"Wir sind aufgeklärte Menschen und können hinterfragen"

Rainer Erlinger im Gespräch mit Britta Bürger · 09.03.2011
Moralische Grundsätze sollte man halten. Die Regeln, die sich daraus ergäben, müsse man aber immer wieder überprüfen, sagt Rainer Erlinger, bekannt geworden durch seine Kolumne "Gewissensfrage" im Magazin der "Süddeutschen Zeitung".
Britta Bürger: Moralische Ansprüche und die Widersprüche des Alltagslebens – das ist das Thema des promovierten Mediziners und Juristen Rainer Erlinger. Die Moral unserer Zeit hinterfragt er schon seit Längerem in seiner Kolumne "Gewissensfrage" im Magazin der "Süddeutschen Zeitung", und nun auch in einem neuen Buch: "Moral: Wie man richtig gut lebt". Herr Erlinger, schön, dass Sie bei uns sind, guten Tag!

Rainer Erlinger: Ja, guten Tag!

Bürger: Eine Zeit lang, in den 70er-, 80er-Jahren, da war das ja regelrecht ein Vorwurf, nun sei doch nicht so moralisch. Heute dagegen, habe ich den Eindruck, ist mehr Moral gefragt denn je. Ist das so?

Erlinger: Ja, den Eindruck habe ich auch und das kann ich auch bestätigen, also aus meiner jetzt beruflichen Erfahrung mit den Anfragen von Lesern, die wirklich jetzt – seit neun Jahre läuft die Kolumne jetzt – in einem dauernden Strom von Zuschriften kommen, es sind meistens so zwischen 50 und 100 pro Monat Anfragen. Und man merkt es ja auch, wenn man diese ganzen Medien verfolgt, dass das Thema Moral immer größere Rolle spielt, und ich finde es auch gut, weil es ja zeigt, dass wir uns nicht mehr so irgendwie an irgendwelche Vorschriften – du sollst, du sollst nicht, du darfst, du darfst nicht, das tut man nicht – halten, sondern wir hinterfragen, und das ganz zu Recht, wir sind aufgeklärte Menschen und können hinterfragen: Warum soll etwas richtig sein oder warum soll etwas falsch sein? Und erst, wenn man dieses Warum bekommt, kann ein aufgeklärter Mensch verpflichtet sein, sich dran zu halten.

Bürger: Sie haben viele Fragen, die Ihnen gestellt werden, in das Buch einfließen lassen, also welche Lebensmittel wir einkaufen, darüber müssen wir nachdenken, und vor allem, wo wir sie einkaufen; welchen Strom wir beziehen; wie und wohin wir reisen. Welches ist die richtige Schule für unsere Kinder, und ja, dürfen wir eine Liebesbeziehung per SMS beenden? Darüber debattieren gerade die Benimm-Experten der deutschen Knigge-Gesellschaft. Ist das nicht eine Dauerüberforderung, alles richtig machen zu wollen?

Erlinger: Also wenn man den Anspruch an sich stellt und vor allem an die anderen stellt oder an die Menschen stellt, man muss ständig alles richtig machen, dann ist es sicherlich eine Überforderung, weil wir sind ja alle Menschen und als Menschen auch fehlbar, und schon Kant hat es geschrieben, dass … die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetze sei eine Heiligkeit, zu der kein sinnliches Wesen fähig sei. Und ich glaube, da muss man auch aufpassen, dass man das nicht fordert von den Menschen und auch von sich, weil damit erweist man der Moral den größten Bärendienst, dass man sie zu einem dauernden schlechten Gewissen macht und zu einem "das schaffe ich ja doch nie" und ach, da kommt schon wieder die Forderung und die Forderung und die Forderung, und am leichtesten gehe ich damit um, dass ich sie alle in die Tonne werfe.

Also man muss schon selbst dann gewichten und sich überlegen: Welche dieser Forderungen sind wichtig, welche sind unabdingbar, zum Beispiel, dass ich meine Mitmenschen achte, dass ich ihnen menschlichen Respekt entgegenbringe, das ist meiner Meinung nach etwas, worauf wir nicht verzichten können, egal in welcher Situation, wo und wie und wann, und andere, dass wir unseren Müll trennen, ja, das ist gut, das ist für die Umwelt ganz wichtig, aber es wird keiner von uns – so es eine Hölle gibt – in der Hölle schmoren, weil er mal einen Joghurtbecher in den falschen Eimer geworfen hat.

