WM in Brasilien

Die schwarze Seele Brasiliens

Bunte Bändchen, die sogenannten Fitinhas, sind an der Bonfim-Kirche, der berühmteste Pilgerkirche von Salvador da Bahía, gebunden.
Bunte Bändchen, die sogenannten Fitinhas, sind an der Bonfim-Kirche, der berühmteste Pilgerkirche von Salvador da Bahía, gebunden. © Deutschlandradio - Julio Segador
Von Julio Segador  · 12.06.2014
Wo einst mit Sklaven gehandelt wurde, in Salvador da Bahía, wird die deutsche Mannschaft ihr erstes Spiel haben. Und obwohl 1888 in Brasilien die Sklaverei abgeschafft wurde, ist diese Historie heute immer noch sehr präsent.
Zwei Reais will Verkäuferin Lucia für die Fitinhas die bunten Bändchen, die es in Salvador da Bahía an jeder Straßenecke gibt. Umgerechnet knapp einen Euro. Sonst verlangen die Händler nur die Hälfte; aber dieser Kiosk steht ja nicht irgendwo, sondern gleich neben der Bonfim-Kirche, der berühmtesten Pilgerkirche von Salvador. Immerhin, für die zwei Reais gibt es von Lucia eine Erklärung, was es mit den Fitinhas auf sich hat.
"Man nimmt eine Fitinha, sucht sich dabei die Farbe aus, und geht zum Gitter vor der Kirche. Dort knotet man das Band an. Und zwar mit drei Knoten für drei Wünsche. Man muss das andächtig machen, damit sich die Wünsche auch erfüllen. "
Die Fitinhas, die bunten Stoffbändchen, verkörpern die Orixás, die afrikanischen Götter, die in Salvador da Bahía allgegenwärtig sind. Dass Lucia ihre Fitinhas vor einer katholischen Kirche verkauft, sei kein Gegensatz zum katholischen Glauben, versichert Samantha, Lucias Kollegin.
"Jede Farbe steht für einen Orixá, und jeder Orixá entspricht einem katholischen Heiligen. Etwa die Farbe Rot, sie steht für Jansá, das ist die heilige Barbara. Grün ist Oxossi, der heilige Georg. Ogum, in blau, steht für den heiligen Antonius. Und dieses andere blau ist Iemanjá, die Königin des Meeres."
Das grüne Bändchen, also Oxossi, kommt ans Gitter vor die Kirche, und zur Sicherheit kommt die blaue Fitinha, Iemanjá, noch ans Handgelenk, man kann ja nie wissen. Samantha verknotet das Bändchen fachgerecht.
Sie rasselt mit ihren Muscheln und versichert sich, ob man sich auch wirklich einen Wunsch überlegt habe. Dann erst bindet Samantha den ersten Knoten.
Drei Mal geht dieses Spielchen. Drei Knoten für drei Wünsche.
Am Ende gibt Samantha einem noch ihren Segen mit auf den Weg. Damit, und mit der Meeresgöttin Iemanjá am Handgelenk, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen in Salvador da Bahía, der schwarzen Seele Brasiliens.
Der Pelourinho Platz in Salvador da Bahía.
Der Pelourinho Platz in Salvador da Bahía. © Deutschlandradio - Julio Segador
Straßenmusik auf dem Pelourinho, dem wohl beeindruckendsten Platz der Stadt im Nord-Osten Brasiliens. Salvador da Bahía ist das Zentrum der afro-brasilianischen Kultur. Fast drei Millionen Menschen leben in der Metropole, vier von fünf Einwohnern der Stadt sind schwarz, Nachfahren der Sklaven, die einst unter großen Qualen aus Afrika entführt und nach Südamerika verschleppt wurden.
