht möglich.
Eine Grund- und Mittelschule im Osten Qinghais. Auf einfachen Holzbänken sitzen 20 Grundschüler in dicken Jacken und üben Lesen. In dem einfachen Schulbau mit den grauen Betonfußböden ist es auch Ende Mai immer noch kühl. Die Kinder lesen aus zerfledderten alten Schulbüchern. Fast alle kommen aus dem Dorf nebenan und sprechen zu Hause Tibetisch. Doch in der Schule findet der gesamte Unterricht nur auf Chinesisch statt: Lesen, Rechnen, Landeskunde. Alles wird in der für die Schüler ungewohnten Sprache gelehrt, sagt der Schulleiter:

"Sie sprechen anfangs kaum Chinesisch. In der ersten Klasse unterrichten wir zu zweit, einer lehrt Lesen und Schreiben, der andere Mathematik. Die Schüler verstehen das, was wir sagen, aber nicht das Chinesisch von anderen. Die Sprachbarriere zu überwinden, das braucht Zeit."

Die Sprache, vor allem die Unterrichtssprache in den Schulen, das ist ein hoch-politisches Thema in Qinghai, in Tibet und in vielen anderen Gebieten von China, wo ethnische Minderheiten leben. Die Provinz Tibet ist für ausländische Journalisten gesperrt. Reporter dürfen dort nur mit Sondergenehmigung arbeiten. Aber auch in den tibetischen Gebieten der Nachbarprovinz Qinghai ist es nicht immer einfach zu recherchieren. Denn seit es in Tibet im Olympiajahr 2008 zu Protesten kam, die sich auch auf die angrenzenden Gebiete ausweiteten, ist die Lage angespannt. Offene Diskussionen über ethnische Konflikte und Spannungen sind aber tabu, sagt Woeser, eine bekannte tibetische Schriftstellerin, die wie viele Tibeter nur einen Namen benutzt:

"In den tibetischen Gebieten wird, ganz egal was die Tibeter tun, ob sie auf die Straße gehen oder an die Behörden appellieren, alles schnell politisiert und von den Behörden unter dem Vorwurf des Separatismus unterdrückt."

Das Problem der Sprache beispielsweise gilt als so sensibel und heikel, dass der Schulleiter der kleinen Dorfschule in Ost-Qinghai nicht mit Namen genannt werden möchte – aus Angst vor Druck seitens der Behörden. Denn auch wer sich offen für Tibetisch als Unterrichtssprache einsetzt, sieht sich schnell dem Vorwurf der Unruhestiftung ausgesetzt. Dabei sollten die Kinder von ethnischen Minderheiten in China grundsätzlich in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Eigentlich sollte zumindest zweisprachiger Unterricht angeboten werden. Doch oft bleibt es bei den Versprechungen. Die kleine Schule mit gerade mal 80 Schülern ist ohnehin schon arm und schlecht ausgestattet. Im Osten Qinghais leben nicht nur Tibeter, sondern auch viele Han-Chinesen und Angehörige der chinesischsprachigen, aber muslimischen Hui-Minderheit. Das Dorf neben der Schule ist eine tibetische Enklave, aber eigene Tibetisch-Lehrer kann sich die Schule nicht leisten.

Zum dritten Mal lesen die Kinder einen einfachen Text in der für sie ungewohnten chinesischen Sprache. Sie alle strengen sich mächtig an, Bildung zählt viel in den Familien. Die Kinder wollen Chinesisch lernen – schon um später bessere Chancen zu haben auf eine weitergehende Bildung und auf Jobs außerhalb der kleinen, einfachen Höfe im Dorf, wo die meisten von ihnen aufwachsen. Alle träumen von Arbeit außerhalb des Dorfes. Keiner will wie die Eltern und Großeltern das Land bestellen oder Vieh züchten.

Die kleine Yang Sunjie ist elf Jahre alt. Vor allem den Sprachunterricht in der Schule mag sie gern, sie lernt fleißig Chinesisch und Englisch, denn sie hat große Pläne: Später wolle sie Polizeibeamtin werden, sagt sie stolz, damit sie viele Diebe fangen kann.

