Wirken der Internationalen Arbeitsorganisation ILO

100 Jahre Kampf um gerechte Arbeit

Frauen an Nähmaschinen. Eine schaut in die Kamera.
Frauen arbeiten in Bangladesch in einer Textilfabrik. © imago / ZUMA Press
Von Caspar Dohmen · 22.01.2019
Es war eine Errungenschaft nach dem Ersten Weltkrieg – 1919 gründete sich die Internationale Arbeitsorganisation. In der westlichen Welt haben wir ihr zahlreiche Arbeitnehmerrechte zu verdanken. In Ländern wie Bangladesch sind ihre Erfolge eher schlecht.
Der Palast der Nationen in Genf. Sitz der Vereinten Nationen in Europa und alljährlich für zwei Wochen Schauplatz der Internationalen Arbeitskonferenz, gewissermaßen das Parlament der Internationalen Arbeitsorganisation. Im holzgetäfelten Saal XVI geht es um nicht wenige als die Zukunft der Arbeit
"Good Afternoon Ladies and Gentleman, distinguish guests, welcome to this information session on the ILO global commission on the future of work."
"Social Justice and Decent work!" sinngemäß: Soziale Gerechtigkeit und anständige Arbeit. So lauten die erklärte Ziele der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation. Davon ist die Welt weit entfernt. Jeden Tag sterben weltweit durchschnittlich 6400 Menschen durch einen Unfall am Arbeitsplatz oder an einer berufsbedingten Krankheit. Bei der Arbeit kommen mehr Menschen um als durch Krieg und Terror. Es gibt Ausbeutung, Kinderarbeit, Diskriminierung von Frauen und sogar noch Sklaverei."
"We are privileged today to have with us."
Die alten Probleme sind noch nicht mal ansatzweise beseitigt, da tun sich neue auf: Roboter und Algorithmen ersetzen immer schneller Hände und Gehirne. Gleichzeitig steigen Zahl und Anteil ungesicherter informeller Arbeitsverhältnisse und es droht eine gehörige Umverteilung von Arbeit zwischen Regionen. Wenn die ILO die Arbeitswelt der Zukunft gestalten will, muss sie wissen, wie sie aussieht. Deswegen hat sie eine Kommission zur Zukunft der Arbeit ins Leben gerufen.
"To my right Mr. Didar Singh and to his right Phil Jennings."
Didar Singh – ehemaliger Generalsekretär der indischen Industrie- und Handelskammer – ist einer der unabhängigen Experten in der 28-köpfigen Kommission. Vorsitzende sind die Regierungschefs aus Schweden und Südafrika. Von den Ratschlägen der Kommission hängt die künftige Strategie der ILO ab. Sie hat sich zu ihrem 100. Geburtstag ehrgeizige Ziele gesteckt.


"Die Zukunft der Arbeit ist kein Kinderspiel. Sie lässt sich nicht als App auf das Smartphone laden. Aber sie ist für jedes Land von entscheidender Bedeutung. Die Dinge werden sich ändern. Jobs verschwinden und neue entstehen. Genauso wie beim Klimawandel wissen wir, dass dies passieren wird. Wir müssen darauf vorbereitet sein."
Der Arbeitgebervertreter spricht von enormen Herausforderungen.
"Wir werden die Mobilität der Arbeit erleben. Wir werden die Mobilität der Unternehmen erleben. Wir werden die Mobilität aller Menschen entlang der Wertschöpfungskette erleben. Vor allem muss sich die Welt mit der Regulierung von Maschinen und der Regulierung künstlicher Intelligenz befassen. (…) Wir sind Menschen und müssen am Ende sicherstellen, dass die Maschinen für uns arbeiten."
Guy Ryder, Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), präsentiert am 26. November 2018 in Genf den Jahresbericht  der ILO.
Guy Ryder, Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), präsentiert am 26. November 2018 in Genf den Jahresbericht der ILO.© picture alliance/dpa/Salvatore Di Nolfi
Aus Deutschland wurde Thorben Albrecht 2017 in das Gremium berufen, damals Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium.
"Wir sagen in dem Bericht, dass die Herausforderungen vor denen die Arbeitswelt steht heutzutage durch die Umbrüche, die wir da sehen, genauso fundamental sind wie zur Zeit der Gründung der ILO."

