Wittstock in Brandenburg

Vergangenheit, die nicht vergeht

Eine Aussichtsplattform, halb zerfallen, und Blick auf das sogenannte Bombodrom, einen der größten Übungsplätzee der sowjetischen Luftwaffe
Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die sowjetische Luftwaffe einen ihrer größten Übungsplätze nahe Wittstock ein, das sogenannte Bombodrom. © Nana Brink
Von Nana Brink · 30.09.2018
Wittstock ist von seiner kriegerischen Vergangenheit bis heute tief geprägt: Der Dreißigjährige Krieg, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg. Die Rote Armee übte hier, wie man Bomben wirft – und später auch die Bundeswehr. Das ist vorbei, aber viele Spuren bleiben.
Es scheint, als ob Wittstock sein Kriegserbe nicht los wird. Mehrere tausend Hektar werden für normale Besucher weiterhin unzugänglich bleiben. "Lebensgefahr! Kampfmittel! Betreten und Befahren verboten", warnen die Schilder am Rande der Heide. Immerhin: Ein 13 Kilometer langer Weg ist für den Tourismus freigegeben worden. Zum Wandern, Reiten, Radfahren. Erholung im Sperrgebiet. Mit Blick auf die größte zusammenhängende Heidelandschaft in Europa.

Die Reportage im Wortlaut:
Rainer Entrup, Förster: "Wir gehen auf den so genannten Generalshügel, eine Erhebung in dieser normalerweise vollkommen flachen Landschaft, mit Treppe, hat da oben einen Bunker, eine Tribüne gehabt, und da konnte man dann oben durch große Scheiben, wenn man den entsprechenden Dienstgrad sicherlich unter Zuhilfenahme von Getränken hier der Entwicklung der Schlacht zuschauen. Wir gehen mal hier an die Kante (hier ist die Tribüne), und da unten, das war der sogenannte Sandkasten, bei Militär spricht man ja von Sandkastenspielen – man sieht das noch an den Farben, das war dargestellt auf Planen, das Gelände, und da wurde dann das Geschehen, was sich ja in der Tiefe der Landschaft abspielte, hier simultan dargestellt, und dann kamen die Panzer aus dem Wald und die Hubschrauber angeflogen und und und ..."
Damals in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Heute wächst ein Pfirsichbaum aus den zerborstenen Scheiben des Kommandostands. Rainer Entrup leitet den Bundesforstbetrieb West-Brandenburg und ist zuständig für die komplette Konversionsfläche zwischen Wittstock und Neuruppin. Auch für das sogenannte Bombodrom, - den ehemaligen Übungsplatz der Roten Armee. Eigentlich wohnt Entrup in Potsdam. Aber die Heide, die sich den Übungsplatz zurückerobert hat, ist so etwas wie seine zweite Heimat. Eine, die er sich im Laufe der Jahre erst vertraut machen musste.
Rainer Entrup: "Das ist wie eine Geisterlandschaft. Ja wie eine Geisterlandschaft, ist für unser Auge unwirklich, weil wir das nicht gewöhnt sind, wir sind geordnete Landschaften gewöhnt, mit Ackerkanten, Feldern, mit Linien, und hier verlieren wir unsere Orientierungslinien, wenn wir da reingucken, haben wir keine Ordnung mehr, die wir eigentlich gewohnt sind."

Im 30-jährigen Krieg war die Landschaft voller Soldaten

Heide, wohin das Auge reicht. Dürr, niedrig – nur ganz am Rande ein paar verkrüppelte Baumreihen. Vor über 400 Jahren - am Vorabend des 24. September 1636 um genau zu sein, mitten im 30-jährigen Krieg – war diese Landschaft voller Soldaten.
Rainer Entrup: "Der war gar nicht so weit weg, in diese Richtung, diese Soldaten sind sicher hier durchgezogen, war damals geschlossener Wald, auch nicht Birken oder Kiefer, was wir heute hier im Inneren sehen."
Die Gegend um Wittstock hat den Krieg in ihrer DNA. Er bestimmt die Geschichte des Ackerbaustädtchens in der kargen Prignitz. Jedes Jahr im Herbst schlüpfen ein paar hundert Wittstocker in historische Kostüme.
"Herzlich willkommen hier heute Abend auf dem Wittstocker Marktplatz, schön, dass Sie den Marktplatz gefunden haben. 770 Jahre Wittstock ist das Thema am heutigen Abend, 27 Bilder erwarten uns auf unseren Abendspaziergang, 770 Jahre Stadtrecht hier in Wittstock, und ich glaube, die Stadt hat nicht nur Geschichte, sondern viele, viele, die Geschichte geschrieben haben – in einer Stadt, die fast jeder jeden kennt. Ich lade Sie herzlich ein, folgen Sie uns! Auf geht’s ..."
Quer durch die Stadt. Und ihre Geschichte. Von der Pest, die die halbe Bevölkerung fast dahinrafft. Von einem Apotheker namens Gregori, der beim Brennen von Brandwein die Stadt fast abfackelt. Und von jenem Krieg, den man den 30jährigen nennt, der Wittstock fast entvölkert.
"Die Schlacht am Scharfenberg war hier in Norddeutschland eine entscheidende Schlacht, zwischen den Sachsen und den Kaiserlichen gegen die Schweden, und die Schweden haben unter dem General Banier gewonnen, det war 1636 hier am Scharfenberg, det weeß ick, wenn man sich für Geschichte interessiert."

