Wirtschaftshistoriker über Finanz- und Coronakrise

"Wir erleben etwas radikal Neues"

10:21 Minuten
Das Foto zeigt den britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze.
Hat einen Bestseller über die Weltfinanzkrise 2008 geschrieben: der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. © picture alliance / Ger Harley / EdinburghElitemedia
Adam Tooze im Gespräch mit Dieter Kassel · 31.03.2020
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Die Coronakrise wird überall wirtschaftlichen Schaden verursachen. Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hält zwar einen Vergleich mit dem Finanzcrash 2008 für falsch, aber die Mittel von damals seien trotzdem geeignet, um die jetzige Krise anzugehen.
Die Coronakrise wird die Weltwirtschaft erschüttern – die Frage ist nur noch, wie schlimm. Haben wir aus dem Finanzcrash von 2008 gelernt? Sind beide Situationen überhaupt vergleichbar?
Die erste der beiden Fragen beantwortet der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze mit ja. Die zweite aber mit nein. Was einen Vergleich der beiden Situationen nahelege, seien die ähnlichen Ereignisse auf den Finanzplätzen und die Intervention der Zentralbanken, sagt er.

Ist das Rettungsnetz groß genug für Indien?

Die momentan der Krise zugrunde liegende Erschütterung der Realwirtschaft sei aber eine fundamental andere: 2008 sei eine spekulative Blase an den Finanzmärkten geplatzt. Im Moment erlebe die Welt etwas "radikal Neues", das einmalig in der Geschichte sei: "den bewussten Versuch aller Staaten, ihre Wirtschaft lahmzulegen".
Die Mittel, mit denen die Krise von 2008 bekämpft wurde, hält Tooze dennoch für grundsätzlich geeignet, die jetzigen Verwerfungen anzugehen. Die Frage sei allerdings, ob eben diese Mittel auch übertragbar auf Schwellenländer wie Indien oder Indonesien sind, wo inzwischen ebenfalls sehr große Volkswirtschaften stabilisiert werden müssten. "Ob das Rettungsnetz auch für sie reicht, ist eine offene Frage."
(ahe)

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze wurde 1967 geboren und ist in England und Deutschland aufgewachsen. Er ist seit einigen Jahren Direktor des European Institute an der Columbia University in New York und hat einen weltweiten Bestseller über die Weltfinanzkrise von 2008 geschrieben: "Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben".


Das Gespräch im Wortlaut:
Dieter Kassel: Adam Tooze ist britischer Wirtschaftshistoriker, aufgewachsen in Großbritannien und in Heidelberg. Er lehrt in New York an der Columbia University und hat einen Bestseller geschrieben über die Weltfinanzkrise von 2008, "Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben" heißt das Buch. Ich habe ihn deshalb gefragt, ob man die Wirtschaftskrise, die wir jetzt infolge der Coronapandemie erleben, mit der Finanzkrise von 2008 vergleichen kann.

Vergleich zwischen 2008 und 2020

Adam Tooze: Was den Vergleich nahelegt sind die Ereignisse auf den großen Finanzplätzen der Welt in den letzten Wochen. Da haben wir tatsächlich Erschütterungen gesehen, die vergleichbare Ausmaße haben. Es geht wieder um komplex strukturierte Kreditprodukte, die ins Taumeln geraten, und die Aktionen der Zentralbanken sind vom Ausmaß her noch riesiger proportioniert als 2008, und sie haben noch schneller zur Waffe der Intervention gegriffen.
Das Aufkaufen von Anleihen wird jetzt von der EZB und von der Fed und auch von der Bank of England in noch größerem Ausmaß betrieben. All das erweckt natürlich die Erinnerung an 2008, aber die zugrunde liegende Erschütterung in der Realwirtschaft ist eine fundamental andere.
Er hinkt deswegen, der Vergleich, 2008 gab es eine spekulative Blase, die platzte im Immobilienbereich, ganz klassisch. Was wir im Moment erleben ist etwas radikal Neuartiges, in dieser Form einmalig in der Geschichte. Nicht der Virus an sich, nicht die Pandemie ist einmalig – das hat es natürlich schon gegeben –, aber der bewusste Versuch aller größeren Staaten, ihre Wirtschaften lahmzulegen, ist in dieser Form neu.
Kassel: Aber gibt es nicht einen Grundunterschied zwischen diesen beiden Krisen, was sozusagen die Reihenfolge angeht? Für mich als Laie sieht es so aus, als ob damals 2008 die Probleme in der Finanzindustrie, bei Aktienhändlern und bei den Banken begannen und sich dann bald auf die gesamte Wirtschaft ausgewirkt haben. Jetzt ist es doch so, dass zunächst die Unternehmen, Dienstleister und Hersteller von Produkten die Probleme haben, sogar oft von Pleiten bedroht sind, und sich erst dann die Frage stellt, wie wird sich das nun mittelfristig auf die Finanzwirtschaft auswirkt.

Die Ruhe im Markt ist immer relativ

Tooze: Ich weiß nicht, ob man das so in dieser Form sagen kann. Auslöser 2008 war eine anhaltende Krise im Immobilienbereich, im realwirtschaftlichen Immobilienbereich, der dann übersprang auf den Kreditsektor. Das ist im Grunde nicht anders.
Kassel: Nun müssen ja gerade in diesen Tagen die Unternehmen auch in Deutschland ihre Quartalsberichte vorlegen, und sie müssen die Aussichten für die nächste Zeit bekanntgeben. Als Laie denkt man, wenn die jetzt alle zugeben, uns geht es schlecht, wir haben große Verluste, und die sagen das offen, dann beruhigt das die Märkte. Das war bei der Krise damals nicht so, dass die Märkte beruhigt wurden, wenn die Unternehmen offen sagten, wie schlecht es ihnen geht.
Tooze: In diesem Fall müssen wir sehen, die Ruhe im Markt ist immer eine relative Sache. Das heißt, was bereits im Preis drinsteckt ist die kritische Frage. Welche schlechten Nachrichten sind bereits eingearbeitet und welche nicht. Das Schockierende, was wir in Amerika erlebt haben, ist, dass die Arbeitslosenmeldungen letzte Woche ein radikal-historisches Ausmaß angenommen haben.