Dass die tibetischen Kinder in der Schule chinesisch lernen, findet die Mehrheit der Menschen richtig. Schließlich leben und arbeiten sie in einem Land, in dem über 90 Prozent der Menschen Han-Chinesen sind, also ethnische Chinesen. Schon von daher müssen sich die Tibeter mit der Leitkultur arrangieren. Gleichzeitig fürchten viele, dass ihre eigenen Sprache und Kultur immer weiter an den Rand gedrängt wird und irgendwann aussterben könnte. Mit der Sprache stirbt die Seele eines Volkes, klagt ein Bildungsexperte. Auch er will aus Angst vor den Behörden seinen Namen nicht nennen:

"Natürlich ist unser Umfeld Chinesisch. Wegen der Wirtschaftsentwicklung, der Kultur und so weiter muss jeder hier Chinesisch lernen. Ohne geht es nicht. Aber wir sind Tibeter. Für den tibetischen Buddhismus und die traditionelle tibetische Kultur brauchen wir die tibetische Sprache – um all das weiterzuführen."

Offen propagieren, dass die tibetische Sprache und Kultur stärker gefördert wird, das ist in Qinghai nicht wirklich möglich. Der Bildungsexperte versucht es trotzdem – aber nur indirekt. Er leitet eine kleine Nichtregierungsorganisation, die den Ärmsten der Armen in der Region hilft. Es geht um Verbesserungen für die Bauern bei der Bewirtschaftung ihrer Felder, um Hilfe bei der Aufzucht ihres Viehs. Doch ganz nebenbei kümmert sich die NGO auch um den Sprachunterricht der Kinder. In der kleinen Dorfschule in Ost-Qinghai sorgt sie dafür, dass die Kinder doch noch Tibetisch lernen. Zumindest in den Ferien. Dann bietet die NGO kostenlose Tibetisch- und Englisch-Kurse an. Der Schulleiter ist für die Hilfe dankbar:

"Seit rund drei Jahren können die Schüler wenigstens in den Sommer- und Winterferien ihre Muttersprache und die dazugehörige Schrift lernen. Weil sie ja zu Hause Tibetisch sprechen, lernen sie relativ schnell."

Im Dorf neben der Schule zerrt ein Hund an seiner Kette. Die Menschen hier pflanzen Weizen und Bohnen an, Gemüse und Kartoffeln. Manche Familie hat noch eine Kuh oder ein Schwein. Das Leben ist hart. Der Boden ist trocken, es fehlt oft an Wasser. Fast in jeder Familie sind die jüngeren Leute in die Städte gezogen, um dort Arbeit zu suchen. Ihre Kinder wachsen in der Regel bei den Großeltern auf. Die sind dankbar, dass ihre Enkel heute überhaupt eine Schulbildung bekommen. Während ihrer eigenen Schulzeit zu Maos Zeiten war es verboten, in den Schulen Tibetisch zu sprechen. So wie viele erwachsene Menschen im Dorf kann auch der alte Tsering bis heute in seiner Muttersprache weder lesen noch schreiben:

"Ich kann nur meinen Namen schreiben, ich habe das tibetische Alphabet nie richtig gelernt. Als ich klein war, gab es keinen Tibetisch-Unterricht. Wir haben das damals sehr bedauert. Jetzt kommen die Tibetisch-Lehrer in den Ferien an die Schule, das ist gut. Denn wenn du deine Muttersprache verlierst, weißt du ja gar nicht mehr, wer du bist und kennst deine eigene Geschichte nicht."

Aber die Probleme der tibetischen Minderheit hören bei den Sprachen noch lange nicht auf. In vielen Lebensbereichen sind sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Anschluss an die Moderne zu finden und ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren.

Mehrere hundert Kilometer südlich der kleinen Dorfschule ist das sanfte Hügelland des Ostens den dramatischen Weiten am Fuße des tibetischen Hochplateaus gewichen. In der Region Rebkong im Süden Qinghais wohnen überwiegend Tibeter. Viele leben noch traditionell als Nomaden oder Halbnomaden wie die 39-Jährige Dolmatso. Vor ihrem Haus, einer einfachen Lehmhütte, zerren gleich fünf große Hunde an ihren Ketten. Dolmatso hat sich ihren schweren grünen Mantel, wie bei den Tibetern üblich, als Umhang halb um die Schultern gelegt, trägt auf dem Rücken das etwa dreijährige Kind einer Verwandten, geht wegen der schweren Last gebeugt. Hier, auf 3600 Metern Höhe, sind weit und breit keine anderen Hütten zu sehen.

