Wirbel im Heiligen Land

Von David Vogel · 09.04.2010
Das Buch "Wie das jüdische Volk erfunden wurde" des israleischen Historikers Schlomo Sand sorgt derzeit nicht nur bei Juden für Diskussionen, leugnet es doch die Vertreibung der Juden durch die Römer vor 2000 Jahren. Auch von einem jüdischen Volk will er nichts wissen.
Wieder ist Donnerstagvormittag. Und wieder schaffen Sicherheitskräfte störende Studenten aus dem großen Hörsaal der Universität Tel Aviv weg. Die Störenfriede versuchen vergeblich die wöchentliche Vorlesung von Professor Shlomo Sand zu unterbrechen.

Der 53-jährige Historiker hat mit seinem Buch für einen ziemlichen Wirbel im Heiligen Land gesorgt. Denn seine Behauptungen stehen im genauen Widerspruch, zu dem was in Israel doch jedes Kind aus dem Alten Testament und im Schulunterricht lernt: Das jüdische Volk ist aus Ägypten ausgezogen, ließ sich im heiligen Land nieder, und nachdem der zweite Tempel von den Römern zerstört worden ist, folgten 2000 Jahre des Umherirrens bis zur Gründung des Staates Israel. Diese lineare Stammesgeschichte hält Shlomo Sand für falsch:

"Die meisten israelischen Historiker sind überzeugt, dass sie Nachkommen von König David und von den zwölf Stämmen sind, die aus Ägypten ausgezogen sind. Sie unterrichten das Alte Testament im Fach Geschichte, und nicht im Religionsunterricht. Ich halte das Alte Testament für ein elementares Werk unserer westlichen Zivilisation, aber es ist kein Geschichtsbuch. Das beweise ich in meinem Buch auch anhand von archäologischen Funden. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich halte den Begriff "Volk" für falsch, wenn wir von den Ereignissen in der Antike sprechen."

Für Shlomo Sand gibt es kein jüdisches Volk, sondern nur eine jüdische Religionsgemeinschaft. Die Idee des jüdischen Volkes, mit einem Anspruch auf eine jüdische Nation, sei erst 1871 geboren worden, durch Heinrich Graetz, dem bedeutendsten jüdischen Historiker des 19. Jahrhunderts.

DAS zentrale Ereignis in der Antike in der jüdischen Geschichte, die Vertreibung der Juden aus dem heiligen Land durch die Römer, und der Beginn einer 2000-jährigen Wanderschaft, hat nach Ansicht Sands niemals stattgefunden. Die Juden seien nicht ins Exil geschickt worden, sondern schlicht und einfach im Lande geblieben. Die Galut, das jüdische Exil, sei eine christliche Erfindung:

"Justinus, ein Christ, hat im dritten Jahrhundert zum ersten Mal darüber geschrieben, dass die Juden für die Kreuzigung Jesus von Gott mit der Vertreibung bestraft worden sind. Dies bedeutet: Der Mythos der Vertreibung, das zentrale Element des Zionismus, ist ein christlicher Mythos."

Wenn es also zu keiner Vertreibung aus dem Heiligen Land gekommen ist: was ist mit den Juden dort geschehen? Und vor allem: Woher kommen dann die zahlreichen seit der Antike rund um das Mittelmeer ansässigen Juden, wenn es keine Deportation aus dem römisch besetzten Palästina gab?

Nach Ansicht Sands schloss sich die Mehrheit der Juden im 7. Jahrhundert, nach der Eroberung Palästinas durch die Araber, dem Islam an. Die Nachfahren der Daheimgebliebenen seien die heutigen Palästinenser. Und verbreitet wurde das Judentum durch Bekehrung und Mission:

"Alle lateinischen Schriftsteller bezeichnen in ihren Texten das Judentum als eine Bekehrungsreligion. Das Bild, das wir heute über das Judentum als eine geschlossene Religion haben, ist falsch. Vom Zeitalter der Makkabäer bis zum 4. Jahrhundert war das Judentum die erste monotheistische Bekehrungsreligion. Im Jemen tritt ein ganzes Königreich zum Judentum über, in Afrika viele Berberstämme."