Abendspaziergang als Geschichtsvermittlung

"Extrablatt, Wittstocker Wochenblatt, die Geschichte Wittstocks in 27 Bildern, Extrablatt, Ausgabe Abendspaziergang, Extrablaaaattt ... Nachtspaziergänge, Nachwanderungen finde ich cool, weil sie Spaß machen, und ich finde es auch gut, dass sie nicht immer stehen bleiben und stundenlang was erzählen, das geht in ein Ohr rein und einem wieder raus, aber wenn ich mir das so allein angucke, dann macht das für mich mehr Sinn, weil ich mir das besser merken werde."
Der Abendspaziergang ist jedes Jahr das größte Fest in Wittstock. Ein paar Tausend Menschen sind auf den Straßen unterwegs, nicht gerechnet die, die mitspielen in den Bildern. So wie Konrad Dost, stadtbekannter Heimatforscher. Ihm ist es zu verdanken, dass Wittstock vor 20 Jahren ein Museum des 30-jährigen Krieges bekam. Heute führt seine Tochter das Museum:
"Es ist ein Problem. Mensch – Gewalt – wie verhält sich der Mensch gegenüber Gewalt, und dass heute gewalttätige Sachen, also wenn ich an den Kosovo denke oder jetzt im Moment an Syrien, immer wenn man was hört, ist von der Brutalität, die im 30jährigen Krieg schon vorhanden ist, die Rede, leider. Und insofern ist das eine Parallele – der 30jährige Krieg, sagen ja Historiker, hat Europa bis heute geprägt. Und insofern ist eine Beziehung herzustellen, und wir wollen ja – das ist wichtiges Ziel – es ist ein Anti-Kriegs-Museum, wir wollen zeigen, nicht in aller erster Linie die Soldaten und die Kriegstechnik, sondern die Wirkung auf die Bevölkerung".
Eins der "Bilder" beim Abendspaziergang in Wittstock: die "Hexe" Anna Doßmann wird verurteilt
Die "Hexe" Anna Doßmann landete 1571 auf dem Scheiterhaufen.© Stadtverwaltung Wittstock/Dosse
Eine Station des Abendspaziergangs in Wittstock - eine Frau gibt zwei Darstellerinnen eine Geldmünze
Geschichte, lebendig erzählt - beim Abendspaziergang in Wittstock© Stadtverwaltung Wittstock/Dosse
Es dauert mehrere Jahrzehnte, bis sich die Stadt von den Plünderungen und Hungersnöten erholt hat. Heute allerdings hat sich Konrad Dost eine besondere Rolle ausgesucht – eine ganz und gar unkriegerische. Der alte Herr mit den schlohweißen Haaren steht in einem prächtigen Gewand am Toreingang eines mittelalterlichen Hauses.
Konrad Dost: "Und ich, Bischof Konrad, ein mildtätiger netter Bischof, netter kann man gar nicht sein, schenke der Stadt den Rosenplan, den Platz zum Tanzen und zum Fröhlich sein, mit der Auflage, ihn mit Rosen zu bepflanzen, deshalb heißt er Rosenplan. – Sie haben einen tollen Ring. - Mit Brillant, damit Sie den Ring auch küssen können, das gehört sich eigentlich so, wir haben auch Kuss-Täfelchen. Bischof Konrad 1422 bis 1460, paar Wochen her schon."
"Ist 20 Uhr, na, wo wollen Sie denn noch hin? In den Himmel ! Na dann müssen wir ne Leiter aufstellen, ohne Wegzoll geht’s hier nicht durch. Wir nehmen gerne einen Klopfer. Prost!"
Bürgermeister Jörg Gehrmann an einer Station des Abendspaziergangs
Auch der Bürgermeister Jörg Gehrmann nimmt teil am Abendspaziergang.© Stadtverwaltung Wittstock/Dosse
Jörg Gehrmann: "Und das machen wir jedes Jahr zum Abendspaziergang, weil die Wittstocker stolz auf ihre Stadt sind und sie immer wieder neu entdecken wollen, und das sind so Achsen, die man Jahrzehnte so als Mythos vor sich herträgt und dann ist es auch gut, dass die nachfolgende Generation diese auch kennen! Nein, also Kriegsgeschichte ist ja eher mit einem Ereignis verbunden, dass man den 30jährigen Krieg in Wittstock als einziges Museum hat, und ich glaube, das ist erwähnenswert, aber macht nicht stolz."
Es gibt eine Zeit, da wollen die Menschen in Wittstock keinen Krieg mehr. Nach dem Abzug der Russen 1994 übernimmt die Bundeswehr den ehemaligen Übungsplatz - das Bombodrom, wie er bis heute im Volksmund heißt. Mitte der 90er Jahre bildet sich erster Widerstand.
Christian Gilde: "Als DDR-Mensch hat man ja gedacht, das ist alles so in Beton gegossen, die politische Lage, Ost, West, war so in Beton gegossen, als die Grenze, ich die Bilder gesehen habe, in Ungarn, als das aufgemacht wurde, wir haben Angst gehabt, der Weltkrieg geht los, ein Gefühl, von daher, weil es für uns so unvorstellbar war, dass so was passiert. Und dann hat man auch Mut bekommen andersherum, nicht mehr gegen die Russen, sondern gegen die Pläne der Bundeswehr zu rebellieren. Und es war eine sehr unversöhnliche Auseinandersetzung, Polemik vom Feinsten – wie man sich verbal einen Kriegszustand geliefert hat, das war schon so. Aber es ging auch nicht anders, es gab keine Kompromisslinie in der Weise."