Salvador ist auch die exotischste Stadt Brasiliens. Die Kultur und die Bräuche in der Metropole schlagen bis heute eine Brücke zwischen dem südamerikanischen, dem europäischen und dem afrikanischen Kontinent. Und nirgends ist diese Verbindung so lebendig wie auf dem Pelourinho. Enge und gepflasterte Gassen umgeben den Platz; bunte, pastellfarbene Häuser stehen Spalier. Der Pelourinho ist voller Kirchen, Klöster, Cafés, Brunnen und Bars, er ist übersät mit kleinen Kunstständen, in denen Händler Souvenirs verkaufen. Viele Häuser im portugiesischen Kolonialstil sind frisch renoviert, andere verfallen, manche sind überwuchert von tropischen Grün.
Nicht immer war es auf dem Pelourinho so malerisch. Bis 1835 war der Platz der Sklavenmarkt der Stadt. Hier stand der Pranger, der dem Pelourinho den Namen gab. Von den Balkonen der herrschaftlichen Häuser aus konnte man zusehen, wie die Sklaven ausgepeitscht wurden. Erheiterung für die bessere Gesellschaft, während das Blut die dunklen Pflastersteine rot einfärbte. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu vier Millionen Sklaven aus Afrika nach Brasilien verschleppt wurden.
Auch dieser Rhythmus ist untrennbar mit dem Leiden der schwarzen Bevölkerung Salvadors verbunden.
Kämpfende Männer im Kreis
Eine Capoeira-Schule in einem alten Kolonialhaus am Pelourinho. Mehr als ein Dutzend junge Leute sitzen am Boden in einem großen Rund, der sogenannten Roda. Einige Musiker begleiten mit ihren Instrumenten zwei dunkelhäutige Männer, die innerhalb des Kreises miteinander kämpfen. Es scheint zumindest so. In Wirklichkeit führen sie Kampfbewegungen aus, ohne sich zu berühren. Capoeira, heißt dieser afro-brasilianische Kampfsport, eine Art Kampftanz, der sich aus der Zeit der Sklaverei bis heute gehalten hat. Mestre Dinei ist einer der beiden Kämpfer.
"Die Capoeira-Bewegungen wurden in der Zeit der Sklaverei erfunden. Damit verteidigten sich die Sklaven. Um die Bewegungen zu üben, tarnte man das Ganze als eine Art Tanz. Geblieben ist heute dieser Kampfsport, mit dem man Angriffe abwehrt."
Die Kämpfer in der Roda kombinieren spielerisch Angriff und Verteidigung. Beide Akteure befinden sich in ständiger Bewegung. Täuschen, greifen an, weichen aus, blocken Schläge und Tritte, vollziehen akrobatische Bewegungen. Rhythmik, Reaktionsfähigkeit, Improvisation und Kreativität zeichnen Capoeira aus. Der Kampfsport war und ist bis heute Teil der Widerstandskultur der schwarzen Bevölkerung Brasiliens gegen die weiße Oberschicht. Für Gilidacio Perreira de Oliveira, einen dunkelhäutigen Brasilianer, der die Atabaque, eine traditionelle Trommel spielt, war es auch eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.
"Ich lebte auf der Straße. Und als ich 14 Jahre alt war, gabelte mich mein Meister auf und brachte mich zur Capoeira. Durch den Kampfsport lernte ich das Leben besser verstehen. Ich hatte überhaupt kein Bewusstsein, was es bedeutet, diese Hautfarbe zu haben. Mit der Capoeira entwickelte ich dafür ein Gespür. Ich weiß nun besser, was es heißt, ein Schwarzer zu sein. Ab diesem Moment veränderte sich mein Leben und bis heute bin ich hier bei Meister Pelé da Bomba in der Capoeiraschule."