Die soziale Frage und die Anfänge der ILO

Im 19. Jahrhundert rückte die Fabrik in den Mittelpunkt des Wirtschaftens. Handwerkliches Können war oft nichts mehr wert. Menschen mussten sich Maschinen unterordnen. Unternehmer konnten schalten und walten wie sie wollten. Sie beuteten die Arbeiter rücksichtslos aus.
Bis die Arbeiter sich wehrten. Gewerkschaften und Arbeiterbewegung entwickelten so viel Druck, dass Unternehmen und Nationalstaaten regieren mussten. In praktisch allen Industrieländern wurde die Arbeit tariflich und rechtlich eingefriedet.
Nach dem Ersten Weltkrieg griffen die Staaten bei den Friedensverhandlungen in Versailles eine der zentralen Forderungen des internationalen Gewerkschaftsbundes auf und gründete die Internationale Arbeitsorganisation – heute eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen.


Franklin D. Roosevelt, damals stellvertretender Marineminister und später legendärer US-Präsident:
"Die ILO, die International Labor Organization, war ein Traum. Für viele war es ein wilder Traum. Wer hätte jemals davon gehört, dass Regierungen zusammenkommen, um die Arbeitsbedingungen auf internationaler Ebene zu verbessern? Wilder war noch die Idee, dass die Menschen selbst, die direkt betroffen waren – die Arbeiter und die Arbeitgeber der verschiedenen Länder – mit der Regierung bei der Festlegung dieser Arbeitsstandards zusammenarbeiten sollten."
1944 also während des Zweiten Weltkriegs formulierten die Delegierten der ILO in ihrer berühmten Erklärung von Philadelphia besonders prägnant ihre Vorstellung menschenwürdiger Arbeitsverhältnisse:
US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1937 
US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1937 in Washington, D.C.© imago / UIG

Arbeit ist keine Ware. Freiheit der Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit sind wesentliche Voraussetzungen beständigen Fortschritts. Armut, wo immer sie besteht, gefährdet den Wohlstand aller. Der Kampf gegen die Not muss innerhalb jeder Nation und durch ständiges gemeinsames internationales Vorgehen unermüdlich weitergeführt werden.

Die ILO ist bis heute eine einzigartige Institution, weil Staaten, Arbeitgeber und Gewerkschaften Regeln für Arbeitende gemeinsam festsetzen und überwachen.
Zu Arbeitszeiten, freien Tagen und Urlaub. Zu Mutterschutz, Nachtarbeit von Frauen. Zum Mindestalter für Beschäftige. Gegen Zwangs- und Kinderarbeit oder gegen Diskriminierung. Für die Vereinigungsfreiheit und gesunde und sichere Arbeitsbedingungen. Bis heute gibt es 187 Konventionen und viele Empfehlungen.

Der Einfluss der ILO auf die Arbeitsverhältnisse

Mit neun Jahren schickten seine Eltern Muhammad Hanif in die Fabrik, weil sie nicht einmal das Geld für die Schulbücher hatten. Statt schreiben und lesen lernte er nähen. Oft verbrachte der schmächtige Mann die ganze Woche in der Fabrik. Am 11. September 2012 nähte er in der Fabrik Ali Enterprises in der pakistanischen Industriemetropole Karatschi.
Feuer war ausgebrochen. Hanif entkam nur um Haaresbreite. Zu sechst stemmten sie eine Lüftungsanlage aus der Wand. Sprangen durch das Loch ins Freie. Hanif erlitt schwere Rauchvergiftungen. 258 Menschen starben.
November 2018. Ein Dutzend Aktivisten protestiert vor dem Landgericht Dortmund. Wortführer ist Nasir Mansoor von dem pakistanischen Gewerkschaftsdachverband National Trade Union Federation. Er fordert Gerechtigkeit für die Opfer des Fabrikunglücks.
Denn Fenster waren vergittert. Fluchttüren versperrt. Feuerlöscher und Feuermelder fehlten. Sonst wären weniger Menschen gestorben.
Hanif und drei Betroffene verklagten den Textildiscounter KiK – Hauptabnehmer der Waren – auf Schmerzensgeld. Sie machen das deutsche Unternehmen für die schweren Folgen des Brandes mitverantwortlich. Aber Hanif bekam kein Visum, um zu dem Prozess nach Dortmund zu reisen. Vor wenigen Tagen wies das Gericht die Klage ab – wegen Verjährung.
Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen gibt es vielerorts – weil die Staaten die Regeln der ILO nicht übernehmen oder missachten. Hilft die ILO bei der Verbesserung der Zustände? Gewerkschafter Nasir Mansoor:
"Grundsätzlich sind die Regulierungen und Konventionen gut. Es geht demokratisch zu. Es gibt ausführliche Beratungen zwischen den beteiligten Arbeitern, Arbeitgebern und Regierungen. Aber das wahre Problem liegt in der Umsetzung. Was auch immer in den Konventionen aufgeschrieben ist, alle diese Regeln bestehen nur auf dem Papier. In der Realität hat die ILO dabei versagt, die Arbeitsverhältnisse der Menschen in den Fabriken oder auf den Feldern wirklich grundlegend zu ändern." Mansoor zuckt mit den Schultern. Pakistan hat diverse Konventionen unterschrieben – setzt sie aber nicht oder unzureichend um. Das Land befindet sich in schlechter Gesellschaft.


