"Wir verehren einen Orient, den es nie gegeben hat"

Ulrich Kienzle im Gespräch mit Britta Bürger · 23.12.2011
Die Geschichten aus 1001 Nacht haben "das europäische Bild vom Nahen Osten sehr, sehr lange geprägt", sagt der ehemalige Arabien-Korrespondent der ARD, Ulrich Kienzle. Eine moderne Demokratiebewegung in Ägypten sei daher lange Zeit "unvorstellbar" gewesen.
Britta Bürger: Seinen persönlichen Versuch, die Araber zu verstehen, hat Ulrich Kienzle, der ehemalige Nahost-Korrespondent der ARD und langjährige ZDF-Auslandschef, jetzt mit 75 Jahren in einem Buch zusammengefasst: "Abschied von 1001 Nacht". Vor einigen Tagen hatte ich die Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen, das war, kurz bevor die Situation in Ägypten erneut eskaliert ist. Kienzle äußerte da bereits die Sorge, dass die Macht des Militärs dem Arabischen Frühling einen herben Rückschlag versetzen könnte.

Wir konzentrierten uns im Gespräch vor allem auf seine Beobachtungen in den 70er- und 80er-Jahren im Nahen Osten. Im Buch erinnert Ulrich Kienzle diese Zeit als eine abenteuerliche Welt, in der er auch die mittlerweile gestürzten Diktatoren aus nächster Nähe erlebt hat, zum Beispiel Saddam Hussein, mit dem er auf einem Foto aus dem Jahr 1990 vor der Kamera posiert. Dieses Bild ist auf der Rückseite des Buchumschlags abgedruckt, weshalb ich Ulrich Kienzle gefragt habe, ob ihn das nicht im Nachhinein erschreckt, dass Saddam Hussein und er dort aussehen wie zwei ebenbürtige Staatsmänner, wenn nicht sogar wie Brüder.

Ulrich Kienzle: Ja, es hat etwas Lächerliches, und nach der Ausstrahlung des Interviews, das ich mit Saddam gemacht habe, hat "Die Welt" am nächsten Tag geschrieben: "Gestern Abend, Interview des Saddam Hussein - Ulrich Kienzle im deutschen Fernsehen." Das hatte was Komisches, weil es war ja nicht verabredet, er hatte fast die gleiche Krawatte an, er hatte das fast gleiche Einstecktuch, wir hatten die gleiche Haltung, es war sehr merkwürdig, ich kann es nicht erklären.

Bürger: Den Schnauzbart.

Kienzle: Den Schnauzbart noch dazu.

Bürger: Ist dieses Bild aber nicht im Grunde auch stellvertretend dafür zu sehen, wie eng das Verhältnis des Westens damals zu den Potentaten war, eben nicht nur vonseiten der Politiker, sondern auch vonseiten der Medien?

Kienzle: Na ja, das war nicht eng. Es war ein Zufall, wenn Sie so wollen, dass ich dieses Interview bekommen habe. Sie erinnern sich ja, Saddam Hussein hat Kuwait besetzt, und danach wollten alle Interviews, alle Kollegen wollten Interviews, fuhren nach Bonn zum Botschafter. Und ich bin damals zu dem Botschafter nach Bonn gefahren und habe gesagt: Ich will kein Interview jetzt, aber vielleicht gibt es einen Punkt, wo Sie daran interessiert sind, mal die Stimme Saddams in Deutschland zu hören. Und ich hatte das längst vergessen und war unterwegs in Bremen, da kriegte ich einen Anruf von meiner Redaktion: Morgen früh um elf Uhr geht der Flieger.

Das war natürlich überraschend. Ich bin in der Nacht zurückgefahren, und am nächsten Morgen saß ich um elf Uhr im Flugzeug, und am späten Nachmittag war ich in Bagdad. Und das war schon eine große Überraschung, weil damals natürlich eine weltentscheidende, weltpolitisch entscheidende Frage geklärt wird: Wird er sich zurückziehen oder nicht? Und in den Interviews - er hat drei Interviews gemacht, mit dem amerikanischen, mit dem spanischen Fernsehen - hatte er diese Frage noch nicht beantwortet. Und insofern war das eine hochbrisante Geschichte. Wie wird er in meinem Interview auf die Frage antworten: Werden Sie sich aus Kuwait zurückziehen? Das war das Spannende, und die hat er auch beantwortet.

Bürger: Was hat er gesagt?

Kienzle: Er hat "La'a" auf arabisch gesagt, ganz kurz und knapp "nein", und das bedeutete Krieg.

Bürger: Nach diesem Interview standen Sie dann wohl mit ihm noch in der Empfangshalle seines Palastes, er griff nach Ihrer Hand, was Sie als einen der peinlichsten Momente Ihres Lebens bezeichnen im Buch, Hand in Hand mit einem Massenmörder, denn als einen solchen stellen Sie ihn ja auch dar im Buch.

