Wissenschaft

"Unnütze Studien viel konsequenter verhindern"

Gerd Antes im Gespräch mit Ute Timm · 08.01.2014
In London wird zurzeit die Verbesserung der Gesundheitsforschung diskutiert. Dass der gesamte wissenschaftliche Kreislauf fehlerhaft sei, treffe in der Medizin am Ende die Patienten, kritisiert der Medizininformatiker Gerd Antes.
Ulrike Timm: Ob es um den Wert der Mammographie geht, um den Salzkonsum oder die Wirksamkeit von Arzneien – es gibt Studien, Studien, Studien. Allerdings, nur die Hälfte der Ergebnisse werden bislang tatsächlich veröffentlicht. Wenn nun ein Hersteller, der nachweisen wollte, dass getrockneter Erdbeerextrakt Speiseröhrenkrebs eindämmt, seine Studie im Sande verlaufen lässt, weil nichts dabei herauskommt, dann ist das vielleicht nicht wirklich schlimm. Wenn aber, wie derzeit, nur die Hälfte aller Daten, die aus Studien gewonnen werden, veröffentlicht werden, eben weil zum Beispiel ein Ergebnis nicht so geworden ist, wie man es sich erhofft hatte, dann können fehlende Daten für den Patienten und die Medizin auch verhängnisvoll sein. Eben weil eine Behandlung nicht auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Informationen stattfindet.
Wie Gesundheitsforschung nützlicher werden könnte, damit beschäftigt sich seit Langem Gerd Antes vom Cochrane-Institut in Freiburg. Das ist ein Institut, das sich zum Ziel gesetzt hat, Forschungsergebnisse sozusagen einem objektiven Test zu unterziehen. Schönen guten Morgen, Herr Antes!
Gerd Antes: Schönen guten Morgen!
Timm: Nun hat das EU-Parlament und die Kommission gerade eine Pflicht zur Veröffentlichung klinischer Studien beschlossen. Ist damit alles gut?
Antes: Keinesfalls. Die Amerikaner haben ein entsprechendes Gesetz bereits seit 2007, und geändert hat das schon einiges, aber lange nicht so weitgehend, wie man es eigentlich erhoffen und erwarten würde. Und der Grund ist ganz einfach, dass die Sanktionen, die man anwenden könnte, nicht anwendet.
Timm: Können Sie uns dafür mal ein Beispiel geben?
Antes: Insgesamt ist es so, dass wir – das bekannteste Beispiel gegenwärtig ist Tamiflu. Gerade jetzt haben wir wieder Grippe, und die nächste Pandemie kommt bestimmt, wenn man Politik und Medien glauben darf. Und bei Tamiflu ist es wirklich gegenwärtig das markanteste Beispiel, wo immer noch 60 bis 70 Prozent der Studien, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gemacht worden sind, nicht publiziert worden sind. Und gleichzeitig bestellen die Parlamente im dreistelligen Millionenbereich dieses Medikament, um zu bunkern, falls eine Pandemie kommt. Und man kann ganz einfach festhalten, man muss es festhalten: Es gibt Riesenlücken, was die mögliche Wirksamkeit und auch Nebenwirkungen angeht.
Timm: Wir erreichen Sie, Herr Antes, auf einer Tagung in London, wo eine ganze Reihe von Fachwissenschaftlern diskutiert, wie Gesundheitsforschung sinnvoller betrieben werden könnte. Veröffentlicht wird das dann im "Lancet Report", das ist eine der bedeutendsten medizinischen Veröffentlichungsquellen. Was sind denn die Hauptforderungen bei Ihnen?