"Es fehlt halt ein Mechanismus, der wirklich sanktionsmächtig ist, wo Unternehmen, Regierungen sanktioniert werden können, wenn sie sich Verstößen gegen diese Normen schuldig machen."
Markus Demele – Betriebswirt und Theologe – hat seine Doktorarbeit über die ILO geschrieben. Heute leitet er das Kolpingwerk International – einen katholischen Sozialverband, benannt nach dem Priester Adolph Kolping, der sich im 19. Jahrhundert Gesellenvereine gründete, um die große Not von Handwerksgesellen zu lindern.
Protest von Menschen im Februar 2017, die vom Feuer in der Ali Enterprises Factory in Karachi betroffen sind.
Protest von Menschen im Februar 2017, die vom Feuer in der Ali Enterprises Factory in Karachi betroffen sind.© imago/ZUMA Press
Die Gewerkschaften hatten bei der Gründung der ILO einen harten Sanktionsmechanismus gefordert. Das lehnten die Staaten ab. Die ILO kann deshalb nur Missstände offenlegen und Regierungen ermahnen.
Oberstes Beschlussgremium ist die Internationale Arbeitskonferenz – sie tagt einmal jährlich für zwei Wochen in Genf. Die Hälfte der Stimmen haben Vertreter der Staaten, je ein Viertel der Stimmen liegt bei den Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Zwischen den Konferenzen entscheidet die Verwaltung – der sogenannte Governance-Body.
Demele vergleicht ihn mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und beobachtet ähnliche Schwierigkeiten.
"Wenn da Vetomächte sitzen, die bestimmte Dinge blockieren, dann geht das nicht weiter. Vor dem gleichen Problem steht die ILO natürlich auch, sie hat einen sogenannten Governance-Body, wo bestimmte Staaten gesetzt sind, andere kommen wieder hinzu, auch da ist die internationale Politik kompliziert, dass sich tatsächlich etwas bewegt. Es wird dadurch noch ein bisschen zynischer, dass dort auch Staaten drin sitzen, die selber gar nicht alle Kernarbeitsnormen ratifiziert haben, die also im Zweifel eigentlich Verfahren gegen sich selbst einleiten müssten. Das ist mit Sicherheit ein inhärenter Fehler internationaler Politik, den aber nicht die ILO alleine trifft, sondern viele, viele Organisationen."