Panzer - zweireihige Fahrt durchs Dorf

Christian Gilde sitzt in einem Café am Marktplatz in Wittstock. Sechzehn Jahre lang, von 1994 bis 2010, war er Landrat im Kreis Ostprignitz-Ruppin. Zusammen mit seiner Familie wohnt er in einem kleinen Dorf am Rande des Bombodroms. Wissen Sie, sagt er, und in seinem sonnengebräunten Gesicht bilden sich Sorgenfalten, - ich erhole mich immer noch:
"Hamwa dann noch erlebt, die Russen haben ja teilweise noch Manöver in Ortsnähe gemacht und wir haben dahinter gestanden, wie die da mit Platzpatronen geballert haben im Dorf, Schützengräben gebuddelt und was nicht alles. Die Panzer haben wir erlebt, jedes Jahr zweireihig durchs Dorf gefahren, im Frühjahr und im Herbst, aber die haben natürlich ein breites Areal niedergewalzt und die Dorfstraßen konnte man hinterher auch zusammenharken, das war immer katastrophal. Aber es war Krieg, es war Übung, hautnah. Wir haben ja fünf Kinder, die sind dann immer in dem Lärm groß geworden, schlimm, gerade wenn die Tiefflieger kamen übers Dorf, sie kommen so abrupt, die anderen hört man, - so knallartig, das war schon schwer belastend."
Gilde lacht, als er die Halbstarken auf ihren Mopeds sieht. Und erinnert sich dann plötzlich an eine sehr bizarre Situation kurz vor Abzug der Russen aus Wittstock:
"Die haben mir mal eine Flugshow geschenkt, weil ick mich immer so gewundert habe und dann haben sie mich um 9.11 Uhr bestellt, wir standen da auf dem Fliegerhorst und dann haben die mir mit einer MIG29 Sachen vorgeführt – das war für die noch Pillepalle – aber für mich war das, also die Hosen haben gewackelt, wenn die Loopings bodennah gemacht haben und was nicht alles, das war irre, irre! Da hat man gemerkt, dass die das gebraucht haben."

Protestbewegung "Freie Heide"

Christian Gilde grinst schelmisch: Ich weiß, was Sie jetzt denken! Der spinnt! – es scheint, als würde er es aussprechen - "Sie denken: Warum waren Sie dann so gegen die Bundeswehr, die fliegen doch auch nur?" Gilde schüttelt den Kopf. Das kann nur verstehen, wer aus Wittstock kommt. Wie er, ein Aktivist der frühen Stunde, SPD-Mitglied, überzeugter Protestant. Als er vom Widerstand gegen die Bundeswehr erzählt, schwingt sein ganzer Körper mit. Es beschäftigt ihn bis heute. Vielleicht geht er deshalb als Rentner so gerne angeln.
"War unversöhnlich, man hat immer wieder versucht, zu erklären, dass es alles nicht so schlimm ist – da war ich schon in Ruppin Landrat. Hohe Militärs und weiß ich, dass die mich da so befeuert haben und der eine sagte dann noch, ich finde es so schlimm, dass meine evangelische Kirche, die Wanderungen waren ja immer gestartet an Kirchen, mit Andachten, und ich sagte: Wissen Sie, ich bin froh, dass meine evangelische Kirche an der Stelle die Türen offen hat, weiß ich noch ganz genau, man wollte mich da auch so moralisch unter Druck setzen, dass auch ein Landrat, ein preußischer Landrat sich so dagegenstellt, dass war für die schlimm, ganz schlimm."
Christian Gilde hat sich damals als Landrat hinter die Protestbewegung "Freie Heide" gestellt. Sie erregte bundesweit Aufsehen. Tausende demonstrierten an Ostern und Neujahr gegen die Übungstätigkeit der Bundeswehr. Über Jahre. Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus: 2009 gab die Bundeswehr ihre Pläne auf. Ein Gerichtsurteil zwang sie dazu. Bis 2020 sollen die Hinterlassenschaften des Kalten Krieges entsorgt sein. Herrscht jetzt Frieden in Wittstock?
"Ja, es war ja ein verbaler Kriegszustand, ein ziviler Kriegszustand, muss man ja sagen, aber das Thema ist für mich abgetan, und ich freue mich, dass es mit der Beräumung und alles so planmäßig weitergeht, jetzt arbeiten 150 bis 200 Leute und entsorgen die ganzen kleinen Kugelbomben, die da abgeworfen wurden, und von daher bin ich froh, dass wir das Richtige gemacht haben."

