Wissenschaft

"Die Chance schlechthin"

Moderation: Nana Brink · 05.04.2014
Er kenne kaum ein Land, in dem junge Menschen und gerade auch Frauen eine solche Begeisterung für Bildung haben, sagt der Nahost-Experte des DAAD. Die wissenschaftliche Unterstützung habe viel erreicht.
Nana Brink: Heute beginnen in Afghanistan die Wahlen. Der langjährige Präsident Hamid Karzai kann sich laut Verfassung ja nicht mehr aufstellen lassen. Acht Kandidaten stehen jetzt für die Bevölkerung zur Auswahl. Es wäre die erste demokratische Machtübernahme in dem vom Krieg zerrütteten Land überhaupt. Und das ist ja schon mal ein Fortschritt in einem Land, aus dem sich die westlichen Mächte immer weiter zurückziehen. 2014 endet ja die ISAF-Mission, auch die deutschen Soldaten kehren dann vom Hindukusch zurück.
Aber nicht der militärische Aspekt des internationalen Engagements soll uns jetzt hier interessieren, sondern: Wie weit hat die Staatengemeinschaft die Demokratisierung des Landes vorangetrieben, oder sagen wir vielleicht besser, die Befriedung? Christian Hülshörster ist Nah- und Mittelost-Koordinator des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, kurz DAAD genannt. Schönen guten Morgen, Herr Hülshörster!
Christian Hülshörster: Ja, guten Morgen!
Brink: Sie waren selbst mehrfach in Afghanistan. Was geht Ihnen denn nicht mehr aus dem Kopf, wenn Sie an das Land denken?
Hülshörster: Ja, wenn ich an meinen ersten Besuch in Afghanistan im letzten Jahr, das war im Mai, denke, dann habe ich, glaube ich, so zwei Erfahrungen gemacht, die recht kennzeichnend sind für die Gesamtlage. Das eine war, ich bin morgens um sieben Uhr aus dem Bett gefallen, weil ungefähr 500 Meter von uns eine Bombe explodiert ist. Und wenn man das zum ersten Mal hört, also auch das Kleinwaffenfeuer, was sich dann anschloss hinterher, ist das schon eine recht eindrucksvolle Erfahrung.
Das Ganze ging aber dann weiter, und später hatten wir ein Seminar mit jungen Studierenden, die der DAAD auch fördert. Und wenn Sie dann sehen, welche Begeisterung und welche Neugier einfach da ist, gerade auch von jungen Frauen, die unglaublich neugierig sind auf das, was in der Außenwelt passiert, die Deutschland spannend finden, die einfach sehen möchten, welche Chancen, welche Perspektiven bieten wir ihnen, auch für ihr berufliches Fortkommen, dann ist das, glaube ich, sehr kennzeichnend für die Gesamtsituation, was ich da erfahren habe.
Brink: Das sind ja zwei ganz extreme Erfahrungen, die Sie gemacht haben, die sich dann bündeln. Worauf hat sich denn der DAAD konzentriert in dieser schwierigen Situation?
Hülshörster: Na ja, der DAAD ist seit 2002, also direkt seit dem Ende der Talibanherrschaft, kann man sagen, dort vor Ort, und wir haben in diesen Jahren natürlich nur ausgewählte Leuchtturmprojekte fördern können, das ist klar. Also niemand kann ein gesamtes Hochschulsystem aufbauen, sondern was wir versuchen, ist: Wir haben uns auf einige Schwerpunktbereiche - vor allen Dingen auf den Bereich der Informationstechnologie und auf den Bereich der Wirtschaft - fokussiert und haben gesagt, dort wollen wir durch Leuchtturmprojekte zeigen, wie vielleicht Schritte in Richtung eines modernen, leistungsfähigen Hochschulsystems aussehen können. Und ich finde, da haben wir ganz Beträchtliches erreicht.