Entfesselung des Kapitalismus mit Grund für ILO-Schwäche

Die heutige Schwäche der ILO hat aber auch gehörig etwas mit der Entfesselung des Kapitalismus nach 1989 zu tun. Nach dem Ende des Eisernen Vorhangs war die Systemkonkurrenz zwischen sozialistischer Planwirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft Geschichte. Der Neoliberalismus mit seinen Marktlösungen als Allheilmittel wurde zur Leitideologie – besonders in der Welt der Arbeit. In der Folge wälzten die Staaten mehr Risiken auf die Einzelnen ab.
Mansoor erlebte, was die Zeitenwende für Arbeiter in Pakistan bedeutete.
"Das Kapital ist überall stark. Staat und Regierung sympathisierten mehr mit den Eigentümern und dem Fabrikmanagement und weniger mit den Arbeitern. Für die Arbeiter gibt es nur Lippenbekenntnisse."
Das Pendel ist seit den 1990er-Jahren global zugunsten der Kapitaleigentümer umgeschlagen – zulasten der Beschäftigten. Die Lohnquote sank. Trotz wachsender Wirtschaft herrschte 2017 Lohnflaute – stiegen die Löhne inflationsbereinigt global nur um 1,8 Prozent. In den Industrieländern erhielten Beschäftigte sogar nur ein mageres Plus von 0,4 Prozent.
Eva Senghaas-Knobloch - Friedensforscherin und ILO-Kennerin.
"Ich würde sagen, also spätestens seit der wirklichen Heraufkunft einer neoliberalen Politik, die sich vor allem auf die Vermarktlichung aller möglichen bisher auch staatlich organisierten Regelungen verlässt, dort sind also diese Einsichten der Erklärung von Philadelphia verlorengegangen und haben auch zu der Marginalisierung der Internationalen Arbeitsorganisation vermutlich bis ungefähr zur Finanzkrise 2007/2008 geführt."
"Arbeit ist keine Ware, Punkt."
Oberster Leitsatz der ILO.
"Ein Grundsatz, der heute, wie ich denke, an kaum einer Stelle wirklich durchdacht umgesetzt worden ist. Weil wir eine Situation haben, in der Arbeit eigentlich in erster Linie als etwas betrachtet wird, das besonders disponibel ist."

Informelle Arbeit: Normalfall statt Ausnahme

Joseph Muthama handelt mit Altkleidern auf dem Gikomba-Markt in Kenias Hauptstadt Nairobi. Etwa 100 Ballen liegen in seinem Lager, eingewickelt in dicke Plastikfolie und fest verschnürt mit Plastikbändern. Alles vorsortiert. Dieses Paket sei für mittlere Kinder gepackt – drei bis zwölf-jährige Kinder.
Muthama trägt eine Basecap mit dem Schriftzug der Stadt Seattle, obwohl er noch nie einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hat. Aber er handelt eben mit Altkleidern aus aller Welt. Als Großhändler verkauft er die Ballen weiter an gewöhnliche Händler.
Der junge Mann gehört zu der Mehrheit der Menschen, die in der informellen Wirtschaft arbeiten, also ungesicherte Jobs haben – ohne soziale Absicherung und Vertrag. Eine Form der Beschäftigung mit der die ILO immer Probleme hatte, denn sie wähnte sich – ganz in der Gewerkschaftstradition von Anfang vor allem für formell Beschäftigte zuständig. Das entsprach allerdings nur der Arbeitsrealität in den Industrieländern. Außerdem galten die Regeln nicht in den Kolonien. Daran hatten die imperialistischen Staaten kein Interesse. Mit der Unabhängigkeit der Kolonien war dieser Missstand zumindest programmatisch beseitigt.
Die informelle Arbeit – zu einem guten Teil Frauenarbeit – wurde allerdings weiter übersehen. Erst Anfang der 1970er-Jahre schaute sich die ILO dann die Arbeitswelt im Süden genauer an und stellte fest: dort war informelle Arbeit beinahe die Regel. Arbeitslosigkeit wie in Europa gab es dort gar nicht. Wer überleben wollte musste und muss arbeiten und tut dies meist ohne Vertrag. In Simbabwe arbeiten heute sogar noch fast alle Menschen informell.
"We have over 94 percent of workers in the informal economy."
Lorraine Simbanda ist die Präsidentin von Streetnet. Die Organisation vertritt 550.000 Arbeitende aus 47 Ländern – vor allem Straßenhändlerinnen.


Es gebe eine Verschiebung von formeller zu informeller und prekärer Arbeit. In Südostasien arbeiten zwei von drei Menschen informell – in Afrika und Lateinamerika jeder zweite – selbst in den reichen OECD-Staaten sind es 15 von hundert Arbeitenden. Tendenz steigend.
Thema in der Kommission zur Zukunft der Arbeit bei der ILO. Thorben Albrecht – heute Bundesgeschäftsführer der SPD.
"Wir haben uns schon die Frage gestellt, ist das, was wir eigentlich formelle Beschäftigung nennen, ist das ein Phänomen, was zeitlich, ich sage mal die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute und regional – westliche Industriestaaten – eigentlich eine historische Sonderform war?"
Arbeiter in einer Tabakfabrik in Harare, Simbabwe.
Arbeiter in einer Tabakfabrik in Harare, Simbabwe. © imago/Xinhua