Kienzle: Ja, das Verwirrende war: Er war nicht ganz unsympathisch. Also das kann man schwer erklären, dass ein Mensch da in die Halle tritt und man denkt, da kommt so ein ganz martialischer Diktator in Militärkluft und eben ein Brutalo - und da kam ein ganz weicher Typ, und der war verkleidet wie ein Geschäftsmann, und der hatte einen ganz weichen Händedruck, also das genaue Gegenteil von dem, was ich eigentlich erwartet hatte, und das war schon überraschend. Und er war außerdem gut informiert. Also das waren zwei Dinge, die mich sehr überrascht haben, und er hatte eine durchaus sympathische Ausstrahlung.

Bürger: Großen Raum geben Sie in Ihrem Buch den Entwicklungen in Ägypten zu Zeiten Nassers und Sadats, also in den 60er- und 70er-Jahren, in denen die jeweils Regierenden politisch erst mal auf einem sowjetfreundlichen Kurs waren, dann entgegengesetzt auf einem amerikafreundlichen. War Ägypten damals ein in sich zerrissenes Land, oder folgte die Bevölkerung einfach erst dem einen und dann dem anderen Herrscher voller Überzeugung?

Kienzle: Ich glaube, das Volk hat da gar nichts zu sagen gehabt. Wir müssen einfach wissen: Ägypten ist seit 1952 eine Diktatur, wenn auch der eine oder andere Diktator sehr schön zivil verkleidet war; Nasser hat nie Uniform oder ganz selten Uniform getragen, Sadat praktisch überhaupt nicht. Aber natürlich war Sadat ein Diktator, und das Militärregime hat Ägypten unter Kontrolle gehabt. Es ist übrigens heute noch eine Militärdiktatur. Die Revolte vom Januar hat zwar Mubarak weggefegt, aber es war keine Revolution, wie immer wieder behauptet wird, eine Revolte, das heißt, vielleicht hat dieser Militärrat, der da regiert, diese Revolte benutzt, um Mubarak auf angenehme Weise zu entsorgen.

Bürger: Aber wenn Sie sagen, das Volk hatte damals gar nichts zu sagen unter Sadat zum Beispiel - gab es nicht doch so eine Art Aufbruchsstimmung erst mal?

Kienzle: Es gab einen Aufstand, es gab einen Aufstand, und zwar aus ganz einfachen Gründen: Sadat hat ja die Öffnung nach Westen gemacht und den kruden Kapitalismus eingeführt, und das hat dazu geführt, dass innerhalb von wenigen Jahren eine sehr arme Bevölkerung, eine noch ärmere Bevölkerung entstand, und auf der anderen Seite eine Schicht von reichen Leuten, die diese wieder "die fetten Katzen" nannten, und dieses Auseinanderdriften, das war einer der Punkte.

Und dann kam, der IWF hat damals gesagt: Sparen. Und Sadat hat probiert zu sparen, und zwar an den einfachsten Dingen: Tee, Reis und Zucker. Und daraufhin haben die Leute beschlossen: Das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Das war aber nicht so sehr eine politisch tolle Organisation, sondern es war Verzweiflung, und die sind auf die Straße gegangen. Und mich erinnerten diese Bilder, die ich am 25. Januar gesehen habe, sehr an das, was damals 1977 passiert ist, das waren die gleichen Bilder: Die Panzer waren plötzlich da und die Opposition wurde vertrieben. Das hat damals allerdings nur drei Tage gedauert, dann hatte die Armee das Land wieder unter Kontrolle.

Bürger: Die sogenannten Brotunruhen nach 1977. Das Militär hat dann hart zugeschlagen. Hat der Westen solche Protestbewegungen aber damals vielleicht auch zu wenig wahrgenommen, zu wenig unterstützt?

Kienzle: Na, wir haben ja damals einen Lieblingsaraber gehabt, Anwar as-Sadat, und der hat sogar einen Bambi bekommen damals für seine Ausstrahlung und für seine Friedensbereitschaft. Im Nahen Osten und vor allen Dingen in Ägypten wurde er völlig anders gesehen. Er hatte Angst, dass er von Nasseristen ermordet wird, er wurde aber von einem Islamisten ermordet, und Sie sehen: Er hat die Gefahr nicht richtig eingeschätzt. Er hat mit den Islamisten und mit den Moslembrüdern gespielt, er war ja selber einer, und hat geglaubt, er kann da diesen Tiger reiten.

