Wößmann: Vergleichstests bringen mehr Bildungsgerechtigkeit

Moderation: Matthias Hanselmann · 28.11.2007
Vor Bekanntgabe der Internationalen Vergleichsstudie zur Lesekompetenz von Grundschülern (IGLU) hat der Bildungsexperte Ludger Wößmann die Bedeutung solcher Studien hervorgehoben. Mithilfe der gewonnenen Daten könne man analysieren, was den Schülern wirklich zu besseren Leistungen verhelfe. Zugleich plädierte Wößmann dafür, die Schüler nicht so früh aufzuteilen auf verschiedene Schultypen.
Hanselmann: Die Schulstudie PISA ist seit Jahren in aller Munde. Eine weitere Untersuchung kenne viele Menschen nur wegen ihrer ebenfalls sehr griffen Abkürzung, die IGLU-Studie. Bei dieser internationalen Studie geht es um die Lesefähigkeit von Grundschülern. Heute nun werden Ergebnisse von IGLU vorgestellt, am Dienstag kommender Woche steht dann die Veröffentlichung der nächsten PISA-Studie an. Wir sprechen mit dem Bildungsexperten Ludger Wößmann, er ist Professor für Bildungsökonomie an der LMU München und Bereichsleiter für Humankapital und Innovation am Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Guten Tag, Herr Wößmann!

Ludger Wößmann: Guten Tag!

Hanselmann: Herr Wößmann, vor kurzem ist ein Buch von Ihnen erschienen mit dem Titel "Letzte Chance für gute Schulen". Über die Chance oder Chancen wollen gleich reden, aber erst einmal, weil heute die Ergebnisse der Lesestudie IGLU veröffentlicht werden: Macht es für Sie Sinn, die Lese- und Schreibfähigkeiten von Grundschülern international zu vergleichen?

Wößmann: Oh ja, unbedingt! Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir wissen, wo unsere Kinder stehen, was sie können, wie unsere Grundschulen aufgestellt sind. Denn all dies, was Kinder wirklich lernen, ist für jedes einzelne Kind und für die Volkswirtschaft insgesamt, für die Gesellschaft insgesamt sehr zukunftsbedeutend.

Hanselmann: Wie sollte eine solche Studie verwertet werden?

Wößmann: Zunächst mal ist es natürlich einmal interessant zu sehen, wie die Kinder in Deutschland stehen, das heißt, wir sollten schauen mit vergleichbaren Ländern, liegen wir etwa auf einem ähnlichen Niveau, oder liegen wir weit dahinter. Man sollte auch anschauen, zum Beispiel wie stark hängt die Bildungsleistung vom jeweiligen familiären Hintergrund ab, um zu sehen, wie viel Bildungsgerechtigkeit wird denn bei uns in den Grundschulen verwirklicht.

Letztendlich ist aber dann, was Sie wirklich aus diesen Studien lernen können, ein Prozess von mehreren Jahren, um diese Daten wirklich auszuwerten. Und dann kann man einzeln sehen, was ist es denn, was den Schülern wirklich zu besseren Leistungen verhilft. Sind es bestimmte Unterrichtsmethoden, sind es kleinere Klassen, ist es die Struktur des Schulsystems? All dies kann anhand dieser Daten später erforschen.

Hanselmann: Ich entnehme dem, dass Sie kein Gegner auch von PISA-Studien sind, denn in denen geht es ja um Ähnliches, nur für ältere Schüler?

Wößmann: Genau richtig. Nein, ich denke, das ist sehr wichtig. Was wir aus den vorhergehenden Studien gelernt haben, ist, dass je besser die einzelnen Länder in diesen Tests abschneiden, desto größer ist zum Beispiel das Wirtschaftswachstum in den nachfolgenden Jahrzehnten. Das heißt, es ist langfristig von ungemeiner Bedeutung, wie unsere Kinder bildungsmäßig abschneiden, und darüber können wir nur etwas erfahren, wenn wir es wirklich testen. Und dazu sind PISA und IGLU sehr wichtige Bestandteile.

Hanselmann: Und apropos, in einer Woche kommt ja die neue PISA-Studie. Im Jahr 2001, da wurde der Begriff "PISA-Schock" geboren. 2004 war dann trotz einiger Verbesserungen die Rede vom "neuen PISA-Schock". Jetzt kommt also PISA, die dritte. Wir haben noch keine Zahlen, aber was glauben Sie? Glauben Sie, dass der nächste Schock diesmal ausbleibt, dass sich etwas getan hat im Bildungsbereich?

Wößmann: Na ja, mittlerweile sind wir vielleicht schon nicht mehr geschockt, von dem, was dort herauskommt. Von daher ist es kein neuerer Schock mehr, aber große Schritte erwarte ich da nicht, weil wir haben ja auch keine große Schritte in Bezug auf Reformen im Schulsystem angegangen.

Hanselmann: Bei der Gelegenheit ein Punkt, Herr Wößmann: Warum werden eigentlich PISA-Ergebnisse oft so unterschiedlich interpretiert, u. a. von Politikern?