Militärisches Sperrgebiet - für Besucher geschlossen

Rainer Entrup: "Das blüht ja schon hier drin! - Ja nur ganz bescheiden, das werden Sie sehen, das ist die schlechteste Heideblüte seit Jahren, zu trocken. - Wo fahren wir hin jetzt? - In die Kyritz-Ruppiner Heide, in das ehemalige Übungsgeländer der russischen Armee, oft sagt man einfach Bombodrom, der Begriff Bombodrom ist nur ein bisschen zu kurz gesprungen, weil dieses Übungsgelände, circa 12.000 Hektar groß, hat eigentlich historisch mehrere Teile."
Einen Teil, der sicher ist. Und einen Teil, der gefährlich ist. Vermintes Gelände sozusagen. Militärisches Sperrgebiet. Wenn man den Begriff "Truppenübungsplatz Wittstock" googelt, steht dort: "Dauerhaft geschlossen". Für normale Besucher. Nicht aber für Förster Rainer Entrup in seinem staubigen Jeep.
Rainer Entrup: "Also man hat hier alles simuliert, man hat hier auch einen Nato-Flughafen in seinen Abmessungen, um dort zu üben, wie kann ich den am besten zerstören, und da fing dann auch unser Problem an, weil bei diesem Üben hat man auch Waffen eingesetzt, Streuwaffen, - die sind international geächtet, gibt das sogenannte Oslo-Abkommen, wo sich Staaten zusammengeschlossen haben, diese Waffen gibt es nicht, die werden wir ächten. Zu dem Zeitpunkt war nicht klar, dass es aus russischen Übungstätigkeiten genau solche Streuwaffen gibt."
Munitionsreste russischer Bauart, gefunden auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Wittstock
Munitionsreste russischer Bauart, gefunden auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Wittstock© Nana Brink
Entrups Jeep rumpelt über die Schlaglöcher. Rechts und links kahle Heidelandschaft. Die Trockenheit macht auch ihr zu schaffen. Hier und da ein paar lila Flecken. Junge Birkenbäume. Ein paar verkrüppelte Kiefern. 40 Jahre lang hat die Rote Armee hier geübt. Mit allem, was die Waffenarsenale an konventioneller Munition im Angebot haben. Nach dem Abzug der Russen 1994 übernimmt die Bundeswehr das Gelände. Sie muss es 2009 aufgeben. Das Areal gehört nun zum Bundesforst. Rainer Entrup ist somit nicht nur für das Heidekraut zuständig, sondern auch für das, was unter ihm schlummert.

Mit Sonden suchen Räumtrupps die Kampfmittel

Rainer Entrup: "Hier rechterhand sehen wir jetzt schon Räumungsaktivitäten, das heißt, wir sehen Container auf der Fläche. Das ist eine eingerichtete Baustelle einer Kampfmittelfirma, die haben dann natürlich, da soviel Personal eingesetzt ist, haben wir für die Arbeiter Dinge vorbehalten, Duschen, Toiletten, Unterkünfte, also das, was zu einer Baustelle dazugehört. Da sind Räumtrupps unterwegs, die mit Sonden Kampfmittel suchen, Streubomben, und dann sieht man die Markierungen auf einmal, so eine ganze Reihe, wir können da mal weiterfahren, die sind dazu da, die Räumfelder zu markieren, immer 50 mal 50 Meter groß, ein Gitternetz, auf die ganze Fläche gelegt."
Die Szenerie erinnert an einen Science-Fiction-Film. Die Erde nach dem Dritten Weltkrieg. Vereinzelt stehen verrostete Container auf einer weiten, schwarz verkohlten Fläche. Ein paar Menschen laufen gebückt und sehr langsam zwischen den Erdhaufen umher. In der Hand halten sie einen Metallstab. Das einzig Bunte sind die blauen und roten Fähnchen. Kein Grün nirgends. Es ist still.
Rainer Entrup: "Das ist eine abgebrannte Fläche, die haben wir im März dieses Jahres abgebrannt, und der Hintergrund, das sieht man sehr schön an diesen Strünken, an den verkohlten Strünken, die Männer, die hier mit den Sonden arbeiten, müssen ja ihre Sonden dicht am Boden führen, wenn man aber sieht, wie hoch die Heide eigentlich ist, fast ein halber Meter, kann man unmöglich da drin in der Heide eine Sonde führen, also muss Fläche vorbereitet werden, also wir müssen sie abbrennen."

Ein Zehntel der extrem belasteten Fläche ist "beräumt"

Seit 2016 wird intensiv an der Räumung der besonders heiklen Streumunition gemäß des Osloer Abkommens gearbeitet. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, Deutschland von diesen Waffen zu säubern. Bis 2020. Kostenpunkt: 30 bis 40 Millionen Euro. Bis jetzt ist rund ein Zehntel der extrem belasteten Fläche ‚beräumt‘ - so der Fachjargon. Wir schaffen das – sagt Förster Entrup entschlossen, greift zum Telefon und lenkt seinen Jeep einmal quer durch die bunten Fähnchen.
Rainer Entrup: "Entrup hier, Herr Rückert, sind Sie auf der Baustelle? Wunderbar, dann komme ich auf die Baustelle. Richtig, kleine Stadt, hier läuft dauerhaft ein Generator, es gibt Wasser, und das haben wir dreimal auf dem ganzen Räumgebiet, drei solche Kleinstädte. - Kundschaft! Hallo! - Guten Tag. Und dieser nervöse Herr ist der Verantwortliche. Schönen Guten Tag, Rückert, Firma Röhll."
Förster Rainer Entrup (l.) und Ingo Rückert, Baustellenleiter der Munitionsberäumungsfirma Röhll, hier in Signalweste
Förster Rainer Entrup (l.) und Ingo Rückert, Baustellenleiter der Munitionsberäumungsfirma Röhll© Nana Brink
Ein kräftiger Händedruck, und dann steht Ingo Rückert kerzengerade in seiner Signalweste. Der gelernte Feuerwerker und ehemalige NVA-Soldat leitet die Baustelle der Firma "Röhll Munitionsbergung". Hoch oben in seinem Baucontainer überblickt er die verkohlte Landschaft mit den Markierungsfähnchen. Auf seinem Schreibtisch liegt eine Karte des Geländes, wie ein Schachbrett aufgeteilt. Ich kenne jeden Zentimeter, brummt Rückert, und schnappt sich eine Sonde.
"Wir können gerne auf den Platz gehen und dann zeige ich Ihnen das. So ich schalte die Sonde jetzt an, das dauert jetzt ein paar Sekunden, die Sonde kalibriert sich jetzt und ist jetzt einsatzbereit, das sehen Sie an der Diodenzahl und sie muss mäanderförmig über den Boden geführt werden, so dicht wie möglich und dann muss irgendwo jetzt und hier muss jetzt irgendwo ein größerer Störkörper sein."
Ingo Rückert bückt sich, gräbt mit bloßen Händen in dem dunklen, verbrannten Boden und zieht nach ein paar Sekunden ein Stück Metall heraus. Groß wie eine Zigarettenschachtel.
Ingo Rückert: "Das ist ein Splitter von einer detonierten Granate und das finden wir natürlich auch. Manche Splitter sind sehr aggressiv. Ich selbst bin seit 1977 Feuerwerker, habe seit 1977 mit Munition zu tun, für diesen Fall musste ich einen Zusatzlehrgang "Warschauer Pakt Munition" durchführen. Geschult auf russische Munition. - Besser drauf als die Kollegen von der NVA? - Was heißt besser, die alten NVA-Leute müssten es eigentlich wissen, denn wir wurden ja von den Freunden beliefert!"