Umbrüche in der globalen Arbeitswelt

Das Airbus-Werk in Hamburg-Finkenwerder. Melissa Ferrara macht hier eine dreieinhalbjährige Ausbildung zur Fluggerätemechanikerin.
"Man lernt die ganzen Metallverarbeitungsmethoden, am Anfang feilt man viel und dann wird man langsam ran geführt an das Bohren, an die verschiedenen Nietarten – ja."
Allein für den Rumpf des Airbus 320 müssen 2600 Nieten gesetzt werden – möglichst akkurat.
"Wenn man dann so ein bisschen die Grundlagen kennengelernt, die Hydrauliksysteme und so, dann wird man zum ersten Mal in die Halle geschickt."
In drei Hallen wird gearbeitet. Um die beiden Rumpfhälften eines Fliegers zu nieten, braucht es mindestens eine Gruppe von sechs Fluggerätemechanikern. In der vierten Hallen reichen neuerdings drei bis vier – denn hier gibt es jetzt zwei Roboter.
Roboter und Algorithmen erledigen immer kompliziertere Tätigkeiten. Sie können mittlerweile auch Teeblätter pflücken und bald auch nähen. Ayad Al-Ani – Forscher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft.
"Roboter können noch nicht nähen, weil die Zuführung des Stoffes etwas komplexer ist, aber in drei bis fünf Jahren – so die Prognosen – können Roboter auch das und dann stellt sich natürlich für die Länder Nordafrikas, aber natürlich auch Indien, Bangladesch, die Frage, was tun wir mit den Hunderttausenden, mit den Millionen von Leuten, die dann von einem Tag auf den anderen obsolet wären."
Bettlaken aus 3-D-Druckern gibt es schon heute. Bald sollen Hemden und andere Kleidungsstücke aus dem Drucker kommen. Dank Robotern und 3-D-Druckern könnte sich die Kleiderproduktion in den Industrieländern wieder rechnen. Das gleiche gilt für andere Waren wie Schuhe. Seit 2017 fertigt der Sportartikelhersteller Adidas in Deutschland und den USA in zwei neuen Fabriken vollautomatisch Turnschuhe.
"So gesehen muss man Sorge haben, dass es gerade in den südlichen Ländern traditionelle Industrien wie die Textilindustrie, Schuhindustrie, aber auch zum Beispiel Zulieferer zur Automobilindustrie, das ist von der Automatisierung, Digitalisierung erfasst werden und in einer sehr dramatischen Art und Weise."


In vollautomatischen Fabriken entstehen nur wenige Arbeitsplätze. Aber es ist nicht einmal ausgemacht, dass diese Fabriken künftig von Beschäftigten aus dem Norden geführt und gewartet werden. Dank Fortschritten bei der Software könnten dies künftig genauso gut preisgünstigere Fachleute im Süden erledigen. Telemigration nennen das Wissenschaftler.
Viele junge Leute in Entwicklungsländern setzen auf das Internet . In der West Bank, in Beirut, Lagos oder Alexandria. Hier entsteht eine gehörige Konkurrenz für Beschäftigte im Dienstleistungssektor in den westlichen Industrieländern- Für Arbeitskräfte also die bislang vergleichsweise gut bezahlt sind – und das gilt nicht nur für IT-Kräfte, sondern auch für Ärzte, Büroangestellte, Anwälte, Bedienungen oder Verkäufer. Geschützt waren diese Berufsgruppen bisher, weil ihre Dienstleistungen nicht gehandelt werden könnten. Aber das ändert sich gerade, wegen neuer Technologien.
Maschinenlernen, Maschinenübersetzung, Software für die Zusammenarbeit von Teammitgliedern an unterschiedlichen Orten. All das ermöglicht Telemigration.
"Wir werden Zentren haben, wo es einem so vorkommt als wäre man in Europa, die Leute mit westlichen Methoden arbeiten, mit hypermodernen Technologien, es überhaupt keinen Unterschied mehr gibt, zwischen einem Start Up, der in Alexandria in Ägypten arbeitet und einem, der in Berlin arbeitet. Aber im Umfeld von Alexandria haben sie dann eine Landwirtschaft oder haben noch traditionelle Strukturen, denen es vielleicht sogar schlechter geht als heute."
Airbus Beschäftigte arbeiten am 14.07.2017 in Hamburg im Airbus Werk in Finkenwerder in der Endmontagelinie der Airbus A320 Familie. 
Beschäftigte arbeiten in Hamburg im Airbus Werk in Finkenwerder in der Endmontagelinie der Airbus A320 Familie. © picture alliance/dpa/Foto: Christian Charisius

