Wirrwarr in der Stadt Baarle

Skurrile Grenzverläufe

07:33 Minuten
Weiße Kreuze auf dem Bürgersteig markieren die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden.
Weiße Kreuze auf dem Bürgersteig markieren die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden. © Paul Vorreiter
Von Paul Vorreiter · 08.10.2019
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Grenzen quer durch Läden, Wohnhäuser und Dienstzimmer: Baarle-Hertog, das sind 22 belgische Enklaven, umgeben von niederländischem Gebiet. Der Einfachheit halber liegt ein Haus in dem Land, in dem seine Haustür ist – das macht die Bewohner kreativ.
Auf den ersten Blick wirkt der geschäftige Platz mit dem kleinen Brunnen vor dem Rathaus von Baarle-Nassau wie die Ortsmitte eines gewöhnlichen Dorfes: Café reiht sich an Café, an Restaurant. Dazwischen schieben sich Autos im Schritttempo vorbei.
Etwas aber ist seltsam: Wer durch den Ort spaziert und auf die Bürgersteige blickt, sieht immer wieder Linien aus weißen Kreuzen. Seitlich davon die Buchstaben NL, was Niederlande bedeutet, und B, was für Belgien steht. Genauso wie hier, vor diesem Wohnhaus.
"Diese Tür geht in Belgien rein und kommt in den Niederlanden raus und gehen wir hier, Aufzug, gibt es eine Tür nach links und gibt es eine Tür nach rechts im Aufzug und dann gibt es eine vertikale Trennung von der Grenze, die Apartments auf dieser Seite und auf der anderen Seite: zwei Länder."
Jan van Strijp, Bauunternehmer aus der belgischen Gemeinde Baarle-Hertog erklärt, dass der eine Teil des Hauses zu Baarle-Nassau in den Niederlanden, der andere zur belgischen Zwillingsgemeinde gehört.

Grenzziehung auf die Spitze getrieben

Baarle-Hertog ist die Summe aus 22 belgischen Enklaven, umgeben von niederländischem Gebiet. In Wahrheit ist es aber noch komplizierter: Innerhalb der 22 belgischen Enklaven stecken wiederum acht niederländische. Die Grenzen gehen quer durch Geschäfte, durch Wohnhäuser und Felder.
Die beiden Baarles haben es mit der Grenzziehung ziemlich auf die Spitze getrieben. Jan Vanstrijp hat Freude daran, Touristen und Interessierten die Skurrilitäten zu erklären, zum Beispiel, wie es um die Zustellung der Post steht.
"Wenn man im belgischen Apartment wohnt, hat man eine belgische Adresse, wenn im niederländischen, dann hat man eine niederländische Adresse. Wenn ich Post bekomme aus den Niederlande, dann dauert das eine Woche extra und wenn es schnell sein muss, dann gebe ich die Adresse von Freunden auf der niederländischen Seite an, dann einen Tag später ist es da, wenn sie es nach Baarle-Hertog schicken, dauert es eine Woche länger."
Jan van Strijp stammt aus Breda, den Niederlanden, ist seiner Frau wegen nach Baarle-Hertog gezogen: Der 72-Jährige hatte mal zwei Pässe, jetzt nur noch einen belgischen, ihm persönlich ist das auch nicht so wichtig. Er nimmt die komische Grenzziehung locker, so wie die anderen Bewohner auch. Die kennen ihre Stadt auch nicht anders.

Ursprung bereits im Mittelalter

Das Grenz-Chaos hat seinen Ursprung bereits im Mittelalter, im Lehenswesen. Der westfälische Frieden 1648 verfestigte die Teilung des Ortes. Die Gebiete der Baronie Breda fielen an die Vereinigte Republik der Niederlande, den Vorläufer des heutigen niederländischen Staates.
Baarle-Hertog war Teil der spanischen Niederlande, auf dessen Gebiet später das Königreich Belgien entstand. Erst im Jahr 1995 gelang es einer Kommission, die genaue Grenze zu kartographieren. Seitdem kommt eine Regel zum Zug: Ein Haus liegt in dem Land, in dem seine Haustür ist; was manche Bewohner kreativ macht.
"Die Frau, die da wohnte, die wohnte erst in Belgien, und nach der exakten Grenzfeststellung wohnte sie in den Niederlanden. Was hat man gemacht? Man hat die Tür und die Fenster geändert und dann wohnte sie wieder zurück in Belgien."
Wer als Außenstehender durch Baarle läuft, stellt sich häufiger die Frage: Warum eigentlich nicht den Flickenteppich an belgischen Enklaven einfach so den Niederlanden übergeben? Innerhalb der EU kann sich das Leben in beiden Ländern doch so sehr nicht unterscheiden.
Aber für viele der Bewohner ist es eine entscheidende Frage: belgisch oder niederländisch? Man hört es nicht nur am unterschiedlichen Akzent der Sprache. Für Jan van Strijp sind es auch die unterschiedlichen Gewohnheiten, die Kultur, die unterschiedlichen Herangehensweisen, die die Menschen beibehalten wollen.
"Belgien ist oft eine Kopie von Frankreich mit Gesetzen, mit Steuern. Und die Niederlande… Ja, ich sage immer, es ist mehr wie England: Handel und diszipliniert. Und wir haben Gesetze. Und Gesetz ist Gesetz. Und Belgien, joaaah."

