Wo Strawinski und Le Corbusier sich trafen

Von Gregor Ziolkowski · 29.12.2011
Die Residencia de Estudiantes ist eine geradezu mythische Institution, ein Hort der liberalsten Linien in Wissenschaft und Kultur in Spanien. Als Studentenwohnheim und Kulturhaus gegründet, entfaltete sich hier ein reges Kulturleben.
Sucht man nach einem Ort in Spanien, von dem im 20. Jahrhundert sehr wesentliche Impulse für das kulturelle und geistige Leben des ganzen Landes ausgingen, stößt man unweigerlich auf die Residencia de Estudiantes in Madrid. Zunächst mag man stutzen: Ist es wirklich die Möglichkeit, dass ein Ort, dessen Name nicht mehr als "Studentenwohnheim" bedeutet, eine solche Rolle einnehmen konnte? So war es, und so ist es in gewisser Weise bis heute. Denn der Name "Studentenwohnheim" war von Beginn an das reinste understatement, erklärt Alicia Gómez Navarro, die Direktorin:

"Eine ganzheitliche Bildung sollte die verschiedensten Facetten des studentischen Lebens berücksichtigen. Da ging es auch um die Vermittlung bestimmter Werte wie Toleranz, Mitmenschlichkeit, gegenseitiger Respekt. Und natürlich hatten die hier betriebenen Laboratorien eine enorme Bedeutung. Es gab mehrere davon, etwa das für Physiologie unter Juan Negrín oder das für Pathologische Anatomie, neben anderen. Und hier studierten viele Wissenschaftler wie der spätere Nobelpreisträger Severo Ochoa oder der Mediziner Francisco Grande Covián, beide waren in der Residencia."

Die erwähnte Ganzheitlichkeit speiste sich aus vielen Elementen: Eine eigene Frauenabteilung stellte die Geschlechterfrage in der Bildung neu. Reformpädagogische Ansätze – etwa aus Deutschland – flossen ein, eine Hinwendung zu Natur- und Körpererfahrung, zur Kulturgeschichte und zu kultureller Praxis waren mehr als Beigaben zu einem herausragenden naturwissenschaftlichen Programm. Dessen Exklusivität wird deutlich an der ganz und gar unvollständigen Liste von Gastdozenten oder -rednern, die die Residencia besuchten. Alicia Gómez Navarro:

"Die Bewohner und die Madrider Gesellschaft insgesamt konnten hier Naturwissenschaftler wie Einstein, Eddington oder Marie Curie hören, hier gastierten Musiker wie Ravel, Poulenc oder Strawinski, man empfing den Dichter Paul Valery oder Architekten wie Walter Gropius und Le Corbusier. Hierher kamen herausragende Leute aus aller Welt, und vor allem war das ein offenes Tor nach Europa."

In der Kultur konnte die Residencia den wohl nachhaltigsten Klang erzeugen. Man müsste von einem Dreiklang reden, denn er hatte drei konkrete Namen: Federico García Lorca, Salvador Dalí und Luis Buñuel. Ihr Zusammentreffen in der Residencia de Estudiantes war wie der glühende Kern einer Avantgarde, zu der weitere große Namen gehörten: die späteren Literaturnobelpreisträger Juan Ramón Jiménez und Vicente Aleixandre oder auch Rafael Alberti – in die Literaturgeschichte sind sie als "Generation von ’27" eingegangen.

Francos Putsch vom Juli 1936 beendete diese Blütezeit abrupt. Nicht nur die Wirren des folgenden Bürgerkriegs und die Entbehrungen der Nachkriegszeit verhinderten ein Wiederaufleben der Aktivitäten in der Residencia. Ihr weltoffener, progressiver und experimentierfreudiger Geist konnte unmöglich weiterleben unter einer Diktatur des Nationalkatholizismus. Die Schicksale vieler der Protagonisten dieser Institution machen das deutlich: Wer nicht – wie Lorca oder der Dichter Miguel Hernández - getötet worden war, gehörte zumeist zu jenen knapp 500.000 Exilanten, die das Land nach dem Bürgerkrieg verließen. Erst 1986, elf Jahre nach dem Tod des Diktators Franco, begann der Versuch, an eine gewaltsam beendete Tradition anzuknüpfen:

"Wir starteten ein Projekt zur Wiederbelebung der historischen Residencia in ihrem ursprünglichen Geist. Wir konzentrierten uns auf die Rekonstruktion der damaligen historischen Epoche, indem wir Nachlässe, Manuskripte und Dokumente, Buchausgaben zusammentrugen, die die Geschichte all dieser Personen erzählen können."

Die Residencia de Estudiantes tritt heute in mehrfacher Gestalt in Erscheinung: Als Archiv und Dokumentationszentrum, das die eigene Geschichte illustriert, als Veranstalter von Literatur- und Konzertabenden sowie Ausstellungen, als Verlag für eigene Publikationen und Kataloge und als Wohnstätte für rund zwei Dutzend Stipendiaten, die zu einjährigen Forschungsaufenthalten zu Gast sind. Sie hat ein sehr klar definiertes, dabei gediegenes Profil. Der Hauch der Avantgarde indes ist kaum mehr zu spüren.
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