Wie im wilden Westen – regellos

Schon heute schreiben digitale Crowdworkingplattformen Arbeit global aus, etwa die Entwicklung von Software oder Design. Dabei geht es zu wie im wilden Westen – regellos. Thorben Albrecht.
"Das wäre zum Beispiel ein Beispiel, wo die ILO, glaube ich, gefordert ist, nicht nur etwas tun könnte, sondern etwas tun muss, weil wir sonst Bereiche bekommen, wo Arbeitswelt komplett unreguliert ist, weil sie global stattfindet und eigentlich niemand mehr einen Zugriff darauf hat."
Internet, Mobiltelefone und andere digitale Technologien breiten sich rasch aus. Aber die viel beschworene digitale Dividende – höheres Wachstums, mehr Jobs und bessere öffentliche Dienstleistungen – bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Übrigens überall – in den Entwicklungs- und Industrieländern.
Handy-Apps über Hygienepraktiken verbessern in Afrika die Gesundheit nicht. Führungskräfte im Silicon Valley preisen neue Technologien bei der Arbeit an und schicken ihre Kinder gleichzeitig in die elektronikfreie Waldorfschule. Vier Jahrzehnten digitaler Innovation haben in den USA an der Armut nichts geändert – 13 von 100 US-Amerikanern sind arm.
Die digitale Dividende wird nach dem Matthäus-Prinzip vergeben: Wer hat, dem wird gegeben. Sven Hilbig – politischer Referent für Welthandel bei dem evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt:
"Also von der digitalen Dividende profitieren insbesondere jene Menschen, die schon sehr gut ausgebildet sind und auch über ein gewisses Kapital verfügen. Das ist das Ergebnis des Berichts der Weltbank, die 2016 herausgekommen ist. Der Bericht sagt, dass es eigentlich nach wie vor dazu führt, dass die besser Ausgebildeten profitieren, während die benachteiligten Bevölkerungsgruppen eigentlich nicht zu den Profiteuren gehören, so dass die Ungleichheit nach wie vor eher zunimmt."

Neue Wege

Die Gewerkschaftszentrale von Global Union am Genfer See in Nyon. Philipp Jennings klärt schnell noch einen Termin mit seiner Sekretärin – dann fällt er in den Sessel.
Als Kind habe er sich nicht vorstellen können, einmal eine globale Gewerkschaft zu führen. Jennings – ein streitbarer Geist – ist Mitglied in der Kommission zur Zukunft der Arbeit der ILO. Die Politik habe sich lange viel zu wenig mit den Veränderungen in der Arbeitswelt beschäftigt.
"Wir konnten sehen, wie diese Revolution stattfand. Es waren große Veränderungen. Die Öffnung des Welthandelssystems. Die erste Phase der Internetanbindung – vor 25 Jahren. Die immer aggressivere Lieferkettenpolitik, eine Welt der Lieferketten. Das Outsourcings und dann eine Abkehr von der Achtung der Arbeit und des Sozialvertrages. Die digitale Revolution und ihre Folgen für die Arbeitswelt waren lange nicht auf dem Radar. Die Welt habe sich allzu sehr auf die Bewältigung der Finanzkrise konzentriert."
Der Gewerkschafter hofft, dass mit dem heute veröffentlichen Bericht der ILO eine Wende eingeleitet wird.
Bei der Vorlage des Zwischenberichts zur Zukunft der Arbeit im Sommer 2018 Jahren verbreiteten die Experten Zuversicht – auch Jennings. Der Arbeitsmarkt würde nicht zusammenbrechen, aber man müsse investieren und das nicht nur in Maschinen:
"Es gibt eine chronische Unterinvestition in Menschen."
Weniger als zwei Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts flössen in Bildung. Jennings zieht einen interessanten Vergleich: Wenn die Nato-Staaten zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für ihr Militär ausgeben wollten, dann sei es doch das Mindeste die gleiche Summe zu investieren, damit Menschen aus- und weitergebildet werden könnten. Künftig sollte Firmen Investitionen in Mitarbeiter abschreiben können – so wie heute auf Maschinen, findet die Kommission.
"Das wir da ein Umdenken hinbekommen, hin zu Investitionen in den Menschen, weil das ist, glaube ich, das Zentrale, wenn wir die Umbrüche und die werden heftig werden, bewältigen wollen, dann muss es solche Investitionen geben."
Treffen mit Thorben Albrecht wenige Tage vor Weihnachten im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Mittlerweile hat die Kommission ihren Bericht fertig.
"Wir gucken auf die grundsätzlichen Fragen, die sich sehr fundamental stellen durch eine Veränderung der Arbeitswelt und das heißt, man muss da auch den Anspruch der Gestaltung durch die ILO sehr hoch anlegen und ein paar visionäre Ideen entwickeln, damit man auch wirklich weiterkommt und sich nicht im Kleinklein verliert."


