"Wir wollten so gerne die Welt sehen"

„Stiljagi“ – Die Swingmusik-Szene in der Sowjetunion der Nachkriegszeit

Von Marika Lapauri-Burk · 17.03.2019
Die Swing-begeisterte Jugendbewegung der "Stiljagi" entsteht in den frühen Nachkriegsjahren in den Großstädten der UdSSR. Die „Stiljagi“ machen sich über den kommunistischen Jugendverband „Komsomol“ lustig, interessieren sich für Jazz, folgen einem eigenen Stil.
Mit dem Zweiten Weltkrieg endeten die Freiheiten in der Kulturpolitik, die Stalin zuvor zugestanden und sogar für Propagandazwecke eingesetzt hatte. Ab dem Jahr 1948 sollten per Parteibeschluss alle "Elemente der bürgerlichen Kultur, die der sozialistischen Moral fremd sind" verboten werden. Eingeschlossen war jegliche musikalische Improvisation und die damit verbundenen Instrumente wie Gitarre, Saxophon, Akkordeon. Das betraf in erster Linie den Jazz.
Die Jugendlichen wollten sich jedoch nicht mehr mit Verboten abfinden und orientierten sich immer mehr an der westlichen Kultur. Der Anspruch der Nachkriegsgeneration auf ein neues Leben war in Ost wie West nicht mehr aufzuhalten.
Swing-tanzende russiche Jugendliche
Swing-tanzende russische Jugendliche© https://www.x-rayaudio.com
Die in Vorkriegszeiten vor den Nazis nach der Sowjetunion geflüchteten polnisch-jüdischen Jazz-Orchester wie die von Addy Rossner und Henryk Warszawski, der sich Henry Vars nannte, erlangten große Popularität. Als deren Konzerttourneen nach dem Krieg eingeschränkt wurden, blieben deren Platten nicht nur unter den "Stiljagi" heiß begehrt.
Addy Rosner Band
Addy Rosner Band© https://www.jewishbialystok.pl
Ab dem 28. Juli 1945 wurde gemäß der "Verordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung der UdSSR" die gesamte Funk- und Nachrichtentechnik von deutschen Unternehmen in der sowjetischen Besatzungszone demontiert und nach Moskau abtransportiert. Einige Geräte aus diesen Unternehmen fielen auch in private Hände, zum Beispiel in die des talentierten Ingenieurs Stanislaw Filon. Filon gründete 1946 das erste Tonstudio in Leningrad. Produziert wurden verbotene Musiktitel, westlicher Jazz oder Musik russischer Künstler aus der Emigration.
Viele dieser Matrizen und das Vinyl für die Schallplatten, die in der Produktion verwendet wurden, waren Kriegstrophäen. Das benötigte Vinyl für die Plattenpressung war Mangelware. Filon presste deshalb die Aufnahmen zunächst auf großformatige Fotofilme von Luftaufnahmen. Bald aber entdeckte er Röntgenbilder, die, aus Archiven von Krankenhäusern ausgemustert, reichlich vorhanden waren. So waren Foxtrotts, Tangos, Romanzen für Musikliebhaber auf Bildern von Schädeln und Rippen erhältlich. Bis heute nennt man diese sowjetische Besonderheit "Musik auf Knochen".
Blues-Schallplatte, gepresst auf ein Röntgenbild
Blues-Schallplatte, gepresst auf ein Röntgenbild© https://x-rayaudio.squarespace.com
Obwohl die Jugendbewegung der "Stiljagi" eine kurze Erscheinung war, lebte sie in Fragmenten weiter. Heute wird die "Stiljagi"-Subkultur romantisiert. 2008 wurde ihre Geschichte in Russland verfilmt.
Film-Still aus dem 2008 erschienenen Film "Stiljagi"
Film-Still aus dem 2008 erschienenen Film "Stiljagi"© https://kg-portal.ru/movies/stiljagi
Mehr zum Thema