Es ist eine Art körperlicher Dialog, den die beiden Capoeiristas, die beiden Kämpfer miteinander austragen. Ein Frage-Antwort-Spiel mit Bewegungen. Wer nicht reagiert, wer zu lange mit der Antwort zögert, gibt seinem Kontrahenten Zeit, die nächste Frage zu stellen, den nächsten Schlag oder Tritt anzubringen. Der Rhythmus wechselt kaum, wird in Endlosschleifen wiederholt. Für Gilidacio Perreira de Oliveira verkörpert dieser eintönige und einprägsame Rhythmus das pulsierende Herz der schwarzen Bevölkerung. Und er verkörpert für ihn die Wut der Menschen, die seit der Zeit der Sklaverei unterdrückt wurden, bis heute.
Eine Capoeira-Schule in einem alten Kolonialhaus in Salvador da Bahía.
Eine Capoeira-Schule in einem alten Kolonialhaus in Salvador da Bahía. © Deutschlandradio - Julio Segador
"Als für uns die Befreiung aus der Sklaverei kam, wurden wir Schwarze wie Müll auf die Straße geworfen. Man sieht das sehr gut auch hier auf dem Pelourinho. Es gab und es gibt für uns kaum Arbeit, und wir mussten auf die Hügel klettern, und bauten dort die Favelas auf. Dort leben wir bis heute. In den Favelas, den Armenvierteln. Auch hier in Salvador, wo über 80 Prozent der Einwohner dunkelhäutig sind. Und dennoch werden wir benachteiligt. Und daher suchen die Menschen die Wurzeln ihrer Kultur in der Capoeira, drücken dadurch ihren Widerstand aus. Unsere Befreiung aus der Sklaverei ist nicht besonders gut gelungen. "
Diskriminierung ist bis heute Realität
Auch wenn die Sklaverei in Brasilien 1888 offiziell abgeschafft wurde. Die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung ist bis heute Realität. Und auch in Bahía, der schwarzen Seele Brasiliens, ist der Rassismus Teil des täglichen Lebens. Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch werden junge Dunkelhäutige häufiger Opfer polizeilicher Gewalt, schwarze Häftlinge werden in den Gefängnissen oft erniedrigt, viele werden getötet. Und bestimmte Berufe sind fast ausschließlich den weißen Brasilianern vorbehalten. Die Journalistin und Anthropologin Claudiana Ramos beschäftigt sich seit Jahren damit.
"Salvador ist eine der rassistischsten Städte des Landes. Es gibt keinen Dunkelhäutigen, der nicht irgendeine Geschichte darüber erzählen kann. Es ist nicht unbedingt ein ausschließender Rassismus, der dir den Zugang zu einem Ort verwehrt. Es ist vielmehr ein Rassismus im Blick. Wenn du in ein Restaurant gehst, glotzen dich alle Weißen an. Und ihr Blick sagt dir: Du hast an diesem Ort nichts zu suchen. Oder wenn die Leute erstaunt darüber reden, dass ein Arzt schwarz ist, oder auch der Chef einer Bank. Das ist einfach ungewöhnlich."
Sonia Sousa, eine ältere, dunkelhäutige Frau gekleidet in typischer Baiana-Kleidung mit einem weiten weißen Baumwollkleid und einem weißen Kopftuch schlägt in einem großen Plastikkübel einen Teig. Und das macht sie mit Hingabe.
"Das Geheimnis des Teiges ist ganz einfach. Man muss ihn gut schlagen und man muss das Ganze mit Liebe machen. Dann wird es gut. Zu einem guten Essen braucht man Liebe, ohne sie funktioniert nichts."
Mit gefüllten Teig-Bällchen gegen die FIFA
Sonia Sousa verkauft Acarajé, die Spezialität der Region Bahía im Nord-Osten Brasiliens. In Salvador gibt es hunderte von Acarajé-Ständen. Sonias Imbiss ist direkt am Hafen, die Leute stehen Schlange, warten geduldig auf diese Spezialität. Frittierte, gefüllte Teig-Bällchen, deren Geruch einem schon von weitem in die Nase steigt.