Antes: Also, der gesamte Zyklus – Planung von Forschung, dann Durchführung, Publikation, wie publiziert wird – ist fehlerhafter, als der Laie es von der Wissenschaft wahrscheinlich erwartet. Das ist in der ganzen Wissenschaft so. An vielen Stellen ist es, wie gesagt, jedenfalls dann nur Geldverschwendung. In der Medizin trifft es unmittelbar die Patienten. Und die Forderung ist, jeden einzelnen dieser Schritte wirklich substanziell zu verbessern. Und wir wissen an vielen Stellen, woran es liegt. Wir haben oft Strukturmängel. Schon die banale Forderung, zum Beispiel bei Beginn der Studie das einfach irgendwo festzuhalten, dieser Studie ein Geburtsurkunde zu verpassen, ist auch in Deutschland, 2011 noch wieder, bei der letzten Gesetzesnovellierung im Arzneimittelgesetz schlichtweg "vergessen" worden, obwohl es dazu sogar zwei Bundestagsanhörungen gab.
Timm: Nun gibt es natürlich auch so was wie eine Mund-zu-Mund-Beatmung von Wissenschaft, Wissenschaftsbetrieb und Fachzeitschriften. Es wird zum Beispiel heute in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" auch kritisiert: Der Nobelpreisträger Randy Shankman veröffentlicht in solchen Fachzeitschriften auch nicht mehr, weil er meint, dass sie selber dazu beitragen, dass es doch eine Menge Müll gibt und weniger Qualität. Beißt sich da die Katze nicht bis zu einem gewissen Grad auch in den Schwanz?
Mischung aus Gleichgültigkeit, Ignoranz und Lobbyismus
Antes: Ja, und zwar mit aller Kraft. Also auch das "Lancet", was jetzt diese Veranstaltung hier durchführt und die Artikel publiziert hat, ist eigentlich Teil des Übels. Die Achse des Bösen geht wirklich über alles hinweg. Von Ethikkommissionen bis hin zu den Parlamenten, und eigentlich wissen wir das alles seit zehn, fünfzehn Jahren. Wir haben sehr viel empirische Forschung, die gut belegt, wo es hapert. Nur, wenn dann in einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Ignoranz, aber auch sehr stark Lobbyismus, Dinge verändert werden, teilweise wirklich einfache Dinge, oder nicht entsprechend finanziert werden, dann sehen wir also nicht die Änderungen, die wir uns wünschen würden. Die Zeitschriften, gerade die großen Verlage, Elsevier und – also die ganz großen Verlage, die alle sich in den englischsprachigen Ländern befinden, haben Riesenumsätze – Springer könnte man auch dazuzählen – und sind auf jeden Fall Teil des Übels.
Timm: Also auch der "Lancet" ist dann nicht sakrosankt, wenn er heute versucht, das Übel anzuprangern, was ja eine gute Tat ist, zweifellos.
Antes: Ja, da muss man es wieder relativ sehen. Also, "Lancet" hat schon 1997 zum Beispiel gefordert, dass bei Beginn einer Studie das Studienprotokoll dort hinterlegt wird, damit klar wird, was überhaupt geplant ist. Es ist heute weiterhin so, dass auch die größte gegenwärtig laufende Studie in Deutschland – gibt das Protokoll nicht preis. Das wird auch in Deutschland – heute – als Geheimnummer gehandelt, und Medien und andere Wissenschaftler kommen nicht daran heran.
Timm: Nun sind Sie ja Direktor eines Instituts, ich sag mal für Laien, das ist so eine Art "Stiftung Warentest" der Wissenschaft. Das Cochrane-Institut versucht, Forschungsergebnisse einem objektiven Test zu unterziehen. Nun lese ich heute, 85 Prozent der medizinischen Studien seien unnötig. Die Zahl ist natürlich eine Steilvorlage, ob sie stimmt, vielleicht ist das auch noch eine Nachprüfung wert. Denn naturwissenschaftliche Forschung, die ergebnisoffen forscht, kann ja auch scheitern, das ist ja normal. Wie finden Sie denn da die Straße zwischen der Hybris auf der einen wie der anderen Seite. Zwischen der Forschung, die uns Ergebnisse präsentiert oder auch nicht präsentiert, weil sie vielleicht keinen finanziellen Interessen genügen, und der Wissenschaftspublikation, die sagt, alles schlecht, wir müssen alles anders machen, aber selbst Teil des Systems ist?