Aber unter seiner Herrschaft hat sich dieser Islamismus ausgebreitet, ist stärker geworden, und ich habe im Buch auch eine Begegnung mit dem ersten Islamisten, den ich gesehen habe, und den wir europäischen Journalisten damals eigentlich nicht so richtig wahrgenommen haben, weil wir das ... religiöse Dinge gar nicht für so wichtig hielten. Aber dass das ganz entscheidend und wichtig werden würde, das war schnell klar, denn eines ist sicher: Die Araber und vor allem die Ägypter haben ja alles ausprobiert, sie haben Nationalismus ausprobiert, sie haben Sozialismus ausprobiert, und ihre alte Größe ist nicht wiedergekommen, und die Enttäuschung war groß. Und die Niederlage 1967 hat in eine tiefe Depression geführt und hat damals den Islamisten eine Chance gegeben.

Diese Islamisten sind seit 1928 unterwegs, die Moslembrüder wurden 1928 gegründet, das heißt, es ist eine Bewegung, die über sehr lange Strecken sehr viel ertragen musste, die wurden verfolgt, die wurden ermordet, die wurden eingesperrt. Und deshalb sind sie für die Bevölkerung heute - bei den Wahlen ganz wichtig - sozusagen die Helden, die übrig geblieben sind, und deshalb wurden sie auch gewählt, und bei den Wahlen hat man gelegentlich gehört: Gebt den Moslembrüdern eine Chance.

Bürger: "Abschied von 1001 Nacht", so heißt das neue Buch des Journalisten Ulrich Kienzle, mit dem wir hier im Deutschlandradio Kultur über seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Nahost-Korrespondent sprechen. Anscheinend hatten Sie selbst, Herr Kienzle, ja auch eine ganze Reihe dieser Bilder und Geschichten von Scheherazade und dem Kalifen Harun al-Raschid im Hinterkopf, als Sie in den Nahen Osten gereist sind. Teile dieser Bilder, glaube ich, haben sich auch bei Ihnen damals noch gehalten. Woran lag das?

Kienzle: Ja, die wirken heute noch. Wenn ich zum Beispiel nach Kairo gehe, beobachte ich mich, dass ich nicht das moderne Ägypten beobachte, sondern die Leute im Café, das, was romantisch ist, das, was anders ist als wir. Und dieses Exotische, das suchen wir. Wir haben lange den Orient gesehen als brutal, als exotisch, als anders als wir, und wir haben sozusagen das Andere gesucht.

Die Ausgänge von 1001 Nacht und dieser fast hymnischen Verehrung des Orients im 18. Jahrhundert, das darf man ja nicht vergessen. Der Orient hatte mal ein ganz positiv besetztes Bild in Europa: Goethe, andere Leute haben damals den Orient verehrt, aber einen Orient, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Das war eben die Fantasie, das war 1001 Nacht, und dieses Buch hat das europäische Bild vom Nahen Osten sehr, sehr lange sehr stark geprägt - bis die Terroristen dazukamen. Und diese Mischung - auf der einen Seite ... Heute ist der Araber ein Terrorist, diese Verengung dadurch, dass ständig solche Attentate leider passieren und die Medien dominieren - diese beiden Bilder verstellen den Blick auf die Wirklichkeit.

Und bei mir hat es dazu geführt, dass ich diese Revolte am Anfang nicht ernst genommen habe und gesagt habe, na ja, das ist wie 1977, es wird das Gleiche passieren, nach drei, vier Tagen wird es vorbei sein. Und so am fünften oder sechsten Tag, da begann ich dann nachzudenken, und das Erstaunliche war, dass die eben nicht gewichen sind.

Bürger: Aber wie kommt das? Sie schreiben, die Überraschung im Westen lässt sich vor allem mit unserem Bild vom Orient erklären: rückständig, unfähig zur Veränderung, blutrünstig.

Kienzle: Ja, und was wir uns gar nicht vorstellen können, ist Demokratie und Nahost, das geht nicht zusammen. Also Ägypten und Demokratie war für die meisten, die den Orient kennen, unvorstellbar. Und da ist etwas passiert, etwas Neues passiert, etwas Anderes passiert, was wir nicht auf dem Radar hatten. Dass da eine junge Generation heranwächst, die zwar klein ist, ... - aber diese kleine, diese Minderheit hat Anschluss an das 21. Jahrhundert gesucht, und hat mit friedlichen Mitteln versucht, diesen Diktator zu beseitigen, mit Abstimmung, mit Wahlen die Zukunft zu entscheiden. Und das ist ein ganz entscheidender Wandel und eine Veränderung in der arabischen Welt, die ich so zu meiner Zeit für absolut unmöglich gehalten hätte.

Bürger: Der langjährige Nahost-Korrespondent Ulrich Kienzle hat uns vor einigen Tagen im Funkhaus besucht, "Abschied von 1001 Nacht" heißt sein Buch, das in der Sagas Edition erschienen ist.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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