"Streumunition ist fies, ist wirklich fies"

Wird man zynisch, wenn man Tag für Tag die Altlasten des Kalten Krieges aus dem Boden holt? Meter für Meter. Eine Sisyphusarbeit. In Rückerts wettergegerbtem Gesicht bildet sich zögerlich ein feines Lächeln.
"Nein, ich muss meinen Job durchführen, aber ich darf nicht vergessen, es handelt sich um Kriegsmunition, darf ich nicht vergessen. Streumunition ist fies, ist wirklich fies und als Firma legen wir sehr viel Wert auf Sicherheit, in jedem Bauwagen hängen Bilder, Jungs, wenn ihr so was findet, bitte nicht anfassen, holt den verantwortlichen Feuerwerker ran. Zwei Zentimeterbomben sind manchmal gefährlicher als eine 200-Kilo-Bombe – weil Sie die sehen, Sie können sie beschreiben, alles ist klar, aber diese kleinen Dinger: lebensgefährlich."
Deshalb fährt Förster Rainer Entrup auch nur auf markierten Wegen. Oder solchen, von denen er weiß, sie sind ungefährlich. Wie alle der 120 Mitarbeiter auf der "Baustelle". Irgendwie unpassend der Begriff. Es wird ja nichts gebaut, sondern vernichtet. Die kleinen tennisballgroßen Streubomben werden an Ort und Stelle gesprengt. Die größeren werden gesammelt und an den Kampfmittelräumdienst des Landes Brandenburg übergeben. Bislang hat es keinen Unfall gegeben. Aber wofür der ganze Aufwand? – Entrup stoppt seinen Jeep. Und läuft ins Heidekraut:
"Die Heide ist ja kein Selbstzweck ... und ich muss diesen seltenen Lebensraum Heide schützen und damit schütze ich automatisch im Kielwasser die Arten, die an der Heide hängen: Bienen und Schmetterlinge und Wiedehopfe, die hängen an dem System Heide."

"Für Geschichte interessieren wir uns schon immer in Wittstock"

Jedes Jahr im Herbst spazieren die Wittstocker durch ihre Stadtgeschichte. Entlang der Stadtmauer stellen Laien-Schauspieler wichtige Szenen aus der kriegerischen Vergangenheit nach. Ein Volksfest. 3.000 Besucher strömen durch die Stadt, die knapp 15.000 Einwohner hat.
"Weil wir Wittstocker sind. Die Stadtgeschichte, die kennen wir ja, mit der sind wir aufgewachsen, nicht nur Kriegsgeschichte, weshalb sollte es nur Kriegsgeschichte sein? – Wegen des 30-jährigen Kriegs? - Ja das natürlich auch, aber nicht nur, - weil es Geschichte ist und für Geschichte interessieren wir uns schon immer in Wittstock."
Allerdings hat sich ein Ereignis besonders eingeprägt ins kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner.
"Wir haben ja auch über den 30-jährigen Krieg ganz viel, einmal das einzige Museum in Deutschland, was über den 30-jährigen Krieg zeigt und ausgestellt hat, und dann haben wir die große Plattform hier am Scharfenberg, wo die große Schlacht 1636 stattgefunden hat. Das ist schon immer interessant alles."

Ein Betonklotz auf historischem Boden

Die Plattform war in früheren Zeiten ein alter Hochwasserspeicher. Wie eine Trutzburg erhebt sie sich in der flachen Ackerlandschaft. Bunte Fahnen wehen auf ihrem Dach. Der Betonklotz steht sozusagen auf historischem Boden. Ganz in der Nähe wurde vor rund zehn Jahren das erste Massengrab des 30jährigen Krieges entdeckt. Die Funde werden hier in einer Ausstellung dokumentiert. Am Eingang der Zisterne steht Sabine Eickhoff, Archäologin und Projektleiterin der Ausgrabungsstätte am Scharfenberg:
"Und das ist wirklich ein sehr faszinierendes Gebäude, weil man geht durch einen kleinen Tunnel hinein und im Gebäude geht man über eine runde Treppe nach unten, der Durchmesser des Gebäudes ist etwa 25 Meter, ich bin vorher nie in so einem Raum gewesen, ist schon ganz toll, dass es für die Ausstellung zur Verfügung steht."
Schon von oben sieht man ein Heer aus roten Holzfiguren. Ihre Silhouetten erinnern an die Soldaten von damals. Sie sind gesichtslos, tragen Aufschriften auf ihrer Brust: Hoffnung, Zweifel, Leid. An den Betonwänden der Zisterne hängen Tafeln mit den wichtigsten Daten der Schlacht. Die rote Holzarmee ist wie ein Labyrinth. An dessen Ende begegnet man - Fergus.