Antes: Das ist eine Gradwanderung, das ist völlig klar. Noch einmal zu den negativen Ergebnissen: Natürlich ist die Forderung nicht, dass das schlecht ist, nicht zu publizieren. Die Forderung ist gegenwärtig gerade das Gegenteil. Gerade, weil Forschung ja so angelegt ist, dass es Irrwege geben muss, müssen auch die Irrwege beschrieben werden, damit sie nicht wiederholt werden. Das ist gerade in der Medizin auch wieder besonders dramatisch, weil Sie ja schlimmstenfalls Patienten in eine Studie treiben, die woanders schon gescheitert ist. Die Beispiele haben wir.
Und auf der anderen Seite haben Sie die Hybris des Wissenschaftssystems, die glaubt, das wird sich alles so zurecht laufen, und das ist auch wirklich ein wesentlicher Punkt. Also das, was hier gerade passiert in London, heute, ist auch eine Selbstbespiegelung und eine sehr scharfe Selbstkritik von dem kritischen Teil der Wissenschaft in der Medizin weltweit. Und das muss ernst genommen werden, und in Deutschland haben wir natürlich darüber hinaus ein wesentliches Problem darin, dass wir uns an diesen Arbeiten nicht beteiligen. Also die ganzen "Lancet"-Arbeiten haben nicht einen einzigen deutschen Autor.
Timm: Wir sprechen mit Gerd Antes. Sein Fachgebiet ist die medizinische Informatik und er ist Direktor des Cochrane-Institutes in Freiburg. Herr Antes, ein Hauptkritikpunkt ist, medizinische Forschung kostet unendlich viel Geld. Das liegt auch in der Natur der Sache, aber es würde auch unendlich viel verschwendet. Wann und wie genau wird denn verschwendet?
"Die halbe Wahrheit wird nicht publiziert"
Antes: Es gibt viele Studien, die gemacht werden, obwohl sie in identischer Form schon mal gemacht worden sind, weil man einfach nicht davon weiß. Dafür haben wir unzählige Beispiele. Dann wird, während Studien gemacht werden, sehr viel falsch gemacht. Es gibt viele Studien, die viel zu klein sind. Die sollte man von vornherein schlichtweg unterlassen. Gut, und dann kommt zum Schluss, wie schon angesprochen, die halbe Wahrheit wird nicht publiziert. Dadurch hat man natürlich einmal von vornherein 50 Prozent der Forschung umsonst gemacht, also, was nicht publiziert wird, ist nicht passiert. Zweitens, und der Schaden ist natürlich noch größer.
Das, was publiziert wird, gibt ein krass überoptimistisches Bild, und die Folgewirkungen davon sind natürlich Schäden, die man kaum in Geld bemessen kann, nämlich auch auf menschlicher Ebene. Und, last not least, das, was publiziert wird – in der Politik nennt man das Spin – hat immer die Tendenz, die Dinge zu schönen. Also die Zahlen sind oft weit entfernt von dem, was ganz zum Schluss in der verbalen Schlussfolgerung der Autoren steht. Und wenn man das alles zusammenzählt, dann kommen diese horrenden Zahlen zusammen.
Timm: Darf ich zuspitzen? Forschungsmüll kann Leben kosten?
Antes: Das dürfen Sie gerne, ja. Das ist die reine Wahrheit.
Timm: Wie könnte man denn diese Verschwendung, also jenseits der Datenveröffentlichungen, eindämmen. Denn man kann ja Pharmafirmen nicht verordnen, was sie erforschen sollen und was nicht. Könnte man ja nur im öffentlichen Raum, diese Verschwendung eindämmen.
