Wirtschaft

Wider den Ökonomen-Mainstream

Moderation: Andreas Müller · 07.09.2012
Auf einer Tagung in Göttingen kritisieren andersdenkende Ökonomen die Dogmen der etablierten Wirtschaftswissenschaft. Warum wir den Problemen in Europa nicht ausschließlich mit mathematischen Modellen beikommen können, erklärt der Finanzsoziologe Helge Peukert.
Andreas Müller: Von Sonntag an tagt der Verein für Socialpolitik - das ist so etwas wie der Historikertag für Wirtschaftswissenschaftler, also eine ziemlich honorige Sache - in Göttingen. In diesem Jahr gibt es aber auch ein alternatives Ergänzungsprogramm: Die Organisatoren dieser, wie sie sagen, pluralistischen Ergänzungsveranstaltung werfen dem einflussreichen Verein ein verengtes und konservativ-marktwirtschaftlich orientiertes Wirtschaftsverständnis vor, das gerade angesichts der Ausmaße der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise vollkommen unzureichend und nicht zielführend sei. Der Finanz-Soziologe Professor Helge Peukert ist einer der Organisatoren der Alternativ-Veranstaltung. Schönen guten Tag!

Helge Peukert: Ja, schönen guten Tag!

Müller: Warum braucht es denn eine Alternativveranstaltung zur renommierten Tagung des Vereins für Socialpolitik?

Peukert: Ja, Sie haben es eben etwas vielleicht ein klein wenig hart formuliert: Was wir machen wollen, ist einen kleinen Anstoß geben, die Ökonomen nennen das einen (…), dass der Verein vielleicht sich etwas pluraler orientiert, insbesondere was seine Jahrestagungen betrifft. Und unser Vorbild sind hier die amerikanischen American Economic Association oder ASSA-Tagung, wo eben auch heterodoxe Ökonomen die Möglichkeit haben, Meinungen zu äußern. Und es ist ja auch so, dass leider die Ausschüsse des Vereins, wo also bestimmte Spezialthemen systematisch verhandelt werden, dass wir uns wünschen würden, dass auch die mindestens einen Slot auf der Vereinstagung bekommen, um sich äußern zu können.

Müller: Wenn Sie nun heterodoxe Denker erwähnen und ohnehin sagen, das ganze sei ein bisschen eingefahren, was ist denn die Haltung bzw. Stoßrichtung der Denkschule des Vereines für Socialpolitik? Was ist da der Kern, den Sie kritisieren?

Peukert: Der Kern ist nicht so sehr das, was im Zentrum dort steht, das ist auch legitim, sondern der Kern der Kritik bezieht sich darauf, was systematisch auf diesen Vereinstagungen nicht zum Zug kommt. Und da nenne ich Ihnen nur ein Beispiel: Wir haben verschiedene Ausschüsse, zum Beispiel evolutorische Ökonomik, aber auch Geschichte der Wirtschaftswissenschaften oder auch Dogmengeschichte, und diese Ausschüsse, für sie scheint kein Raum da zu sein, und das bedauern wir.

Müller: Nun trifft sich da ein Verein, das ist ja schön und gut. Welche Einflussnahme hat der eigentlich? Was sind da für Leute drin, und wo findet sich diese Denkschule - die ja Ihrer Ansicht nach nicht die ganz richtige ist - in Politik und Ökonomie bei uns wieder?

Peukert: Na ja, der frühere Vorsitzende, Herr Röller, ist jetzt Berater von Frau Merkel, also insofern ganz uneinflussreich scheint er nicht zu sein, und natürlich ist es klar, dass der Verein, der 3800 Mitglieder hat, dass hier sehr viele Mitglieder dann auch in beratenden Funktionen hier und dort tätig sind, wobei wir uns natürlich wünschen - und das ist eines der Themen, das auch bei uns diskutiert wird, das ist der Ethik-Kodex, dass der vielleicht ein bisschen stringenter formuliert würde, dass also zum Beispiel Wissenschaftler, wenn sie mal eine Beratertätigkeit hatten, das in ihrem Lebenslauf aufführen und nicht nur, wenn sie gerade beratend tätig sind, das in Publikationen dann kenntlich machen.

Müller: Sie kritisieren ja, dass im Prinzip nur eine Denkart, vereinfacht, sehr vereinfacht gesagt, zugelassen ist - Neoklassik, also eine sehr tradierte Umgehensweise mit den Problemen, die uns ja seit einigen Jahren beschäftigen. Das ist auch der Mainstream sozusagen. Was ist Ihre Gegenidee bzw. vielleicht erst mal gefragt, was denkt der Mainstream?