In der Reihe "Leben in Ausnahmesituationen" führen wir in dieser Woche Gespräche über den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawadie 1815, die Spanische Grippe 1918, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, den Finanzcrash von 2008, den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010 und wir blicken nach Mogadischu, wo islamistische Milizen seit Jahrzehnten die einheimische Bevölkerung terrorisieren.

Drei Millionen Menschen haben sich zur Arbeitslosenversicherung angemeldet innerhalb einer Woche, und die Märkte hatten trotzdem Auftrieb, weil sie bereits mit schlechten Nachrichten gerechnet hatten und gute Nachrichten von der politischen Seite kamen. Das heißt, es ist immer eine Balance, ein Gleichgewicht im Finanzmarkt zwischen bereits eingearbeiteten Nachrichten und tatsächlich neuen Meldungen.
Kassel: Sie haben ja schon erwähnt, dass viele Regierungen, Zentralbanken und ähnliche Einrichtungen jetzt das gleiche tun wie damals, wenn auch in weitaus größerem Umfang. Würden Sie sagen, die haben aus der Finanzkrise gelernt?

Die Krise erstreckt sich über die gesamte Welt

Tooze: Ja, absolut. Es gibt ganz bestimmte Erkenntnisse über die Steuerung von komplexen modernen Kreditmärkten, die mittlerweile eins zu eins übertragen werden. Was mehr hinkt, ist die Anpassung dieser Intervention an die neuen Ausmaße der globalen Wirtschaft.
Was sich im Euroraum abspielt, ist wirklich das klassische Hickhack der Eurozone, aber gepolstert durch ganz massive Interventionen des EZB. Was sich in Amerika abspielt ist Playback 2008, aber noch mal auf einem neuen Niveau.
Die Frage, die sich stellt - angesichts zum Beispiel der Nachrichten aus Indien über das Wochenende - ist, ob die Mittel, die 2008 entwickelt worden sind, um mit einer Krise umzugehen, die damals noch in gewisser Weise nordatlantische Ausmaße hatte, ob diese ohne Weiteres übertragbar sind auf die große weite Welt des 21. Jahrhunderts - wo sehr große Volkswirtschaften mittlerweile auch stabilisiert werden müssen. Inwieweit das finanzielle Rettungsnetz auch für sie reicht, ist eine offene Frage.
Kassel: In der Eurozone findet ja jetzt gerade exakt derselbe Streit statt, den es auch in der Finanzkrise gab. Es geht um die sogenannten Eurobonds, die ja teilweise sogar schon Corona-Bonds genannt werden, also um Staatsanleihen der gesamten Eurozone, die dann die positive Folge hätten, dass Länder, die nicht mehr besonders kreditwürdig sind, zum Beispiel Italien im Moment, von der Kreditwürdigkeit anderer Länder, wie zum Beispiel Deutschland oder den Niederländen, profitieren. Es ist doch jetzt genau dasselbe wie damals: Die Länder, die profitieren wollten, fordern das, aber Länder wie Deutschland, Österreich, die Niederlande, Finnland und andere lehnen das konsequent ab. Ist das richtig?
Tooze: Meiner Meinung nach grundfalsch, aber Sie haben recht, es ist die gleiche Diskussion auf fatale Weise. Fatal, weil die Krise ganz andersartig ist. Die Krise ist eine gemeinsame Bedrohung, die auf ganz Europa auf einmal einschlägt. Man kann in keiner sinnvollen Weise behaupten, dass das Notleiden Italiens oder Spaniens mit nationalem Versagen langfristiger Art zusammenhängt. Es wäre eigentlich eine Gelegenheit für Europa zu demonstrieren, dass hier Risikoteilung möglich ist.
Kassel: Damals bei der Finanzkrise wurden Banken in vielen Ländern dieser Welt mit Steuergeldern gerettet, und die Begründung lautete, sie seien "too big too fail", oder wie man auf Deutsch sagt: sie seien systemrelevant. Wenn das wieder passieren soll, wer wäre denn Ihrer Meinung nach jetzt und in naher Zukunft systemrelevant?

Debatte über die Systemrelevanz von Berufen

Tooze: Was wirklich faszinierend ist, ist, wie dieser Begriff erweitert worden ist. Es gibt eine Diskussion über das Verkaufspersonal im Kleinhandel, das systemrelevant ist. Alle möglichen sozialen Gruppen entpuppen sich unter der Bedrohung des Coronavirus für das Funktionieren unserer Gesellschaft als unabdingbar.
Das ist meiner Meinung nach eine gesunde Entwicklung. Es könnte natürlich sehr verfahren werden, aber die Frage steht im Raum und sollte auf politischer Ebene unter Einbringung eines weiten Spektrums an Meinungen auch geführt werden: Was ist systemrelevant in Situationen dieser Art?
Das gewisser Weise Konstruktive an dieser Krise ist, dass dieser Begriff erweitert werden muss offensichtlich. Es geht mittlerweile um Krankenhäuser, es geht um essenzielle Infrastruktur, es geht um die Aufrechterhaltung von Pflegedienstleistungen, Gruppen, die an vorderster Front stehen. Das ist eine zu begrüßende Erweiterung dieses Begriffs.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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