Wissenschaft als Lachnummer

Von Bernhard Doppler · 19.10.2013
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung von Dürrenmatts "Physiker" hat sich Regisseur Herbert Fritsch die Komödie vorgeknöpft. Es ist eine anarchische Inszenierung geworden - in der es zugeht wie im Irrenhaus.
Friedrich Dürrenmatts Komödie "Die Physiker" gehört zu den Klassikern der Schweizer Literatur, ein großer internationaler Bühnenerfolg und im Deutschunterricht oft als Schullektüre traktiert, um an diesem Stück die Verantwortung der Naturwissenschaftler vor der Gesellschaft zu diskutieren. 1962 im Züricher Schauspielhaus (mit Therese Giese als Anstaltsleiterin Dr. von Zand und Theo Lingen als "Einstein") uraufgeführt und dort 25 Jahre in einer ebenfalls legendären Inszenierung mit Maria Becker nachgespielt, hat es nun am Uraufführungsort - weitere 26 Jahre später - in einer Inszenierung von Herbert Fritsch wieder Premiere.

Von der Berliner Volksbühne hat Herbert Fritsch für die Anstaltsleiterin Dr. von Zand seine ehemalige Bühnenkollegin Corinna Harfouch und als Newton einen seiner wohl inzwischen eindrucksvollsten Spieler, Wolfram Koch, mitgebracht und in dem von ihm selbst entworfenen Bühnenbild die Schweiz zitiert: eine emmentalergelbe Gummizelle - unterbrochen durch ein braunes Schweizer Schokoladenstück als Tür. "Käserie" wird die Irrenanstalt von Dr. von Zand auch einmal bei Fritsch genannt. Die Tür ist allerdings nur selten zu öffnen, Bühnenmobiliar und Requisiten gibt es bei Fritsch ja nicht. Die Schauspieler müssen in sportlichen Sprüngen die Gummiwand der Zelle überwinden, um auf- und abzutreten. Dafür hat Fritsch dem Ensemble auch einen eigenen Parkourtrainingslehrgang verordnet.

Inszenierung als Komödie voll theatralischer Energie
Wie zu erwarten, interessieren Fritsch die "Physiker" nicht als Problemstück: die Debatten über die Rolle der Naturwissenschaften oder die Angst vor der Bedrohung durch die Atombombe, ein in den 60er-Jahren ja heiß diskutiertes Thema. Fritsch nimmt Dürrenmatts Genrebezeichnung "Komödie" beim Wort und setzt deren theatralische Energie frei. Und die ist trotz des manchmal drögen kabarettistischen schwarzen Humor Dürrenmatts beträchtlich: Die "Physiker" als Grand-Guignol-Theater aus dem Irrenhaus, in dem Irrsinnige oder Irrsinnige spielende Geheimagenten vorgeführt werden.

Bis zum Bauchnabel geht ihr langes buntes Haar, in dem sie sich wie in den riesenlangen Ärmeln der Zwangsjacken verheddern. Und natürlich streckt "Einstein" immer wieder gerne die Zunge heraus (Gottfried Breitfuss). Inzwischen wohl etwas altbacken gewordene Klischees Dürrenmatts unterläuft Fritsch dabei geschickt: Wenn an dem Physiker Möbius (Milian Zerzawy) die Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Familie beziehungsweise die Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Geliebter gezeigt wird, dann spielt Fritsch das grässliche Blockflötenkonzert, das die Kinder des Wissenschaftlers anstimmen, quälend genussvoll aus oder er verdoppelt die geliebte Krankenschwester Monika Stettler gleich durch zwei Monika-Darstellerinnen (Julia Kreusch und Susanne-Marie Wrage).

Weniger Eindruck macht die bei Dürrenmatt beliebte kulinarische Henkersmahlzeit; bei Fritsch eine konventionelle Pantomime-Choreografie-Einlage des Oberpflegers und der Pfleger. Doch der körperliche Höchsteinsatz der Schauspieler macht großen Spaß, allen voran der von Wolfram Koch, aber auch Corinna Harfouchs die mit ihren Zwangsjackenärmeln und ihrer steilen hohen Frisur wie eine Diva heranschwebt. (Man muss an "Frau Luna" Herbert Fritsch letzte Regiearbeit denken.) Die Schweizer Schauspieler fügen sich in das Fritsch-Ensemble mit großem Spieleinsatz ein, auch Jean-Pierre Cornu als Kommissar. Wenn er immer wieder - bei Fritsch natürlich nur pantomimisch - Zigarette oder Zigarre raucht, ist ängstlich ein Feuerwehrmann mit Kübel auf der Bühne mit dabei und beugt somit vor, dass es trotz Fritsch anarchischem Theater nicht dazu kommt, dass "Zürich brennt". Das Premierenpublikum ließ sich die Schweizer Fritschiade gerne gefallen.