Peukert: Ja, das ist eine sehr schwierige Frage, weil er sich ja in den letzten Jahrzehnten sehr aufgefächert hat und deswegen die Rede von der Neoklassik berechtigterweise dann auch Kritik hervorrufen würde, wenn man sagen würde, dass also praktisch alles, was dort präsentiert wird, neoklassisch ist. Entscheidend ist eben, dass hier modelltheoretische, mathematisch formulierbare Ansätze im Vordergrund stehen und dass sie das Siegel der Wissenschaftlichkeit dann bekommen, und dass eben eine ökonometrische Testbarkeit gegeben sein sollte, und viele Fragen zum Beispiel über die Zukunft Europas - soll man eine Bankenunion machen, soll man eine Fiskalunion machen, soll man einen Haircut veranstalten -, das lässt sich eben, weil die Wirtschaft ein offenes System ist und hier auch sozialphilosophische Fragestellung - was wollen wir denn eigentlich, was ist die Finalität Europas - hineinkommen, dass sich das in einem so engen methodischen Korsett eben nicht ausreichend behandeln lässt.

Müller: Also fehlt Ihnen eine ideologische Debatte?

Peukert: Uns fehlt nicht eine ideologische Debatte, aber eine, die wegkommt von Formeln und von verengten Fragestellungen, also wie muss jetzt der nächste Winkelzug angesichts der verfahrenen Lage in Europa aussehen? Soll die EZB jetzt bei Ausfall die Staatsanleihen dann übernehmen und das dem Steuerzahler aufdrücken, oder soll das Austeritätsprogramm nun verschärft werden? Das sind normativ politische Fragestellungen, die auch als solche kenntlich zu machen sind. Denn die Öffentlichkeit ist ja irritiert, weil alle Ökonomen behaupten, sie wären objektiv-wertneutral, sich aber in ihren Vorschlägen teilweise vollkommen widersprechen. Wir haben mehrere Streitschriften im Raum, und der Bürger fragt sich, wie kommt das denn, einer muss ja Recht haben.

Und unser Punkt ist, dass wir sagen, es gibt verschiedene Wege, wir sind vollkommen unsicher darüber, welches letztlich der richtige ist, aber man muss die Frage Cui bono stellen. Das heißt, wer wird denn hier belastet, wer wird entlastet, zu wessen Gunsten wird einer dieser Wege zulasten des anderen eingeschlagen? Letztlich eine Lastenverteilungsdebatte, und die wird unseres Erachtens nach zu wenig geführt.

Müller: Deutsche Wirtschaftswissenschaftler hängen veralteten Modellen an, finden andersdenkende Wirtschaftswissenschaftler, und die treffen sich ab Sonntag parallel zur Jahrestagung des renommierten Vereines für Socialpolitik in Göttingen zu einer Art Alternativveranstaltung. Ich spreche mit einem der Organisatoren, das ist Helge Peukert. Herr Peukert, Philosophie, ist das ein Denkansatz, der nicht im Mainstream gedacht wird, der aber zur Lösung der aktuellen Finanz- und Staatsschuldenkrise beitragen könnte?

Peukert: Ja sicher, es ist ja die Frage, welche Finalität soll Europa haben. Wollen wir ein demokratisches und sozialpolitisch abgefedertes Europa oder wollen wir eine neue Supermacht Europa, die praktisch turbokapitalistisch mit allen anderen Ländern auch zum Beispiel durch Abbau von Rechten der Arbeitnehmer hier konkurrenzfähig ist? Wie soll das aussehen? Damit hängen ja auch die Vorschläge zum Beispiel der Sanierung einiger Südländer jetzt, das hängt ja damit zusammen.

Müller: Aber nehmen wir mal an, Sie wären morgen Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, und würden ihr sagen: Liebe Frau Merkel, wir müssen das ganze Problem auch mal philosophisch angehen, zum Beispiel. Glauben Sie, Sie würden damit landen?