Er habe, so Shlomo Sand weiter, eigentlich gar nichts Neues herausgefunden, sondern monatelang alte Geschichtsbücher, die verstaubt in der Tel Aviver Universitätsbibliothek lagen, gelesen, und dieses bestehende Wissen neu geordnet. Er wirft deshalb den israelischen, insbesondere den zionistischen, Historikern vor, dass sie seit den 60-er Jahren, seit der Eroberung der Westbank, Gaza und vor allem Jerusalems, dieses vorhandene Wissen über die wahre Geschichte des Judentums systematisch aus dem israelischen Bildungs- und Schulwesen verdrängten. Ziel der Historiker sei es, die Idee der jüdischen Nation als eine 2000-jährige zusammenhängende Geschichte zu vermitteln, die nach Jahrhunderten im Exil endlich nach Jerusalem zurückgekehrt sei.

"Die ganze Welt hat sich in Zeiten der Dekolonisation der 60-er Jahren verändert, und in Israel nach dem Sechs-Tage Krieg musste der Eindruck vermittelt werden, dass die neuen besetzten Gebiete uns gehören. Eine Religion besitzt aber kein Land. Aber ein Volk. Also wurden wir zu einem Volk."

Shlomo Sand gehört zur Gruppe der sogenannten "Neuen Historikern", die sich kritisch mit der Geschichte Israels und dem staatstragenden Zionismus auseinandersetzt. Mit seinem Buch ist Sand nun definitiv zum Außenseiter, ja gar zum Nestbeschmutzer im israelischen Establishment (israelischen Elite?) geworden. Doch die breite israelische Öffentlichkeit hat erstaunlich offen auf das Buch Sands reagiert. Es wurde ausführlich in den Medien besprochen, und lag 19 Wochen an der Spitze der bestverkauften Sachbücher.

Die Kollegen Sands hingegen, vor allem jene aus dem Bereich der jüdischen Geschichte, rümpften die Nase. Prof. Israel Bartal, Dekan der humanistischen Fakultät der Jerusalemer Hebräischen Universität, und Vorsitzender der historischen Gesellschaft Israels, kann die ganze Aufregung auch heute noch nicht verstehen. Er hält den Vorwurf Sands, man versuche die historischen Quellen zu verheimlichen, für absurd. Kein einziger seriöser Historiker habe jemals ernsthaft daran geglaubt, dass die Herkunft der Juden genau der Geschichte des Alten Testamentes entspricht. Sand sei besessen von seiner Idee, zu beweisen, dass alle zionistischen Historiker dies verheimlichen wollten:

"Was mich sehr stört ist, ist die Mischung aus Ideologie, Politik und Wissenschaft in seinem Buch. Er hat Quellen vernachlässigt, nur selektiv ausgewählt und benützt, und erzählt nur einen Teil der Geschichte. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht professionell. Das Buch ist ein typisches Beispiel für anti-israelische Propaganda."

Professor Sand leugnet nicht, dass er mit seinem Buch direkt politische Absichten verfolgt. Ja, er sei ein Antizionist, aber er sei auf keinen Fall gegen das Existenzrechts Israels. Ihm gehe es vor allem um die Gleichbehandlung der israelischen Araber. Sie gelten im Land als Bürger zweiter Klasse. Der Staat Israel hat tatsächlich ein Problem, ein demographisches: Die Zahl der im jüdischen Staat lebenden Nicht-juden, insbesondere, der israelischen Araber nimmt stetig zu. Jeder 5. Israeli ist im jüdischen Staat kein Jude. Dies wird seit langem mit Sorge in Israel beobachtet. Auch Shlomo Sand sieht eine existentielle Bedrohung Israels:

"Für den Zionismus ist der Staat Israel das Land aller Juden auf der Welt. Das heißt das Land existiert für Menschen, die gar nicht hier leben und hier nicht leben wollen. Aber gleichzeitig kümmert sich der Staat nicht um seine Bürger, und das wird böse enden. Aber wenn wir Israel retten wollen, müssen wir ein Land schaffen, dass für alle seine Bürger da ist, auch für die Araber."