Wissen und Nichtwissen in der Pandemie

Mehr Existenzialismus wagen!

06:38 Minuten
Ein Kasten mit der Aufschrift "Information", der leer ist.
Manchmal wissen wir einfach: nichts. Und es kann uns auch keiner helfen. © picture alliance / dpa / Friso Gentsch/
Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Anke Schaefer · 09.12.2020
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Wer zeigt uns den richtigen Weg in der Pandemie? Wissenschaftler wissen leider auch nicht alles, deswegen müssen wir Entscheidungen in höchster Unsicherheit treffen. Das könne man durchaus als Befreiung empfinden, sagt der Philosoph Wolfram Eilenberger.
Die Forderung nach einem harten Lockdown in der Zeit nach Weihnachten wird lauter. Es scheint, als sei die Botschaft der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina angekommen. Diese hatte gestern bereits vorgeschlagen, dass Feiertage und Jahreswechsel genutzt werden, um die Infektionszahlen stark zu drücken. Vom 24. Dezember bis mindestens zum 10. Januar soll das öffentliche Leben demnach ruhen.

Verwässerte Wissenschaft

Für den Virologen Christian Drosten ist das Papier der Leopoldina eine "deutliche und letzte Warnung". In der aktuellen Ausgabe seines Podcasts klagt er darüber, dass die Botschaft der Wissenschaft zuletzt "stark verwässert" worden sei. Drosten hat die Politik im Blick, aber auch die Medien. Wenn man als Wissenschaftler sage, "wie es ist", werde man dort verheizt und "in eine Ecke gestellt": "Ich weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie in den letzten Wochen das Gefühl hatten: Besser nichts sagen, das gibt nur Ärger."
Die Wissenschaft hat es derzeit tatsächlich nicht leicht. Die Wissenschaftler würden in eine Rolle gedrängt, die sie gar nicht wollten "und auch nicht kennen", sagt der Philosoph Wolfram Eilenberger. Ihr Wissen werde politisiert, und das gehe auch mit den "Druckverhältnissen der Politisierung" einher. Drosten werde eben nicht als Wissenschaftler angegriffen, "sondern als jemand, der mutmaßlich Politik mitgestaltet".

Ein adäquates Wissenschaftsbild zu vermitteln ist schwer

Differenzierungsbereitschaft und Vielstimmigkeit würden der Wissenschaft als "Unsicherheit und Nichtwissen" ausgelegt, kritisiert Eilenberger. Es sei ein schmaler Grat für Wissenschaftler, einerseits auf die Fakten hinzuweisen, und andererseits ein adäquates Wissenschaftsbild zu vermitteln, das auch unterschiedliche Meinungen und Ergebnisse beinhalten kann.
Was jetzt aufseiten der Wissenschaft gefragt ist, sei Mut, betont der Philosoph: "Der Mut beharrlich zu bleiben, seinen Standpunkt offen zu vertreten".
Momentan seien die Menschen alle pandemiebedingt in einer "philosophischen Lage", so Eilenberger: "Weil wir alle Entscheidungen unter höchster Unsicherheit treffen müssen." Es gebe nun mal Fragen ohne Antworten, in dieser Unsicherheit müsse man sich dann orientieren.

Der Philosoph hält sich gelenkig und bleibt offen

Ein Philosoph halte sich in einem solchen Fall "gelenkig", bleibe offen und gestehe sich die Grenzen des Wissens und des Machbaren ein. "Diese Passivität und dieses Ausgesetztsein als Befreiung zu empfinden, das ist eine Denkbewegung, die in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sehr angemahnt wurde: Sie nennt sich Existenzialismus. Und sie ist nicht nur mit Einbußen, sondern auch mit Intensitätsgewinn verbunden."
(ahe)

Die gesamte Sendung mit Wolfram Eilenberger hören Sie hier:
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