Gefordert wird ein neuer Sozialvertrag für die Arbeitenden.
"Da haben wir versucht, eine Agenda aufzubauen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und wie wir damit tatsächlich einen Sozialvertrag neu begründen können, der in der Logik der ILO-Gründung 1919 nach dem Ersten Weltkrieg durchaus liegt, nämlich die Logik zu sagen, es kann nur dauerhaften Frieden und dauerhafte Stabilität geben, wenn es auch sozialen Frieden und sozialen Zusammenhalt, soziale Gerechtigkeit gibt. Aber das muss man neu definieren unter neuen Bedingungen. Das ist die Aufgabe vor der die ILO jetzt steht."
Künftig soll jeder Arbeitende auf der Welt einen Anspruch auf eine Basisabsicherung haben – das ist angesichts der heutigen Zustände visionär.
"Es muss eine Universal Labour Guarantee geben, die sicherstellt, dass alle Menschen, egal in welcher Arbeitsform sie sind, ein ordentliches Einkommen haben, einen sozialen Schutz haben und Arbeitsplätze haben, die nicht krank machen."
Für einige Bereiche brauche es internationale Regeln – etwa für Beschäftigte der Plattform-Ökonomie. So etwas hat die ILO schon vor Jahrzehnten für die Seeleute geschaffen und bewiesen – es geht, wenn es von den Staaten politisch gewollt ist.
Thorben Albrecht, Staatssekretär im BMAS
Thorben Albrecht, Staatssekretär im BMAS, auf einer Konferenz der Organisation fuer wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Berlin.© imago/Tom Maelsa
Die Notwendigkeit politischer Steuerung mahnt denn auch Didar Singh in der ILO-Kommission an.
"Ohne Steuerung hätte die Entwicklung in den vergangenen 500 Jahren nicht funktioniert."
Die Rede von einer Rückbesinnung auf die Gestaltungskraft der Politik, findet der Forscher Al-Ani bemerkenswert:
"Ich glaube, das ist der spannende Punkt und die Politik hat ja seit der Ära des Neoliberalismus sich ja völlig aus der Gestalterrolle zurückgezogen."
Verfügen Staaten und die ILO überhaupt über die notwendige Macht, um die digitalen Plattform-Ökonomie zu regeln?
"Ich glaube, die Macht ist schon da, der Wille ist das entscheidende und man darf sich nicht dahinter verstecken, dass es angeblich nicht mehr geht."
Die Zeit drängt. Noch zehn bis 15 Jahre werden viele von uns mit einem Bein noch in der alten Ökonomie und mit dem anderen Bein schon in der neuen sein – was für einigen Stress sorgen wird. Es muss aber nicht zu gewaltigen sozialen Verwerfungen kommen, wenn die Arbeitsverhältnisse global gerechter gestaltet werden. Das Gute ist ja, dass die Roboter und Algorithmen selbst kein Gehalt für sich verlangen. Es werden also eine Menge Werte entstehen, die man auch teilen könnte. Schließlich meißelten die Erbauer des Gebäudes der ILO in Genf die lateinischen Worte:

Si vis pacem, cole justitiam

Wenn Du Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit.
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