Wirtschaftswissenschaftler: Griechenland stürzt Euro-Zone in eine Riesenkrise

Stefan Collignon im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 02.11.2011
Die griechischen Pläne für ein Referendum über den Wirtschaftskurs des Landes seien ein "Musterbeispiel dafür, wie Demokratie in Europa nicht funktionieren kann," sagt Wirtschaftsfachmann Stefan Collignon. Es könne nicht wahr sein, dass eine Minderheit alle anderen in eine Riesenkrise stürze.
Jörg Degenhardt: Wieder was Neues! Die Volksabstimmung in Griechenland über das Rettungspaket kann auf Dezember vorgezogen werden. Das sagte der Innenminister Haris Kastanidis vor wenigen Minuten im griechischen Fernsehen. Bislang war ja vom Januar die Rede. Das Kabinett in Athen hatte Ministerpräsident Papandreou am ganz frühen Morgen nach einer siebenstündigen Sitzung Rückendeckung für seinen umstrittenen Plan gegeben, ein Referendum abzuhalten. Die Ankündigung hatte gestern ein weltweites Börsenbeben ausgelöst, weil damit das erst vor wenigen Tagen bei einem Krisengipfel ausgehandelte Euro-Rettungspaket wieder in Frage steht. – Stefan Collignon ist Professor für Wirtschaftspolitik in Pisa, er war Berater des ehemaligen Bundesfinanzministers Hans Eichel bei der Euro-Einführung und auch Berater der Europäischen Kommission. Jetzt ist er bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Collignon.

Stefan Collignon: Guten Morgen.

Degenhardt: Eigentlich ist doch eine Volksabstimmung in einer Demokratie eine gute Sache. Aber im konkreten Fall könnte das Vorgehen der Griechen nicht absehbare Folgen haben. Um mal vielleicht etwas akademisch zu fragen: Müssen Formen des Mitbestimmens durch den Bürger hinter ökonomischen Sachzwängen zurückstehen?

Collignon: Nein, nicht hinter den ökonomischen Sachzwängen. Aber das ist eigentlich hier ein Musterbeispiel dafür, wie Demokratie in Europa nicht funktionieren kann, denn was hier passiert ist, dass ein kleiner Teil Europas, ein paar Millionen Griechen werden darüber abstimmen, was enorme Konsequenzen für alle europäischen Bürger in der Euro-Zone, 300 Millionen, hat. Und es kann doch nicht wahr sein, dass nur diese kleine Minderheit nun alle anderen in eine Riesenkrise stürzt.

Degenhardt: Was hätte denn stattdessen passieren müssen, dass vorher die Leute befragt werden, oder dass niemand befragt wird?

Collignon: Nein. Das Problem ist, dass wir heute in Europa, in der Europäischen Union und insbesondere mit dem Euro sogenannte öffentliche Güter, Gemeinschaftsgüter haben, die uns, allen Europäern gehören und wo wir alle von betroffen sind, und wir müssten im Grunde alle über die Wirtschaftspolitik abstimmen, die richtig ist für die Euro-Zone, und damit verbindlich dann auch den einzelnen Mitgliedsstaaten vorgeben, was zu tun ist. Aber genau das wird heute nicht ermöglicht und auch in Deutschland. Zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht ja gesagt, dass die Mitgliedsstaaten Herren der Verträge bleiben müssen. Aber genau diese Meinung und Haltung, zeigt sich nun, kann Europa nicht weiterbringen.

Degenhardt: Aber in Deutschland zumindest hat doch der Bundestag in der letzten Woche entschieden und der Kanzlerin ein Verhandlungsmandat mitgegeben, auch mit Grenzen für den Euro-Gipfel. Das müsste doch dann aus Ihrer Sicht in Ordnung gehen?