Bürger: Früher gab es ja den ganz eindeutigen Kodex, zum Beispiel geprägt durch die Kirche, es gab klare Grundsätze zur Sexualität, zur Staatstreue, zur bürgerlichen Ehrbarkeit der Lebensführung und vieles mehr, was die Menschen auch unter Druck gesetzt hat. Heute sind jetzt viele dieser Bereiche liberalisiert, wir sind weniger dem kirchlichen Obrigkeitsdruck ausgesetzt, auch nicht dem staatlichen. Ist das jetzt eine Befreiung, oder ist dieser Druck eben durch andere Maßstäbe ersetzt worden?

Erlinger: Also ich würde erstens sagen, ja, es ist eine Befreiung und es ist gut, weil wir ja heute eigentlich als Leitideal, und das finde ich sehr, sehr schön, den eigenständigen, freien, selbstverantwortlichen Menschen haben, und dass nicht mehr sozusagen der gehorchende Mensch das Leitideal ist, sondern der freie, aber eben dann als Kehrseite des freien auch selbstverantwortliche Mensch ist. Das ist eine schöne Befreiung, es ist aber auf der anderen Seite natürlich mühsamer, weil ich eben mir dann jetzt selbst überlegen muss, was wichtig ist und was nicht so wichtig ist.

Aber ich finde das sehr, sehr wichtig, weil man eben durch dieses Überlegen und durch dieses Sich-bewusst-Machen dann zu einer Art Selbstverpflichtung kommt oder zu einem … jetzt gar nicht so sehr als Verpflichtung zu empfinden, ich glaube, wenn man sich einmal bewusst macht, worum es geht, was wichtig ist, warum man diese moralischen Forderungen hat, warum die an mich herangetragen werden, dann erfülle ich sie sehr gerne. Also wenn man sich ein Beispiel überlegt: Rauchen – man weiß, rauchen ist schädlich, man sollte es vielleicht irgendwie nicht tun, und trotzdem rauchen viele dann weiter. Das ist jetzt eine Erkenntnis, aber die betrifft ja eigentlich nur mich. Wenn man aber jetzt zum Beispiel sich ansieht, wenn Eltern wissen, rauchen ist schädlich für mein Neugeborenes, das im Zimmer liegt, werden die meisten allein aus dieser Erkenntnis heraus das Rauchen im Zimmer, zumindest wenn der Säugling da ist, einstellen, die wenigsten werden da dann weiterrauchen. Und das ist so etwas, wo man erkennt: In dem Moment, in dem man das Bewusstsein hat, warum etwas schlecht oder falsch ist, wird man es häufig lassen, wenn man sieht, welche Folgen man damit für die Umwelt oder für die Mitmenschen anrichtet.

Bürger: Rainer Erlinger ist Mediziner, Jurist und Kolumnist des Magazins der "Süddeutschen Zeitung", hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch über sein neues Buch: "Moral: Wie man richtig gut lebt". Und darin gibt es auch ein Kapitel zur Frage: Darf man lügen oder nicht? Wäre ihr Buch ein bisschen später erschienen, hätten Sie vermutlich mit dem Fall Guttenberg begonnen, stattdessen erinnern Sie an Bill Clinton und die Lewinsky-Affäre. Wie ist denn das Verhalten des Ex-Verteidigungsministers moralisch zu bewerten?

Erlinger: Ja, das ist eine schwierige Geschichte, weil das Ganze ja so eine … man kann nicht sagen, so war es, sondern das Ganze hat ja einen zeitlichen Verlauf genommen, und nach und nach sind dann die Sachen herausgekommen. Ich glaube aber auch, dass sozusagen der größte Schaden, der für ihn entstanden ist und auch eben für seine Glaubwürdigkeit ist weniger aus der Tatsache entstanden, dass er wohl so – ich habe es selbst nicht überprüft, nur sozusagen wieder aufgreifen und zitieren –, dass wohl große Teile der Arbeit abgeschrieben wurden, wie gesagt, ich habe es nicht selbst überprüft, … Wenn er das wahrscheinlich frühzeitig eingeräumt hätte und gesagt hätte, es war ein Fehler und so weiter, wäre der Schaden wesentlich geringer gewesen als dass von erst abstrusen Vorwürfen dann über einzelne Fehler bis hin dann eben zu diesem weitgehenden Einräumen der Vorwürfe, die aber auch jetzt nicht so richtig eingeräumt wurden, sondern nur dann eben dazu führten, dass er sagte, er hält diese soziale Belastung für sich und seine Familie nicht mehr aus. Ich glaube, dass wirklich der größte Schaden dadurch entstanden ist, dass hier nicht mit einer Offenheit von Anfang an gearbeitet wurde.

Bürger: Aber auf die Frage, ob man generell nicht lügen darf, antworten Sie erstaunlicherweise in Ihrem Buch, doch, hier und da, da darf man lügen. Ist das nicht ein Frontalangriff auf eine Grundregel, die unsere Gesellschaft zusammenhält?