Antes: Ja. Eine Grundforderung ist natürlich, im öffentlichen Raum mehr zu fördern. Und dafür muss man überhaupt erst mal beginnen – auch das ist in Deutschland noch nicht mal ansatzweise in den Schubladen –, sich mit der sogenannten Krankheitslast zu beschäftigen. Also, wo sind eigentlich die großen Problem unserer Gesellschaft? Wir reden dauernd von Überalterung, und zunehmenden Problemen aufgrund der älter werdenden Bevölkerung, aber haben keinen Generalplan, wie wir damit umgehen wollen. Sondern wir glauben weiterhin, dass die Versuche, die wir im Labor und mit Mäusen machen, sich schon irgendwie durchwurschteln werden und dann letztlich dem Menschen helfen. Aber der letzte Schritt, der muss viel konsequenter angegangen werden. Unnütze Studien sollten viel konsequenter verhindert werden, und auch gezielt gefördert werden, was wir dringendst brauchen.
Timm: Da wird Ihnen natürlich jeder Forscher, insbesondere ein medizinischer Forscher entgegnen, dass man natürlich in gewisser Weise Versuch und Irrtum, trial and error, dass das systemimmanent ist, auch in einer reellen Forschung. Dass man mit den Mäusen anfängt, um irgendwann mal die Hoffnung zu haben, dass man beim Menschen landen kann.
Antes: Ja, das ist auch kein Argument dagegen, so zu beginnen. Nur, der letzte Schritt fehlt. Wenn Sie sich mal die Zahlen anschauen, auch das wird heute gleich noch Thema werden, dann ist es ein 90:10-Verhältnis oder teilweise noch viel krasser in Deutschland. Wenn Sie mal auf die Forschungsmittel schauen, die hineingehen in die ersten Schritte, und zum Schluss sagt man, na ja, das sollen die Krankenkassen richten oder es wird sich schon allein zurechtlaufen. Und dieser Bereich fehlt. Da sind wir auch gegenüber zum Beispiel Großbritannien Meilen zurück. Es ist kein Zufall, dass diese Konferenz jetzt gerade in London stattfindet, weil die das vor Jahren schon erkannt haben und zumindest den letzten Bereich jetztmal in den Bereich der 20-prozentigen Förderung bringen.
Timm: Was mir, Pardon, noch nicht ganz einleuchtet: Man kann mit Studien heute wirklich alles beweisen. Zu jeder Studie gibt es eine Gegenstudie, und der Satz "Trau keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast", der kommt ja nicht von ungefähr. Worauf gründet sich Ihr, ich sag mal, Grundvertrauen, dass tatsächlich noch mehr Daten immer noch mehr Erkenntnisse bringen?
Antes: Nein, nein, das hab ich nicht gesagt. Ich habe nicht gesagt, dass grundsätzlich noch mehr Daten noch mehr Erkenntnisse bringen. Im Gegenteil, ich habe gesagt, wir müssen an vielen Stellen die falschen Studien eindämmen.
Timm: Ja, aber wenn man noch mehr veröffentlicht, dann hat man natürlich noch mehr Daten.
Antes: Ja, aber – nein, an der Stelle ist die Forderung ganz klar. Und das ist eigentlich das Grundprinzip der Arbeit, die Cochrane in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Die Forderung ist, alle Studien auf den Tisch zu legen, weil die Aussage "Traue keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast" nur funktioniert, wenn Sie nur eine Studie in der Hand haben. Aber wir haben ja praktisch bei jeder Fragestellung, sagen wir mal, im Mittel sechs Studien. Und teilweise, ich habe jetzt gerade wieder eine Arbeit hier, gerade in London bekommen, 56 Studien zu einer Frage, ohne dass daraus die richtigen Konsequenzen gezogen worden sind. Also die Forderung ist, und die ist sehr einfach: alle Daten auf den Tisch. Das schafft zwar mehr Daten, aber es schafft auch mehr Wahrheit, weil damit der Überoptimismus gekappt wird.
Timm: Gerd Antes vom Cochrane-Institut in Freiburg, zurzeit in London auf einer medizinischen Tagung, die fordert mehr Qualität und weniger Müll bei medizinischen Studien. Ich danke Ihnen für das Gespräch! Viel Erfolg!
Antes: Danke aus London!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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