Im Haus wirft Dolmatso getrockneten Yak-Dung in die Feuerstelle, stellt den Kessel auf, spült mit dem Wasser die Teeschalen aus – ihre fast schwarzen Fingerkuppen scheinen abgehärtet gegen das heiße Wasser. Die Lehmhütte ist der ganze Stolz der Frau mit dem wettergegerbten Gesicht einer 60-Jährigen. Als Kind hat sie feste Behausungen gar nicht gekannt, zog ständig mit ihren Eltern auf dem Hochland umher. Heute lebt die Familie zumindest im Winter in festen vier Wänden. Doch in den Sommermonaten ziehen sie und ihr Mann mit 70 Yaks, den tibetischen Rindern, und unzähligen Schafen immer noch auf die saftigen Weidegründe auf dem Hochplateau, auf über 4000 Meter Höhe. Anders als früher bleiben die beiden Söhne, neun und 14 Jahre alt, heute bei den Großeltern im Winterquartier, gehen weiter zur Schule – eine Stunde zu Fuß von der Lehmhütte entfernt.

Es hat sich viel verändert, erzählt Dolmatso, während der Kessel auf dem Feuer summt. Früher, als sie klein war, luden sie jeden Sommer ihre schwarzen Zelte aus Yak-Filz auf die Rücken der Tiere und ritten auf Pferden aufs Hochplateau. Heute hat die Familie einen kleinen Traktor, der ihre Sachen nach oben bringt. Ein neues Zelt aus weißem Baumwollstoff, einen kleinen Eisenofen, einen Altar für Opfergaben und zum Beten.

Doch das Leben der Nomaden – oder Halbnomaden – ist immer noch hart. Erst seit drei Jahren hat die Familie im Winterquartier Strom. Dieses Jahr haben sie sich erstmals einen Fernseher leisten können. Er steht, abgedeckt mit einer Plastikplane, auf einer Kommode im Zimmer. Das Leben sei ein bisschen leichter geworden, sagt Dolmatso. Mit dem Strom können sie endlich auch eine elektrische Buttermaschine betreiben, müssen die Yakmilch nicht mehr von Hand stundenlang rühren.

Den alten Zeiten trauert sie daher nicht nach. Weiß auch, dass ihre Lebensweise schon bald der Vergangenheit angehören könnte. Die Regierung siedelt mehr und mehr Nomaden in festen Häusern an, betreibt mit Nachdruck Programme zur Sesshaftmachung. Nicht überall ist das erfolgreich. Viele ehemalige Nomaden kommen mit dem neuen Leben nicht zurecht. Außerdem fehlt es vielerorts an Jobs. Kritiker sehen die Programme denn auch als Versuch der Regierung, die tibetische Minderheit stärker zu kontrollieren. Doch die Behörden führen unter anderem ökologische Gründe für ihre Politik an, wollen die Zahl der Yaks und Schafe auf dem Hochland begrenzen. Denn durch die Überweidung und den Klimawandel wird das Grasland langsam aber sicher zerstört, verkommt zur Halbwüste. Das delikate ökologische Gleichgewicht ist schon jetzt vielerorts aus der Balance geraten. Für die Nomaden ist das schwer zu akzeptieren. Auch Dolmatso klagt über die Beschränkungen der Behörden, was die Zahl der Tiere angeht. Aber eine wirkliche Zukunft sieht sie auf dem Hochland nicht mehr. Auch wenn sie sich selbst ein anderes Leben nur schwer vorstellen kann, hofft Dolmatso, dass ihre Kinder eines Tages ein anderes Auskommen finden: Sie hoffe, dass ihre Kinder eines Tages Arbeit als Beamte finden, sagt sie lachend. Diese Jobs seien zwar schwer zu kriegen, aber sie wünscht sich, dass ihnen das harte Nomadenleben erspart bleibt.