Es ist zum Beispiel so, dass das Gesamtkurrikulum für Wirtschaftswissenschaften im ganzen Land Afghanistan mit unserer Unterstützung deutscher Hochschulen entsprechend reformiert worden ist. Dort haben wir die Faculty ausgebildet, also Leute, die vorher teilweise nicht einmal einen Bachelorabschluss hatten und inzwischen auf dem Weg zum Ph. D. sind. Also das finde ich recht maßgeblich, was dort geschafft worden ist. Natürlich ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber es zeigt einfach Richtungen auf, und die letzten Schritte gehen muss das Land natürlich alleine.
"Der Campus ist auch eine Art Schonraum für junge Frauen"
Brink: Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihren Erfahrungen. Ist das wirklich so ein Campus, wie wir ihn ja aus unserer Welt kennen?
Hülshörster: Also wenn Sie die Universität Kabul mal nehmen, die ich recht gut kenne: Das ist eine klassische Campusuniversität, wo sich die Studierenden auch vergleichsweise frei und sicher bewegen können, weil es einfach dort entsprechende Außenmauern gibt. Das klingt auf uns vielleicht ein bisschen abschreckend, weil wir uns unsere Universitäten also mit bewaffneten Guards vor der Tür kaum vorstellen können. Hier müssen Sie es aber als gewaltigen Vorteil sehen, vor allen Dingen auch für die jungen Frauen. Der Campus ist in dieser Hinsicht wirklich auch eine Art Schonraum, wo junge Frauen dann beispielsweise auch die Burka ablegen können, wo sie die Möglichkeit haben, einfach ...
Brink: Aber sie kommen hin mit Burka noch, oder?
Hülshörster: Sie kommen in der Regel mit Burka hin und legen sie am Tor dann ab, ja. Und auf dem Campus selber tragen sie eben Kopftuch, was landestypisch ist, aber was von den jungen Frauen wirklich auch als Schonraum und als Freiraum empfunden wird. Deswegen spielt eben auch Higher Education gerade für junge Frauen eine unglaublich große Rolle in dem Land, nicht nur, weil sie bildungswillig sind, sondern weil sie natürlich einfach auch da soziale Kontakte pflegen können, die ihnen in der Familie und sonst oft verwehrt sind.
Brink: Woher kommen denn die Frauen? Sind es viele schon, die diese Chance bekommen?
Hülshörster: Also es sind natürlich immer noch zu wenig. Die Gesamtrate von eingeschriebenen jungen Frauen in Afghanistan an der Hochschulpopulation liegt bei 19 Prozent, aber mit steigender Tendenz in den letzten Jahren. Und ich muss sagen, vor allen Dingen auch in den Programmen, die wir als DAAD administrieren und bedienen, ist der Frauenanteil deutlich höher. Und wir geben uns auch große Mühe, vor allen Dingen bei Stipendienprogrammen für Deutschland, darauf wirklich zu achten in Kooperation mit den afghanischen Partnern, dass hier viele Frauen eine Chance bekommen.
Es gibt aber Gründe dafür, warum der Anteil eben nur bei 19 Prozent liegt: Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass natürlich auch in der Schulpopulation der Anteil von Männern und Frauen noch lange nicht ausgeglichen ist. Also da muss man natürlich erst mal ansetzen, wenn man dann eben auch an den Hochschulen für halbwegs faire Verhältnisse sorgen möchte.
"Wir versuchen, dieses Prinzip Übergabe in Verantwortung zu fahren"
Brink: Sie haben was Interessantes erwähnt am Anfang unseres Gesprächs, wo ich gerne noch weiter nachfragen würde. Sie haben nämlich davon gesprochen, dass die jungen Menschen so wissensdurstig sind, also so begeistert. Das ist ja ein ganz anderes Bild als das, was wir sonst haben von diesem abgeschotteten Land.
Hülshörster: Ja. Ich glaube, das war auch eine ganz, ganz zentrale Erfahrung, die man gar nicht oft genug betonen kann. Also ich meine, ich bin jetzt seit einigen Jahren, seit 13 Jahren in der Gesamtregion unterwegs. Und ich habe selten ein Land erlebt, wo die jungen Leute, gerade die jungen Frauen, einfach so stark auch auf uns zukommen und sagen, also für mich ist Bildung, auch vielleicht inklusive eines Auslandsstudiums, die Chance schlechthin, und nur auf die Art und Weise kann ich vorwärts kommen.