Wößmann: Ja, letztendlich schauen die Politiker sehr gerne einfach darauf, zu sehen, was ist rausgekommen, wie stehen wir in Deutschland im Durchschnitt. Und dann wird man einfach nur sagen, so, es ist jedenfalls nicht in Ordnung, und darum müssen wir jetzt tun, was wir schon seit jeher gesagt haben, und das sagen die Politiker auf der linken Seite und die Politiker auf der konservativen Seite, ohne wirklich darauf zu schauen, was uns denn diese Tests wirklich lehren und was nicht.

Das heißt, dafür darf man nicht einfach nur anschauen, wie schneidet Deutschland ab, wie schneidet Finnland ab, und dann müssen wir jetzt alles so machen wie Finnland. Denn es sind natürlich viel mehr Länder, die dort teilgenommen haben, und wir haben unheimlich viele Informationen darüber, über die einzelnen Schüler, deren familiären Hintergrund, über Klassengrößen, darüber, wie viel Autonomie die Schulen haben, ob sie Lehrer selbst einstellen können oder nicht. Ein sehr breites Spektrum, und das haben wir für alle teilnehmenden Länder, meist 30, 40 oder mehr Länder.

Dann können wir systematisch anschauen, ob denn die Länder, die bestimmte Sachen im Schulsystem anders machen als wir, ob die systematisch besser abschneiden oder nicht. Und dann sind viele Dinge, die man sozusagen durch sehr einzelspezifische Beispiele rauspickt, indem man einfach nur auf Finnland schaut zum Beispiel, die sich dann eben nicht als systematische Wahrheit herausstellen, dafür muss man schon ein bisschen tiefer gehen und mehr analysieren. Und genau das ist es, was ich hoffe, was ich zum Beispiel mit meinem Buch, was ich jetzt geschrieben habe, etwas in die Diskussion reinbringen kann, dass wir wirklich versuchen, aus diesen Tests zu lernen und sie nicht wieder nur für Meinungsmache zu nutzen.

Hanselmann: Ihr Buch heißt "Letzte Chance für gute Schulen", und in diesem Buch schreiben Sie über die zwölf großen Irrtümer, und was wir wirklich ändern müssen. Wo sind denn die größten Irrtümer, und was müssen wir ändern?

Wößmann: Ja, die Irrtümer gehen quer durch die ganze Bank. Ein Irrtum ist eben zum Beispiel, wir haben es grad schon ein bisschen besprochen, dass es auf das, was PISA so testet, ja gar nicht groß ankommt, und dort belegen die Fakten eindeutig, wie wichtig dies aus wirtschaftlicher Sicht ist.

Ein weiterer, interessanterer Irrtum ist zum Beispiel, dass wir immer glauben, früher war alles besser. Es ist aber so, dass Deutschland schon Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre einmal an internationalen Tests teilgenommen hat und dort eigentlich genauso mittelmäßig abgeschnitten hat wie jetzt auch. Das heißt, die Probleme, die wir haben, sind schon länger bei uns.

Vielleicht ein nächster Irrtum: Wir müssen einfach nur mehr Geld ins System bringen, Klassen verkleinern oder zum Beispiel Computer in die Klassenräume bringen und alles wird besser. Auch da zeigt die Forschung anhand dieser ganzen Tests, die uns vorliegen, sehr eindeutig, dass es eben nicht so ist.

Hanselmann: Oder wie es der Berliner Bildungssenator und Chef der Kultusministerkonferenz Jürgen Zöllner grade gefordert hat, wir müssen endlich in die Lehrer investieren. Bringt das was?

Wößmann: Wir haben in dem Bereich leider forschungsmäßig in Deutschland noch starken Nachholbedarf zu sehen, was es denn wirklich ist, was einen wirklich guten Lehrer ausmacht. Vielleicht können wir darüber noch gar nicht so viel sagen, wie wir gerne würden. Allerdings, was die Forschung der letzten Jahre sehr eindeutig belegt hat, ist eben, dass in der Tat die Lehrer die wichtigsten Vermittler dort sind, und dass sozusagen ein guter Lehrer dem gleichen Schüler viel, viel mehr beibringen kann als ein schlechter Lehrer.

Vielleicht sollten wir uns darauf stärker fokussieren und versuchen, das in Zukunft stärker zu analysieren und aus Reformen, die wir machen, zu lernen, indem wir versuchen, tatsächlich immer zu überprüfen, was ist bei rausgekommen: Haben die Schüler nach einer Reform wirklich mehr gelernt oder nicht oder der vielleicht sogar negativ? Ich denke, wir haben ja seit den 60er Jahren regelmäßig große Schulreformen, Bildungsreformen gesehen, aber wir haben nie versucht, daraus zu lernen, ob die denn wirklich funktionieren oder nicht.

