Wissenschaftlerin Kerstin Maria Pahl

Unzufriedenheit kann ein Gemeinschaftsgefühl stiften

07:43 Minuten
Demonstranten tragen Plakate mit Fäusten
Unzufriedenheit ist nicht per se anti-liberal, sagt Kerstin Maria Pahl vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. © imago / Ikon Images
Kerstin Maria Pahl im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 25.09.2019
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Vor allem im Osten Deutschlands fühlen sich viele Menschen weiter als Bürger zweiter Klasse. Doch Unzufriedenheit muss nicht negativ sein. Im Gegenteil, sagt die Wissenschaftlerin Kerstin Maria Pahl: Unzufriedene hätten noch nicht resigniert.
Liliane von Billerbeck: Frau Pahl, Sie forschen vor allem zu negativen Gefühlen. Woher schöpft sich diese Unzufriedenheit, die es nicht nur im Osten der Republik gibt und die sich viele nicht erklären können?
Pahl: Ich würde zunächst sagen, gerade, wenn Sie das Wort Unzufriedenheit aufbringen: Das ist erst mal eine Artikulation von Missständen, ein Beklagen von Missständen. Unfrieden, Unzufriedenheit sagt ja schon, da ist keine Ruhe, etwas ist unausgeglichen, nicht in der Balance, und Unzufriedenheit, würde ich erst mal sagen, ist der Ausdruck eines Wunsches nach Veränderung.

Negative Gefühle trotz guter Wirtschaftslage

von Billerbeck: Ist es da überhaupt wichtig, ob diese Gefühlslagen legitim sind, oder geht es vielmehr darum, wie umgegangen wird mit diesem Gefühl, wenn viele Leute in dieser Negativität auch auf die Demokratie schauen?
Pahl: Man spricht zunächst auch häufig von einer gefühlten Unzufriedenheit, die auch gerne im Gegensatz gesehen wird zur wirtschaftlichen Lage, und dass damit dann gesagt wird, diese Unzufriedenheit sei im Grunde eben nicht legitim, weil die Zahlen etwas anderes sagen. Nun ist es sehr schwer, ein Gefühl als nicht legitim abzutun, denn das ist ja erst mal da und wird so empfunden. Ich würde auch sagen, dass, wenn man zum Beispiel die Wirtschaftsdaten nimmt, dann lassen sich Gefühle und Wirtschaftsdaten nicht als Gegensätze sehen, das eine ist so und das andere ist empfunden. Sondern es artikulieren sich eher unterschiedliche Sichtweisen auf eine derzeitige Lage.
Und gerade, weil Sie sagen, negatives Gefühl – das klingt zwar erst mal so, unzufrieden, ich würde aber dennoch sagen, dass Unzufriedenheit durchaus auch sagt: Ich bin nicht resigniert, mir liegt etwas daran, ich wünsche mir, dass es in der Zukunft besser geht. Das heißt, es sagt nicht nur etwas über Vergangenheit und Gegenwart, sondern projiziert auch etwas in die Zukunft.

Zufrieden sein über die Unzufriedenen

von Billerbeck: Das heißt, wir müssten eigentlich zufrieden sein, wenn es noch ein paar Leute gibt, die unzufrieden sind?
Pahl: Das könnte man dialektisch ungefähr so sagen. Das wäre auf jeden Fall nicht verkehrt, weil in der Unzufriedenheit durchaus auch der Glaube an Veränderung vorhanden ist. Und insofern ist, Unzufriedenheit per se als illegitim abzutun, bestimmt nicht der Weisheit letzter Schluss, weil dort durchaus etwas verborgen sein kann oder etwas sichtbar gemacht wird, was dann tatsächlich zu einer Veränderung führen kann.
von Billerbeck: Welchen Einfluss hat denn umgekehrt die Gesellschaft auf dieses subjektive Empfinden negativer Gefühle?
Pahl: Wir würden immer natürlich sagen, Subjekt und Gesellschaft befinden sich in einem permanenten Aushandlungsprozess, in einer Interaktion, und natürlich agiert das Individuum Gefühle aus, auch zum Beispiel Gefühle der persönlichen Kränkung, der persönlichen Unzufriedenheit. Das ist erst mal eine persönliche Äußerung. Aber in dem Moment, in dem sie geäußert ist, das ist ja auch schon im Wort, veräußert, sie ist nach außen getragen, wirkt sie natürlich in die Allgemeinheit und von dort auch durchaus wieder auf das Individuum zurück.
Wir sprechen da von einem Feedback-Loop. Das heißt, die Gefühle ändern sich auch dadurch, dass man sie sichtbar macht, dass man sie ausagiert, dass man sie in der Öffentlichkeit überhaupt zeigt.