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel, um es ein bisschen transparenter zu machen: Vor einiger Zeit hat "Time Magazine" eine Liste der 100 wichtigsten Leute der Welt aufgestellt, und interessanterweise findet sich in dieser 100-Liste auch eine junge Afghanin namens Roya Mahboob, eine junge IT-Expertin, die in einem Projekt, das wir finanziert haben mit der TU Berlin gemeinsam, ausgebildet worden ist, und die inzwischen eine eigene Softwarefirma betreibt. Diese Softwarefirma von einer 25-jährigen Frau produziert Anwendungslösungen für afghanische Unternehmen und Verwaltungen und beschäftigt inzwischen selber 25 Leute, davon 20 Frauen. Das ist natürlich einfach eine ganz, ganz tolle Erfahrung, dass so was auch funktioniert und dass wir Hilfeleistungen geben können, um so etwas möglich zu machen. Hat mich sehr beeindruckt, der Fall.
Brink: Nun stellen wir uns ja alle die Frage: Was passiert nach dem Abzug der internationalen Truppen? Wird dieser ganze Fortschritt für die Mädchen und die Frauen wieder hinfällig?
Hülshörster: Ja, dazu müsste man Prophet sein.
Brink: Oder was tun Sie, dass das nicht passiert? Ja, ja, nein, aber Sie als DAAD?
Hülshörster: Also wir versuchen natürlich sehr stark, dieses Prinzip Übergabe in Verantwortung zu fahren. Ich meine, es ist nicht nur ein Prinzip, was die ISAF-Schutztruppe mit den afghanischen Sicherheitskräften betreibt, sondern für uns war das eigentlich seit 2002 maßgebliches Element zum Erfolg. Also wir haben immer darauf geachtet, dass wir, wo immer möglich, die Projekte eben nicht nur mit ausländischen Experten fahren, dass wir immer, wo es geht, eine Finanzierung der afghanischen Seite mit einem steigenden Anteil einbeziehen. Und diese Strategie haben wir, wie ich finde, vergleichsweise erfolgreich in den letzten Jahren durchgeführt. Und wir werden jetzt in den nächsten Jahren immer noch versuchen, das weiter fortzusetzen, damit auf diese Art und Weise Afghan Ownership entsteht und wir davon ausgehen können, dass eines Tages auch mal ohne unsere Unterstützung die Projekte weiter fortgesetzt werden.
Brink: Ist denn da eine Bereitschaft da in der Gesellschaft, spüren Sie das, auch bei den Männern?
Hülshörster: Die Bereitschaft ist da, absolut, also das würde ich nicht bezweifeln. Ich meine, dass die Sicherheitslage uns natürlich da durchaus noch einige Striche durch die Rechnung machen kann, liegt auf der Hand. Da kann, glaube ich, niemand eine valide Prognose zu abgeben, wie sich das 2015, 2016 entwickeln wird. Wir fahren da natürlich auch Szenarien, die ein unterschiedliches Maß an internationalen Experten vor allen Dingen auch in den Provinzen vorsehen. Das heißt, wir haben da mehrere Möglichkeiten, zu sagen, okay, wenn eben nicht so viele deutsche Experten noch vor Ort sein können, wie wir das gerne möchten, dann gibt es ein alternatives Szenario. Aber im Moment rechnen wir schon damit, dass wir auch weiterhin deutsche Experten dort einsetzen können.
Brink: Christian Hülshörster, Nahost- und Mittelost-Koordinator des DAAD. Schönen Dank, Herr Hülshörster, für Ihre Einschätzungen der Lage in Afghanistan!
Hülshörster: Gern geschehen! Danke schön, tschüss!
Brink: Morgen finden dort Wahlen statt, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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