Peukert: Ich würde nicht sagen philosophisch, sondern ich hätte ihr zum Beispiel am Anfang - und allen anderen Politikern, inklusive auch unseres Bundesverfassungsgerichtes - hätte ich gesagt, ich finde, ein EU-Vertrag, egal wie ich den im Einzelnen bewerte, wenn dort ein Paragraf drin steht, der eine No-Bailout-Klausel enthält, ist es hochgradig problematisch, wenn die eigens geschlossenen Verträge dann über Zweckgesellschaften, genannt Rettungsschirme, umgangen werden. Das ist eine philosophische Frage meiner Meinung nach. Inwiefern können wir Verträge aus pragmatischen Gründen, die wir vorher selber akklamatorisch begeistert angenommen haben, nach kürzester Zeit über Bord werfen? Ist das in Ordnung? Das ist meiner Meinung nach eine philosophische Frage.

Müller: Sie werden in Göttingen im selben Gebäude sitzen mit den honorigen Kollegen. Ich weiß nicht, ob Sie auch Kontakt haben werden, aber denken Sie oder glauben Sie, dass das, was Sie da verhandeln, ankommt bei den Kollegen?

Peukert: Na, es wird sicher ein gewisser Neugier-Effekt da sein, und im Verein selber gibt es ja viele Ökonomen - also die 3800 Ökonomen, das ist ja nicht eine Phalanx mit einer einheitlichen Meinung -, da gibt es ja auch einige Kräfte, die hier eine gewisse Erweiterung des Horizonts sozusagen richtig fänden, und wir wollen diese Kräfte ein bisschen unterstützen.

Müller: Glauben Sie, dass es ein langsames Umdenken geben könnte, beziehungsweise reicht ein langsames Umdenken, oder muss ein großer Knall her, um aus den alten Strukturen rauszukommen, wenn es um die Lösung unserer Probleme geht?

Peukert: Na ja, wirtschaftspolitisch gesehen bin ich der Meinung, dass sie hier schon ein paar Reset-Optionen ziehen müssten, also beispielsweise im Bezug auf die Geldordnung glaube ich ja, war wir hier jetzt sicher nicht erklären können, dass wir eine Voll-Geldreform bräuchten, dass es ein Riesenproblem ist, dass nicht nur Herr Draghi die Geldmenge erhöht und Zentralbankgeld unlimitiert fast zur Verfügung stellt, sondern dass die Banken eben einen großen Giralgeld-Schöpfungsspielraum hier haben, der ein Problem ist, und dass hier die Gesellschaft praktisch wieder die Zügel in die Hand nehmen sollte.

Das sind fundamentale, fast revolutionäre Forderungen. Ob die genau richtig sind, weiß ich auch nicht, nur ich finde es eben nicht richtig, wenn praktisch wir solche Themen anbieten, und die auf den Vereinstagungen dann immer abgelehnt werden. Damit sage ich nicht, dass der Verein autoritär ist, die formalen Entscheidungsstrukturen, die sind vollkommen demokratisch.

Müller: Wenn ich da kurz noch mal fragen dürfte, diese Vollgeld-Geschichte, das heißt also, der Geldwert muss auch wieder einem Warenwert sozusagen entsprechen, oder einem echten Gegenwert. Werden Sie da nicht ausgelacht, wenn Sie das den Kollegen vortragen, weil ich weiß nicht wie viel Billionen Dollar zu viel auf diesem Erdenball momentan unterwegs sind, für die es überhaupt keinen Gegenwert gibt?

Peukert: Na ja, die Vollgeld-Reform will ja, dass die Banken keine Kreditschöpfung mehr machen können. Eine Warendeckung, das hatte Walter Eucken so gedacht, der ja übrigens auch dafür war, also die deutsche Ikone des Ordoliberalismus, die ja viele als Monstranz gerne auch noch heute vor sich hertragen. Ich glaube nicht, dass das ein lächerlicher Vorschlag ist. Es ist ja so, dass gerade in den letzten ein, zwei Wochen, in den Medien, bei Spiegel Online zum Beispiel, aber auch sogar eine Studie des IWF, zu dem Ergebnis kommt vom Herrn Kumhof, das ist nicht die Meinung des IWF, aber immerhin, die haben zugelassen, dass es unter ihrem Namen von ihren Mitarbeitern veröffentlicht wurde, dass das sehr positive Effekte auf die Realwirtschaft hätte. Und Herr Kumhof wird auch bei uns sprechen.

Müller: Das war der Finanzsoziologe Professor Helge Peukert. Er ist einer der Organisatoren der Alternativveranstaltung zur Tagung des Vereins für Sozialpolitik, die am Wochenende in Göttingen beginnt. Haben Sie vielen Dank!

Peukert: Ja, gerne!

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