Söldner aus dem 17. Jahrhundert geborgen

Sabine Eickhoff: "Genau! Wir wissen ja, dass sehr viel Schotten im Grab sind und haben dann recherchiert nach Namen, die es im 17. Jahrhundert gab und haben uns dann entschieden, einen schottischen Söldner, den wir geborgen haben mit dem Nummer 70, diesen Namen Fergus zu geben, und wir haben ihm ja nicht nur einen Namen gegeben, sondern haben über Wissenschaftlerinnen der Potsdamer Rechtsmedizin eine Gesichtsrekonstruktion anfertigen lassen, die sehr lebensnah und sehr echt ist und die Proportionen dieses Menschen hat und das alles zusammen, also diese Gesichtsrekonstruktion, eine Puppe, groß wie Fergus, - doch er sah ganz gut aus, natürlich durch die Geschehnisse ein bisschen ausgemergelt, auch seine Gesichtshaut haben wir nicht so rosig dargestellt, weil Fergus doch seit seiner Kindheit etliche Krankheiten hatte, wir haben ihm rote Haare gegeben, aber strahlend blaue Augen."
Das Grab, in dem sein Skelett vor rund zehn Jahren gefunden wird, ist eine Sensation. Soldaten – militärisch in Reih und Glied, Freund und Feind nebeneinander – fanden hier ihre letzte Ruhe. Die Archäologin Sabine Eickhoff war elektrisiert. Wer sind diese Männer? Woher kommen sie? Wie sind sie gestorben? Eickhoff und ihr Team finden Antworten. Fergus ist nicht viel älter als zwanzig Jahre. Seine Kindheit ist von Hunger geprägt. Die Märsche als Söldner haben seine Knochen geschunden. Sogar die letzten Stunden von Fergus können sie rekonstruieren: Kugel im Oberarm, Stich in die Kehle, überrollt von einem Wagen. Aber es ist mehr, was Sabine Eickhoff bis heute beschäftigt:
"Als Archäologe oder auch die Antrophologen sind es gewohnt, mit Knochen umzugehen, in diesem Falle ist es aber so, dass die Vielzahl an Knochen, - also einen einzelnen Schädel anzufassen, das hat man schon so oft gemacht – aber da ist dann eher die wissenschaftliche Neugier da, als es einen wirklich berührt. Anders war es, als die ganze Skelettlage frei gelegt war und man wirklich 35 Skelette auf einmal gesehen hat, ein Massengrab, und dieser Name Massengrab, das ist etwas ganz anderes, als wenn ich einfach nur sage: Bestattung. Bei einem Massengrab ist es ja fast immer so, dass dort Leute – ich sag es mal ganz überspitzt – weggeworfen worden sind. Also allein dieser Begriff Massengrab – natürlich etwas mit einem macht und doch negative, bedrückende Gefühle aufkommen lässt."

Ein Jüngling als Kanonenfutter

Trotz strahlender Augen blickt Fergus seltsam in sich gekehrt auf die Besucher. Ein blasser Jüngling. Kanonenfutter. Wie Hunderttausend andere in diesem Krieg, den Historiker den ersten europäischen nennen. "Viel, was unsere Zeit ausmacht, entsteht damals", schreibt Daniel Kehlmann in seinem jüngsten Roman "Tyll", der mit seiner Geschichte aus dem 30-jährigen Krieg lange die Bestsellerlisten dominiert. Was fasziniert an dieser Zeit, die 400 Jahre zurück liegt?
Sabine Eickhoff: "Also ich finde schon, dass man darüber berichten muss, denn es ist ja nicht so, dass es im 30jährigen Krieg die letzten Massengräber gegeben hat, gerade im 20. Jahrhundert, im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, oder auch im Balkan-Krieg in den 90er Jahren, das ist gerade mal 20 Jahre, die vergangen sind, hatte es immer wieder Situationen gegeben, wo Menschen, die umgebracht worden sind, einfach auf diese Art und Weise beseitigt worden sind, und ich empfinde das als ein ganz schlimmes Verbrechen, weil es den Menschen ihre Würde nimmt und insbesondere wenn es Soldaten sind, die ja sogar für etwas gekämpft haben, für ein Vaterland oder einen Fürsten oder eine Bevölkerung, und diese Würdelosigkeit finde ich – da muss man gegen angehen und da hat die Aufarbeitung auch von älteren Massengräbern einen sehr hohen Stellenwert, eine hohe Bedeutung."
In Wittstock hat man mehr als anderswo darüber nachgedacht: Warum soll uns der Krieg interessieren? Vor allem einer, der vor 400 Jahre begonnen hat? In der Bischofsburg – einem imposanten Backsteinturm an der Stadtmauer - steht das einzige Museum des 30-jährigen Krieges in Deutschland. Vor genau 20 Jahren wurde es eröffnet. Gleich am Eingang begegnet einem Fergus wieder - und die roten Holz-Kameraden.
"Ja, natürlich, Geschichte hat immer mit uns zu tun – damals war es vordergründig ein Glaubenskrieg, zwar nicht nur, aber da ging es um Katholiken, Evangelische, und jetze, wo sind wir jetzt?"