Collignon: Nein! Das ist genau das gleiche Problem, nur umgekehrt. Im einen Fall sollen die Griechen abstimmen, im anderen Fall stimmen die Deutschen oder das deutsche Parlament ab. Immer ist es nur ein Teil Europas, statt dass Europa als Ganzes befragt wird durch das Europäische Parlament, wo solche Entscheidungen eigentlich hingehören. Wir sehen auch die Folgen dessen. Die Politik, die die deutsche Bundesregierung, die Kanzlerin, die Sparpolitik, die sie Griechenland im Grunde seit eineinhalb Jahren aufoktroyiert, ist ja daneben gegangen. Vielleicht wäre das anders ausgegangen, wenn wir von Anfang an eine europäische Wirtschaftsregierung gehabt hätten, die allen Bürgern durch das Europäische Parlament gegenüber verantwortlich gewesen wäre.

Degenhardt: Warum haben wir diese europäische Wirtschaftsregierung nicht? Ich habe es eingangs gesagt: Sie waren damals bei der Einführung des Euro mit dabei, als Berater des damaligen Bundesfinanzministers. War eine solche Entwicklung, die wir jetzt beklagen, war die nicht abzusehen?

Collignon: Es war immer ein Konstruktionsfehler der europäischen Währungsunion, dass sie nicht die politische Union daneben gehabt hat, und es haben eigentlich von Anfang an alle Schöpfer des Euro gesagt, das muss danach kommen. Jetzt ist der Moment gekommen, an dem man das machen muss.

Degenhardt: Wie hoch sind denn jetzt die Risiken, um mal zu den ökonomischen Zwängen zurückzukehren? Wie hoch sind denn jetzt die Risiken, wenn die Griechen tatsächlich Nein sagen sollten, immer vorausgesetzt, es kommt wirklich zu einer Abstimmung und nicht nur zu Neuwahlen? Wie hoch sind die Risiken für die Europäer?

Collignon: Die Risiken sind sehr hoch, denn das gesamte europäische Bankensystem ist stark miteinander vernetzt und Auswirkungen eines unvorhergesehenen und durch die Umstände erzwungenen Bankrotts der griechischen Republik hat Auswirkungen auf die griechischen Banken, auf portugiesische Banken, auf französische Banken, schwappt über auf Deutschland, und wir müssten eigentlich erwarten, dass es dann noch zu einer noch schlimmeren Finanzkrise weltweit kommt, als das mit Lehman im Jahr 2008 gewesen ist.

Degenhardt: Sie haben jetzt die Italiener außen vor gelassen. Ich frage das nur deswegen: Sie sind zum einen in Pisa gerade tätig als Professor und wir haben ja auch ausführlich über die Probleme des Euro-Sorgenkindes Italien gesprochen. Könnte mit Italien sozusagen der Dominoeffekt einsetzen, dass auch andere durch die Griechenland-Krise mitgerissen werden?

Collignon: Italien ist abgesehen von Griechenland das kritische Glied in der Kette. Das Problem in Italien ist nicht so sehr die Staatsverschuldung, die zwar sehr hoch ist, aber schon seit Langem hoch ist und auch hauptsächlich von italienischen Privatbürgern getragen wird; das Problem in Italien ist die Regierung Berlusconi, die unverantwortlich ist, insbesondere seit Berlusconi im Frühjahr die Regionalwahlen verloren hat und er nun fürchtet, dass er seine Macht verliert und dann ins Gefängnis gehen muss. Und in dieser Situation muss man das Schlimmste fürchten, weil Berlusconi im Zweifelsfall sich auf das zurückzieht, was er immer gemacht hat, Leute zu schmieren, in diesem Fall die Wähler, und das wäre für die italienischen Staatsfinanzen von größtem Verhängnis.

Degenhardt: Das waren gewissermaßen Informationen aus erster Hand von Stefan Collignon, Professor für Wirtschaftspolitik in Italien, in Pisa ganz genau, an der dortigen Universität, und ehemals Berater von Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel, zur aktuellen Entwicklung in der europäischen Schuldenkrise. Herr Collignon, vielen Dank für das Gespräch.

Collignon: Danke auch. Auf Wiederhören!

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