Dolmatsos Kinder gehen hier zur Schule, in der Präfektur Haidong. Auch diese Grund- und Mittelschule ist extrem einfach, hat nur wenige Ressourcen. Wenige hundert Meter hinter der Schule glitzern die goldenen Dächer eines buddhistischen Tempels in der Hochlandsonne. Anders als in Ost-Qinghai ist die Mehrheit der Menschen im Süden tibetisch, daher wird auch auf Tibetisch unterrichtet. Denn so wie Dolmatsos Kinder kommen die meisten Schüler aus Hirtenfamilien. Viele leben neuerdings in den Neubausiedlungen am Rande des Dorfes. In der Schule ist Chinesisch ein Unterrichtsfach unter vielen, mehr nicht:

"Wir erleben eine Menge Druck. Die meisten unserer Lehrer sind Tibeter, ihr Chinesisch ist nicht so gut. Wenn wir auf Chinesisch unterrichten müssten, hätten wir gar nicht genügend Lehrer, die Mathematik oder Erdkunde oder Chemie auf Chinesisch lehren könnten. Hier leben ja nur Tibeter, wenn das System geändert würde, gäbe es eine Menge Probleme."

Doch genau das hat die Provinz-Regierung im letzten Jahr versucht – sie wollte in den Schulen der Region Chinesisch als Haupt- und Unterrichtssprache durchsetzen, Tibetisch wäre dann nur noch ein Nebenfach. Kritiker vermuten, dass man damit die Integration und Assimilation der Tibeter vorantreiben will, dass man auch Schulen als Nährboden ethnischer Konflikte ausschalten will. Aber die Pläne der Provinzregierung gingen nach hinten los, lösten im vergangenen Herbst massive Proteste in der gesamten Region Rebkong aus. Tausende von Schülern, Eltern und Lehrer gingen auf die Straße. Die Behörden griffen hart durch – nach Angaben von Radio Free Asia gab es eine Reihe von Festnahmen.

Aber sogar im Beamtenapparat regte sich Widerstand. Eine Gruppe von Tibetern, die sich selbst als "Pensionierte Regierungsfunktionäre und Bildungsexperten" bezeichnete, wandte sich in einer Petition an die Regierung in Peking und forderte, den Plan fallen zu lassen. Was niemand erwartet hatte, trat ein: Die Pläne wurden wegen des Widerstands auf Eis gelegt. Doch aus der Welt ist das Problem damit nicht, sagt Woeser, die tibetische Schriftstellerin, das Misstrauen gegenüber den Behörden sei sogar noch gewachsen:

"Derzeit sind die Pläne ja nur aufgeschoben worden, nicht wirklich gestoppt. Es kann immer noch sein, dass die Behörden versuchen, sie nach und nach durchzusetzen. Das macht den Menschen Sorgen."

Was Kritiker wie Woeser besonders verbittert: Anderswo in China, zum Beispiel im südchinesischen Guangdong, konnten die Bürger im vergangenen Jahr offen und ungestraft eine Diskussion über ihren heimatlichen Kantoner Dialekt führen. Denn auch in der Provinz Guangdong fürchtet man die Übermacht des Standard-Chinesisch, das in Deutschland als Mandarin bezeichnet wird und in China als die Hochsprache Putonghua. Doch in Qinghai und in anderen tibetischen Gebieten ist eine offene Sprach-Debatte nicht möglich, sagt Woeser:

"In Guangdong konnten die Menschen auf die Straße gehen und es gab keinerlei Probleme. Ihre Proteste wurden von den Behörden nicht unterdrückt. Es geht doch um das gleiche Problem. Die Sprache ist die Seele einer Nation."

Auch in Rebkong wissen die Menschen, dass sie an einem gewissen Maß an Integration nicht vorbeikommen. Ohne Chinesisch gibt es keine Chancen. Trotzdem reißen die Klagen über die Unterdrückung und Marginalisierung alles Tibetischen nicht ab. Offene Kritik gibt es selten. Die Klagen werden hinter vorgehaltener Hand geäußert, im privaten Kreis. Aber, sagt ein junger Tibeter, irgendwie müssen wir doch unsere Kultur schützen und erhalten.
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