Hanselmann: Herr Wößmann, in der "Zeit" ist gerade ein Appell erschienen, unterzeichnet von vielen Menschen, die sich mit unserem Bildungssystem beschäftigen und sich damit auskennen, seien es Politiker, wie die frühere Bundesfamilienministerin Renate Schmidt oder Bernhard Bueb, der Autor von "Lob der Disziplin" und eben auch Sie. Sie alle fordern, teils über Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen hinweg, einen neuen Schultyp. Wie soll der aussehen?

Wößmann: Der Punkt ist, dass wir sehen, dass diese frühe Aufteilung auf sehr viele verschiedene Schultypen in Deutschland sehr schlecht ist, gerade schlecht für Kinder aus bildungsfernen Schichten, also die von vornherein benachteiligt sind. Da gibt es sehr unterschiedliche Meinungen dazu, wie weit man da gehen sollte.

Man erkennt aber mittlerweile, dass eben im gesamten politischen Spektrum eigentlich eine gewisse Einhelligkeit der Meinung darüber besteht, dass wir dahinkommen müssen, dass überhaupt keine Kinder auf irgendeine Restschule verwiesen werden, wo sie von vornherein keine Perspektiven mehr haben.

Und daher besteht dieser Aufruf darin, in Zukunft nur noch zwei Schultypen zu haben, das heißt neben dem Gymnasium nur noch eine weitere Sekundarschule oder Mittelschule, wie es in einzelnen Bundesländern auch schon der Fall ist, um eben alle Kinder gemeinsam unterrichten zu können und allen Kindern gemeinsam möglichst lange eine weite Perspektive für ihren Bildungsweg und für ihren Lebensweg zu eröffnen. Das heißt eben auch, dass diese zweite Schulart, die daneben kommt, die nun Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, alles zusammen integriert, dass...

Hanselmann: Wo man auch die entsprechenden Abschlüsse machen kann?

Wößmann: Genau, dass man dort eben sowohl die Mittlere Reife machen kann, aber auch weitergehen, und einen Hochschulzugang berechtigenden Abschluss machen kann, der vielleicht eben ein bisschen anders aussieht als vom klassischen Gymnasium, wir sehen ja eben, alle Unternehmen rufen danach, es gibt großen Ingenieurmangel, wir brauchen mehr hochgebildete Mitarbeiter, dass es hier sehr stark in angewandte Berufe gehen muss, wo die Bildung ein ganzes Stück weitergehen muss als das, was wir klassischerweise in Deutschland haben.

Und ein solcher Schultyp könnte dazu beitragen, eben wesentlich mehr Kinder, grade aus bildungsfernen Schichten mit sehr hohem Potenzial, die sehr clever sind, dazu zu bringen, zum Beispiel auch über eine Lehre hinauszublicken und zu sagen, ich mach noch ein angewandtes Fachhochschulstudium zum Beispiel, um damit wirklich unserer Wirtschaft in Zukunft das höhere Humanvermögen bereitzustellen, was wir brauchen.

Hanselmann: Warum fordern Sie da nicht gleich die komplette Abschaffung des Gymnasiums und nur diesen einen Schultyp?

Wößmann: Tja, hier ist nun wirklich die Hoffnung dieses Aufrufs, zu integrieren und dazu beizutragen, dass alle großen politischen Strömungen das mittragen können, weil wir denken, dass man so langsam sehen kann, dass das akzeptiert wird. Wir sehen mittlerweile einige konservativ regierte Bundesländer, die sozusagen den ersten Schritt gemacht haben, und genau solch ein Konzept eigentlich vorschlagen.

Wir möchten nun einerseits dazu beitragen, dass es da eine bundeseinheitlichere Richtung gibt, damit man gegenseitig versteht, was eigentlich dort geschieht, und des weiteren wollen wir eben sagen, komm hier, da verliert jetzt keine Partei das Gesicht, wie es in den 70er Jahren eben zu den großen ideologischen Grabenkämpfen geführt hat, sondern wir können hier gemeinsam gehen, getragen von allen Parteien. Ich persönlich kann mir in der Tat vorstellen, dass dies ein erster Schritt sein sollte, und wir später dazu kommen, die Kinder länger gemeinsam zu unterrichten.

Und ich bin der Tat der Meinung, wir sollten nicht so früh aufteilen, was nur noch in Deutschland und Österreich und sonst nirgendwo auf der Welt nach der vierten Klasse geschieht. Analysen der internationalen Vergleichstests zeigen eben dort eindeutig, dass je später man aufteilt, desto geringer ist die Abhängigkeit der Schülerleistung vom jeweiligen familiären Hintergrund, desto größer ist also die Bildungsgerechtigkeit. Und ich denke, dass muss ein großes Ziel für uns sein, dorthin zu kommen.

Hanselmann: Vielen Dank! IGLU, PISA und die letzte Chance für gute Schulen. Wir haben gesprochen mit Ludger Wößmann, Professor für Bildungsökonomie an der LMU München und Autor des eben genannten Buchtitels, und das ist erschienen bei Zabert Sandmann.