Suche nach Parallelen zum eigenen Alltag

Antje Zeiger, Museumsleiterin: "Man guckt immer nach Parallelen zum eigenen Alltag, und das ist der Zugang, den wir vielen unserer Besucher auch bieten, die dadurch auch vergleichend durch die Ausstellung gehen, wie geht es ihnen heute und wie ging‘s den Menschen damals, wenn man an die hohe Anzahl von Todesopfern im Verlauf des 30-jährigen Krieges denkt, nicht durch gewalttätige Exzesse, sondern ganz einfach durch Krankheiten, die wir heute locker in der Lage sind einzudämmen, und da versterben in Wittstock 70 Prozent der Einwohner innerhalb von sechs Monaten, wenn man das auf die heutige Zeiten projiziert, dann steht man einfach fassungslos davor."
Antje Zeiger – gebürtige Wittstockerin – leitet das Museum schon seit vielen Jahren. Geerbt hat es sie von ihrem Vater Konrad Dost. Familientradition im Dienste der Geschichte. Treppauf treppab läuft sie durch das Museum wie durch ihr Wohnzimmer. Vorbei an Schautafeln, Vitrinen mit alten Waffen und der ersten illustrierten Originalausgabe des "Abenteuerlichen Simplicissimus". Auch Schillers "Wallenstein" darf nicht fehlen.
"Das ist den meisten gar nicht so bewusst, dass sie den 30-jährigen Krieg permanent im Munde führen, wenn man es so will, - Lunte riechen, Pulverpfanne geben, die Lunte am Brennen halten, von der Pike auf lernen, daran erkenne ich meine Pappenheimer, ein Zitat, was Schiller seinen Wallenstein sagen lässt, das auch heute als geflügeltes Wort gilt."
Die Pappenheimer waren eine Elitetruppe – würde man heute sagen – in den gleichen Uniformen, so dass man sie weithin auf dem Schlachtfeld erkannte. Berüchtigt für ihre Effizienz und Grausamkeit. Im Gästebuch des Museums findet sich die Anmerkung eines Schülers: "Die könnten auch in einem Video des IS performen". – Also lernen die Menschen nicht aus der Geschichte?
"Welche meinen Sie jetzt? Gute Frage? Die aus dem 30jährigen Krieg? Wenn Sie jetzt besonders auf Gewalttaten abzielen oder auf wirtschaftliche Einbußen oder auf getötete, dann ist das sicherlich richtig, dann findet man überall Spuren."

Frieden - ein schwieriges Thema in Wittstock

Mit ein paar Treppenabsätzen überwindet Antje Zeiger 300 Jahre Geschichte und öffnet die Tür zu den eigentlich unzugänglichen Archivräumen des Museums. Hier stehen die Stücke für die nächste Ausstellung zum Thema Kriegsgeschichte in Wittstock.
"Also das wird das Soldatenkino, Auszüge aus dem Film 'MIG29 über Deutschland' geben, Lebenssituation der Soldaten nachgestellt."
"Wir haben zwei sehr eng mit der Regionalgeschichte verbundene Ereignisse, das ist der 30-jährige Krieg mit der Schlacht, und wir haben die Phase des Kalten Krieges, die ist mit der Präsenz der sowjetischen Armee hier verortet, und dann kann man sich die Phasen nach den Ereignissen anschauen, das ist nach dem 30-jährigen Krieg schwieriger, aber hier entwickelt sich ja dann eine Bürgerbewegung und dann wird die Geschichte auch noch mal spannend, eigentlich ist das Militär fast weg, aber eigentlich haben wir auch keine befriedete Situation gehabt."
Das mit dem Frieden scheint ein schwieriges Thema in Wittstock zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtet die sowjetische Luftwaffe hier nahe der Stadt einen ihrer größten Übungsplätze ein, das sogenannte Bombodrom. Zurückgeblieben ist ein Tor mit dem Roten Stern. Ein Schild mit der Aufschrift Kantine. Und riesige Plakate mit kyrillischen Buchstaben.
"Bilder, die den Soldaten – fast wie in einem Comic – erklären, wie sie die Waffen zu reinigen haben oder die Schuhe zu reparieren, Schritt für Schritt schön farbig erklärt."

