"Wir singen Hochdeutsch!"

Von Mascha Drost · 12.09.2008
Der Name Handwerkerchor ist irreführend, denn so viele Handwerker singen im Mühlhausener Chor gar nicht mehr mit. In den 70er Jahren war er der Handwerkskammer der DDR angeschlossen. Die meisten unter den heutigen Sängerinnen und Sängern sind jenseits der 60. Das Repertoire ist bunt gemischt. Sie singen Klassik, Gospel oder Musical.
Frau Sprang: "Der Chor ist für mich Montag Abend ein Magnet! Ich muss hier hin. Alles, was privat ist, wird an die Seite gestellt, der Chor hat Vorrang. Also ich gehe nicht nur her, um Tralala zu machen, ich will hier echt was von mir geben."

Erika Sprang, eine temperamentvolle Dame um die siebzig, sitzt in der ersten Reihe bei den Sopranen. Im Halbkreis haben sich die etwa 50 Sänger vom Handwerkerchor um einen Flügel versammelt, zwei Reihen Frauenstimmen, Tenöre und Bässe dahinter. Alle schauen erwartungsfroh nach vorn, zur Chorleiterin. Pünktlich auf die Sekunde lässt sie die Probe beginnen – mit einer gymnastischen Einsingübung: Dem "Schulter-Boogie Woogie".

Die Schulter gehen rauf und runter, die Arme vor und zurück. Danach bekommt jeder Sänger von seinem Sitznachbarn eine kurze Massage verpasst, und auch die Chorleiterin macht mit. Anett Groß, blonde lockige Haare, lässig-elegant gekleidet, ist Musiklehrerin am Mühlhäuser Gymnasium – seit zwei Jahren leitet sie den Handwerkerchor. Anfangs ein merkwürdiges Gefühl, meint die Enddreißigerin, vor 50 Menschen zu stehen, die vom Alter her ihre Eltern sein könnten und der "Bestimmer" zu sein, wie sie es nennt. Das hat sich mittlerweile jedoch gelegt – die Atmosphäre ist entspannt, fast freundschaftlich und trotzdem wird gründlich geprobt.

Chorleiterin: "Die wollen enorm gefordert werden und das Fordern hat für mich den Vorteil, dass am Ende ein recht passables Ergebnis steht, das die Sänger auch wieder überzeugt: Was haben wir heute geschafft!"

Frau Sprang: "Sie hat so eine Ausstrahlung auch auf uns! Mit ihren Augen und ihrer Mundstellung und mit ihrer ganzen Mimik und Gestik fordert sie uns auf: Gebt alles, was in euch ist, und das machen wir auch!"

Diesen Abend wird ein neues Lied einstudiert. Die meisten der Sänger können keine Noten lesen, Anett Groß probt deshalb die Stimmen einzeln. Die Melodie wird immer zuerst auf dem Klavier vorgespielt, dann gesungen. Der Bass beginnt.

Wenn auch Tenor, Alt und Sopran ihre Stimmen geprobt haben, der spannende Moment: Alle singen zusammen.

Frau Sprang: "Beim Singen löst sich alles, was in mir ist, was nicht in Ordnung ist – Alltagsstress, irgendwelcher Kummer. Wenn ich dann aber hier bin, löse ich alles, was in mir ist und ich singe mir meine Seele wieder sauber und rein."

Herr Kubelka: "Ich kann mit Kopfschmerzen zum Chor gehen, ich gehe ohne Kopfschmerzen wieder nach Hause. Diese riesige Sauerstoffaufnahme während der Probe bläst alles weg, ich habe da noch nie ein Problem gehabt."

Klaus Kubelka, schmale Brille, schwarzes Polohemd, ist der Vorsitzende des Chores und Mitglied seit 1972. Er war es auch, der Anett Groß zum Chor geholt hat. Der vorige Chorleiter hatte es etwas zu gemütlich angehen lassen – die Sänger fühlten sich unterfordert, es schlichen sich Fehler ein. Vor allem die Aussprache war haarsträubend – sagen selbst die Sänger.

Kubelka: "Da hat sie am Anfang ganz große Probleme mit uns gehabt, denn wir sind nun mal Mühlhäuser, und singen auch mühlhäuserisch. Und dann hat sie das immer hochgestellt und gesagt: Wir singen hier Hochdeutsch!"

Chorleiterin: "Deswegen gilt mein Spruch: Ich bin der Bestimmer, alles schaut zu mir. (...) Soweit habe ich sie inzwischen, dass sie auch auf Mimik und Gestik entsprechend reagieren und sich das Ergebnis schon sehen lassen kann."

Auf bestimmte Genres hat sich der Chor nicht festgelegt: Klassik, Gospel, Musical – alles wird gesungen. Und bitte nicht immer dasselbe – Mehrmals im Jahr fährt die Chorleiterin deshalb auf Weiterbildungen, um sich mit neuem Notenmaterial einzudecken.
Carpe Diem ist eines der Lieblingslieder des Chores, viele haben sich schon von Anfang an darauf gefreut. Anett Groß lässt trotzdem nichts durchgehen und kann schon mal ziemlich direkt werden.

"Können wir noch mal anfangen? Der Anfang war Scheiße…."

Ein jährlicher Höhepunkt sind die zwei Weihnachtskonzerte; für viele Mühlhäuser in ihrer Kleinstadt ein fester Bestandteil der Adventszeit. Denn neben den üblichen Weihnachtsliedern gibt es beim Handwerkerchor auch immer wieder Überraschendes zu hören: Wie etwa afrikanische Lieder.

Kubelka: "Den Chor gibt’s seit 1971 und viele, die den gegründet haben, sind noch dabei, die kennen die Schuhgröße, die kennen Intimitäten, man ist ja ganz viele Stunden zusammen. Im Chor ist es ganz wichtig, die verschiedenen Charaktere unter ein Dach zu bringen, mit all ihren Macken, die so jeder Mensch hat. Das ist das Schöne, wenn man es hinkriegt, dass es allen Spaß macht und ich denke, das haben wir bis jetzt ganz gut hingezaubert."