"Der Acarajé-Teig besteht aus Bohnen, Salz und Zwiebeln. Und einer Prise guter Laune. Die Füllung heißt Vatapá. Das ist ein Püree aus Weizenmehl, aus Fisch, Nusskernen, getrockneten Krabben, eingeweichtem Brot, Palmöl, Kokosmilch und Ingwer. In das Bällchen mit der Füllung kommt noch ein Salat aus Tomaten, Shrimps und Pfeffer. "
Vorsichtig legt Sonia Sousa das Acarajé in das siedend heiße Dendé-Öl, ein Palmöl, das den Bällchen einen ganz typischen Geschmack gibt. Einmal zu Ende gebacken wird das Acarajé aufgeschnitten, mit Vatapá gefüllt, Salat und Krabben drauf - die Spezialität aus Salvador ist fertig zum Essen. Die gefüllten Teig-Bällchen haben ihren Ursprung in Afrika. Das Gericht kam einst während der Kolonialzeit mit den Sklaven nach Südamerika. Zubereitet wird Acarajé nur von dunkelhäutigen Frauen. Rita Santos ist die Vorsitzende der Vereinigung der Acarajé-Verkäuferinnen. Für sie ist der Imbiss ein spirituelles Gericht.
"Acarajé ist eine leckere Teigkugel, die von den Baianas, mit viel Mühe und liebevoll zubereitet wird. Industriell kriegt man das niemals so hin. So wie die Baianas Acarajé zubereiten ist es voller Axé, also voller Energie. Sie bereiten den Teig zu, sprechen ein Gebet, sind ausgeglichen – und all das überträgt sich auf das Essen. Wenn mein Kopf voller Gedanken ist, wenn mir alles zu viel wird, dann verkaufe ich Acarajé; und wenn ich den Teig knete, verfliegen alle Probleme. "
Rita Santos ist nicht nur eine begeisterte Acarajé-Köchin und die Vorsitzende der Acarajé-Vereinigung von Salvador, - sie ist auch die Frau, die dem mächtigen Weltfußball-Verband FIFA die Stirn bot und ihren Willen durchsetzte. In Salvador ist es üblich, dass Acarajé am Rande der Fußballspiele angeboten wird, so wie in den deutschen Stadien etwa die Bockwurst. Seit je her verkaufte Rita Santos mit ihren Kolleginnen die Teigbällchen auch in der Arena Fonte Nova, dem Fußball-Stadion von Salvador da Bahía.
Dann bekam Brasilien den Zuschlag für die Weltmeisterschaft. Das Stadion wurde umgebaut. In der prächtigen Arena wird Deutschland sein erstes Gruppenspiel gegen Portugal bestreiten. Doch wie es zunächst aussah, ohne Rita Santos und die anderen Acarajé-Köchinnen. Der Weltfußballverband machte nämlich zur Auflage, dass während der WM im Umkreis von zwei Kilometern um das Stadion nur von der FIFA lizenzierte Verkäufer ihre Stände betreiben dürfen. Rita Santos wollte sich das nicht gefallen lassen.
"Ich dachte mir: Nein, so geht´s nicht. Wenn wir es nicht machen, verkauft keine andere Acarajé. Das ist unsere Spezialität. Die ist geschützt. Und dann ging die Diskussion erst richtig los. Ich schrieb Briefe an die Regierung in Brasilia, schaltete den Gouverneur ein, ließ nicht locker. Wir stellten eine Online-Petition ins Netz, und die machte die Runde. Leute aus 196 Ländern trugen sich ein. In Neuseeland, in Deutschland, überall wurde darüber diskutiert, dass der Weltfußballverband FIFA die Baianas nicht in der Arena Fonte Nova haben wollte."
Am Ende gab die FIFA nach. Während der Weltmeisterschaft dürfen nun sechs Baianas im WM-Stadion Acarajé verkaufen. Die Widerstandskultur der dunkelhäutigen Bevölkerung Salvadors – in diesem Fall angeführt von Rita Santos - zwang sogar die mächtige FIFA in die Knie.
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