Die Geschichte geht weiter - ohne Krieg

Ein nicht ganz scharfes Schwarz-Weiß-Foto auf einer Wandtafel zeigt den Besuch eines Sowjet-Kommandeurs auf dem Generalshügel. Er steht an der Stelle, wo heute ein Pfirsichbaum aus den Fensterrahmen des Kommandostands wächst, - den Blick aufs Feld gerichtet. Unnahbar.
"Das gibst also die Durchfahrt von Panzer durch die Dörfer in den 80er Jahren, dass die Leute dann anfragen, ob denn der Dritte Weltkrieg ausgebrochen sei, sie konnten sich das nicht erklären. Das, was 1945 gefolgt ist, war ja durchaus im Verborgenen, strenge militärische Geheimhaltung, so dass sich die Leute mit großem Interesse immer noch diesem Thema annähern."
Christian Gilde, lange Jahre Landrat im Kreis Ostprignitz-Ruppin, hat seinen Frieden gemacht mit dem Bombodrom, dem ehemaligen Übungsplatz der sowjetischen Luftwaffe in Wittstock. Genüsslich schlürft er ein Glas Wein in seinem Lieblings-Café am Marktplatz. Die Geschichte geht weiter. Ohne Krieg.
"Wir wollten es nicht mehr, ganz einfach, für uns gab es auch ganz klar wirtschaftliche Themen, das wir sagen, dass grenzt ja an unser touristischen Kerngebiet, Rheinsberg, Zechlin und das waren auch Gründe, weshalb die Leute hier auch in der Auseinandersetzung, in der Spaltung, im Kalten Krieg, ganz ganz viel aushalten mussten, und dann ham wa gesagt: jetzt ist genug, das wollen wir nicht mehr, wir und unsere Kinder, und wir wollen auch eine andere wirtschaftliche Entwicklung."
Rainer Entrup: "Bombentrichter und Raketeneinschläge hier in diesem Gebiet ganz viele. - Wir fahren jetzt wohin? - Jetzt kommen wir noch mal in den Bereich, da werden die gefundenen Dinge zwischengelagert, bis zur Übergabe an den Kampfmittelräumdienst des Landes Brandenburg."

Zwischen den Bombentrichtern wächst Heidekraut

Fast jeden Tag kurvt Rainer Entrup vom Bundesforstbetrieb Westbrandenburg mit seinem Jeep durch das Militärische Sperrgebiet. Zwischen den Bombentrichtern wächst Heidekraut. Wie sieht nun die friedliche Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide aus, für die viele Anwohner so lange gekämpft haben? Allerdings: nicht alle. Auf dem Schrottplatz stapelt Jörg Rahn leere Raketenhüllen und Granatsplitter. Er kommt aus dem Dorf Grabow, jenseits der Absperrung.
"Weil man sich dran jewöhnt hat, jetze ist schon ruhiger. - Hätten Sie gerne gehabt, dass die Bundeswehr das übernimmt? - Ja! Dann wäre es sinnvoll genutzt worden! Von der Sache jetzt, die Kosten, die jetzt hier entstehen, die wären jetzt nicht entstanden, wenn die Bundeswehr übernommen hätte, wäre die Nutzung gewesen für nen Übungsplatz, und wäre nicht frei geworden, wat es jetzt ja ooch nicht ist, wir räumen und räumen und räumen und wird ja doch nicht freigegeben. Ick kann doch sowieso hier nicht spazieren gehen."
"Nein, das wird nicht frei gegeben, weil wir nur bis 30 Zentimeter räumen, also die Fläche ist nicht kampfmittelfrei im Sinne öffentlicher Nutzbarkeit, sondern nur die Streuwaffen auf 30 Zentimeter Tiefe beräumt, alles andere, was tiefer liegt, und uns kein Signal gibt, wird nicht beräumt."
Es scheint, als ob Wittstock sein Kriegserbe nicht loswird. Mehrere tausend Hektar werden für normale Besucher weiterhin unzugänglich bleiben. ‚Lebensgefahr! Kampfmittel! Betreten und Befahren verboten‘, warnen die Schilder am Rande. Immerhin: Ein 13 Kilometer langer Weg ist für den Tourismus freigegeben worden. Zum Wandern, Reiten, Radfahren. Erholung im Sperrgebiet. Mit Blick auf die größte zusammenhängende Heidelandschaft in Europa.

Die natürliche Vegetation: vernichtet

"Menschgemachte Landschaft, hier durch militärische Nutzung, sprich Übernutzung, sprich die natürliche Vegetation hat man vernichtet, damit hat man auch den Oberboden vernichtet, den Humus, der auf diesen armen Böden eine riesige Rolle spielt, der einzige Träger der Fruchtbarkeit und durch Panzerkette und Feuer ist das nun auch vernichtet worden nach 40 Jahren, und nur auf diesem Rohboden ist die Heide konkurrenzfähig. Sie ist eine Pionierpflanze, absolut, sie kann als erste siedeln, ist überlebensfähig, kommt mit wenig Wasser aus, schafft das alles."
Damit sie es auch weiterhin schafft, hilft der Mensch wieder mal nach. Und das sieht nicht immer friedlich aus in Wittstock.
"Das ist das berühmte Kalte Feuer, was wir immer im Februar, März machen, sonst machen wir es aus Naturschutzgründen, um die Heide zu erhalten, das sieht man auch hier sehr schön, wie die Heide es auch in diesem trockenem Jahr es wieder geschafft hat, zu wachsen, fast 10, 20 Zentimeter. Und die Vitalität dieser jungen Pflanzen nach dem Brand ist sehr, sehr groß."
Langsam gewöhnt sich das Auge an die verkohlten Baumstümpfe und die schwarze Erde zwischen den lila blühenden Heidebüschen. Irgendwie passt die Heide zu Wittstock. Manchmal muss eben Heide über die Geschichte wachsen.
"Man hört hier Ruhe, man kann hier Ruhe hören, oder Stille ... an vielen Tagen so, dass man keine Störgeräusche hat und durch die Weite der Landschaft verstärkt sich dieser Eindruck noch ... interessant, viele empfinden das als eintönig, Birke, Kiefer, Heidekraut, das war‘s, keine Wiese, kein Bach, kein belebter Waldrand und trotzdem, allein durch das sich ändernde Wetter, morgens ein anderes Licht als am Abend – toll, wenn man dann noch mal einen Wolf sieht, habe ich schon gesehen, letztes Jahr habe ich zwei Wölfe gesehen, beeindruckendes Bild, weil die schweben förmlich durch die Heide!"
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