Unzufriedenheit als Gemeinschaftsgefühl, das zufrieden macht

von Billerbeck: Interessant ist ja oft auch, dass zwar die großen Daten vielleicht negativ sind, aber wenn man die Leute nach ihren persönlichen Lebensumständen fragt, dann sagen sie: Mir geht es eigentlich gut. Könnte man sagen, dass negative Gefühle auch Ergebnis von Manipulationen und Instrumentalisierungen sind?
Pahl: Das kann durchaus sein. Instrumentalisierung insbesondere durch die verschiedenen Medien, die heute auch in Wettbewerben miteinander stehen oder in denen sich verschiedene Personen äußern können - da kann es natürlich zu Manipulationen kommen, die ein gesteuertes Gefühl bewirken. Da spielt wieder dieser Zusammenhang zwischen Subjekt und der Gemeinschaft eine große Rolle. Wenn die Personen über sich sagen, sie sind persönlich im Grunde zufrieden, aber aus irgendeinem Grund schließen sie sich dann trotzdem zu großen Unzufriedenen zusammen, dann kann das natürlich das Ergebnis solcher Instrumentalisierungen oder Einflüsse von außen sein.
Es kann aber natürlich auch daraus resultieren, dass die Unzufriedenheit paradoxerweise ein Gemeinschaftsgefühl stiftet, das die Zufriedenheit nicht stiftet. Man findet sich wieder in einer Gruppe, in einer Gemeinschaft, die man vorher nicht hatte.

Skepsis gegenüber der Demokratie ist etwas anderes

von Billerbeck: Das heißt, die Unzufriedenen macht dann auch zufrieden. Nun haben Sie lange in Großbritannien gelebt. Wir sagen immer, wir Deutschen seien die großen Nörgler. Aber ist es nicht so, dass die Skepsis gegenüber der gegenwärtigen Demokratie nicht längst essentieller Bestandteil in allen westlichen Demokratien ist?
Pahl: Sie ist auf jeden Fall in verschiedenen Ländern vorhanden. Ich würde grundsätzlich unterscheiden zwischen der Äußerung von Unzufriedenheit und der Skepsis gegenüber der Demokratie. Wenn Sie vorhin sagten, dass sich eine Mehrzahl der Ostdeutschen nach wie vor als Bürger zweiter Klasse fühlt, dann ist damit ja noch erst mal keine Aussage darüber verbunden, wie daraus die Zukunft gestaltet werden soll. Also sollen die anderen auch mit in die zweite Klasse kommen, oder möchten diese Leute lieber aufsteigen in die erste Klasse?

Auseinanderklaffen von verschiedenen Gruppen

Das heißt, die Unzufriedenheit ist per se nicht anti-liberal gerichtet. Es ist in Großbritannien so, und da gibt es durchaus Parallelen zu Deutschland, dass es Disparitäten gibt, also ein Auseinanderklaffen von verschiedenen Gruppen, Zufriedene und Unzufriedene, die zum Teil geografisch bestimmt sind. Da ist zum Beispiel das Stadt-Land-Auseinanderklaffen, es kann aber auch mit Generationen zu tun haben. Zum Beispiel Jüngere und Ältere, es können prekäre Verhältnisse oder weniger prekäre Verhältnisse sein. Und das hat in Großbritannien natürlich eine große Rolle gespielt, das Auseinanderklaffen der Metropole vom umliegenden Land.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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