Rathaus mitten auf dem Grenzstreifen

Neben den aufgemalten Kreuzen auf den Bürgersteigen helfen noch andere Hinweise dabei festzustellen, in welcher der Schwestergemeinde man gerade ist.
Benzin und Silvesterfeuerwerk sind in Belgien günstiger, die entsprechenden Tankstellen und Geschäfte stehen also in: Baarle-Hertog. Produkte des täglichen Bedarfs hingegen sind häufig in den Niederlanden billiger: Deshalb stehen viele Supermärkte in Baarle-Nassau. Die Vor- und Nachteile beider Länder ließen sich weiter aufzählen. Ein Haus in Belgien ist oftmals attraktiver, Steuern und Abgaben in den Niederlanden geringer.
Weil sich beide Orte mit ihrem Grenzregime so sehr identifizieren, überrascht es auch nicht, dass das Rathaus der belgischen Gemeinde mitten auf dem Grenzstreifen steht. Durch den Gemeindesaal zieht sich eine weiße Linie; wer will, kann auf einem der Stühle zwischen den Ländern hin und her rutschen. Die bizarre Grenzsituation ist zum Anziehungspunkt für viele Reisende geworden, die sich den Wahnsinn aus der Nähe ansehen wollen.
Das weiß auch die Stadtsprecherin zu schätzen, Gitte Tilburgs: "Wir sind stolz auf unsere Grenzen hier in Baarle. Wir zeigen sie gerne und wir wissen auch, dass das wichtig ist. Denn viele Touristen kommen deswegen hier her. Deshalb haben wir auch das Gemeindehaus hier entlang der Grenze gebaut."
Für Touristen ist es ein Erlebnis, das Gemeindehaus zu besuchen. Auch Paare, die heiraten wollen, zieht die Grenzerfahrung an. "Nur wenn es eine Hochzeit gibt, dann ist es wichtig, dass das Ehepaar und die Trauzeugen auf belgischem Boden sind, denn wir stellen ein offizielles Dokument aus."

Gemeinden arbeiten in vielen Bereichen zusammen

Vieles gibt es in der Stadt doppelt: Bürgermeisterin und Bürgermeister oder den Rettungsdienst. Wer im niederländischen Teil ohnmächtig wird, wird von den Sanitätern nach Breda gebracht, im belgischen Teil geht es ins Krankenhaus nach Turnhout. Aber in vielen Bereichen machen die Gemeinden auch gemeinsame Sache. Es gibt ein Kulturzentrum, eine gemeinsame Bibliothek, eine gemeinsame Mülldeponie.
Die beiden Polizeien, die niederländische und die belgische, teilen sich ein Zimmer im Erdgeschoss des Rathauses von Baarle-Hertog: "Ich bin Inspekteur Pascal Bosmans, und mein Kollege sitzt hier. Wir sind hier zusammen. Unser niederländischer Kollege ist heute nicht da, aber er kommt hier nur, wenn er einen Termin hat mit den Leuten von Baarle-Nassau."
Bei Großveranstaltungen arbeiten beide Polizeien zusammen, einmal im Monat fahren sie gemeinsam Streife. Doch wenn es darum geht, verdächtige Personen anzuhalten, sind präzise Ortskenntnisse gefragt:
"Wenn sie etwas sehen in Holland, wir können ihm Stopp sagen oder anhalten! Dann gucken wir, wo das ist, denn wir sind nicht befugt, etwas festzustellen in Holland. Wenn es in Belgien ist, machen wir das, oder unsere niederländischen Kollegen kommen von Breda. Oder wenn sie hier sind, kommen sie von hier."
Gesetz ist Gesetz, anderslautenden Aussagen zum Trotz – auch in Belgien. Doch selbst, wenn auf dem Papier die Dinge klar beschrieben sind: Grenzen, die durch Diensträume, Wohnhäuser, Läden verlaufen erfordern einen Sinn für Pragmatismus und Humor.
"Sie wissen jetzt, dass die Grenze hier lang läuft. Wir sind die belgische Polizei, aber wir sitzen eigentlich in Holland. Wenn jetzt hier etwas passiert, dann ist das hier Belgien. Wir machen das nicht so strikt."
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