Erlinger: Nein, weil ich glaube, die Grundregel, die unsere Gesellschaft zusammenhält, ist nicht ein Gebot, du sollst nicht lügen – das übrigens gar nicht so in der Bibel steht, sondern da steht, du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten, was eigentlich eine Prozessregel ist und keine Regel für das Sprechen –, aber ich glaube, die Grundregel, die dahintersteht, ist doch die: Du sollst eben jetzt auch wieder deinen Mitmenschen achten, du sollst nicht versuchen, ihn zu täuschen, du sollst aber auf der anderen Seite, wenn es eine Situation erfordert, notfalls auch lügen, wenn es einen anderen Wert gibt, der höher ist als der, den man durch die Lüge verletzt.

Bürger: Zum Beispiel?

Erlinger: Das etwas absur… schwierige Beispiel ist immer in der Moralphilosophie tatsächlich, auch schon wieder bei … sowohl bei Augustinus als auch bei Immanuel Kant, immer der Mörder, der fragt, ob sich sein Opfer in dem Haus versteckt hält, und Kant sagte also, ja, auch wenn man der Freund des Opfers ist, muss man in dem Fall die Wahrheit sagen und darf an der Stelle nicht lügen. Und wir würden eben sagen, nein, uns interessiert nicht ein absolutes Lügenverbot, sondern uns interessiert die Frage: Wie schützen wir unsere Mitmenschen und wie gehen wir miteinander um? Und da würden wir sagen: Natürlich ist es wichtig, das Leben des Opfers zu schützen, und in dem Fall darf ich dann auch lügen. Das hat dann zum Beispiel auch Schopenhauer oder andere Philosophen haben ihm da ganz klar widersprochen, Kant.

Bürger: Gibt es eigentlich auch moralische Grundsätze, die sich in den vergangenen Jahren nicht nur verändert, sondern regelrecht umgekehrt haben?

Erlinger: Ja, die gibt es auf alle Fälle, ich glaube, einer, wo man es am schönsten sieht, weil man es auch im täglichen Leben am meisten spürt, ist die Sparsamkeit. Die haben wir von unseren Eltern und Großeltern noch so als Tugend mit auf den Weg gegeben bekommen und es ist immer gut, Haus und Hof zusammenzuhalten und sparsam zu sein und nichts zu verschwenden. Das war auch sicherlich viele Jahrhunderte lang eine sehr sinnvolle Regel, aber heute hat sie sich tatsächlich wahrscheinlich ins Gegenteil verkehrt, weil man durch die Sparsamkeit, die dann eben auch in den Geiz übergehen kann, also in diese übertriebene zulasten anderer Menschen, dass man das Geld höher bewertet als die eigentlichen anderen Werte, kommt man dazu, wenn man als Konsument im Geschäft zu sehr dann sparen will, dass man zum Beispiel Lebensmittel zulasten der Umwelt, zulasten der Tiere, … wenn das Fleisch immer billiger wird, geht das nur, indem man die Massentierhaltung ganz massiv zulasten dieser Kreaturen ausbaut, oder eben auch, indem man in Geschäften einkauft, in denen dann die Angestellten ausgebeutet werden. Da sieht man, dass diese ursprüngliche, sehr sinnvolle Tugend durch unsere veränderten Lebensverhältnisse sich ins Gegenteil verkehrt hat.

Bürger: Das heißt, eine Moralvorstellung, die hat man nicht ein- für allemal festgelegt für sein Leben, sondern die muss man immer wieder neu überprüfen?

Erlinger: Man sollte die Grundsätze halten, aber dann die Regeln, die sich daraus ergeben, die muss man immer wieder überprüfen.

Bürger: Der Untertitel Ihres Buches "Wie man richtig gut lebt", der klingt so ein bisschen nach einem Wellness-Ratgeber, was das Buch aber gar nicht ist, außer man würde sagen, der Philosoph Kant ist ein gutes Vorbild für unsere moralische Wellness. Warum kommen Sie in dem Buch, in dem Sie auf Wissenschaftler und Philosophen aus unterschiedlichsten Richtungen Bezug nehmen – das hat man jetzt auch schon im Gespräch gemerkt –, doch immer wieder auf Kant zurück?

Erlinger: Das ist zum einen wahrscheinlich eine gewisse persönliche Vorliebe, weil mir seine sehr, sehr logische und klare Vorgehensweise gut gefällt und ich damit gut zurechtkomme, wenn ich ihm auch eben nicht in allem zustimme, also ich bin kein Kant-Jünger, der jetzt jedes Wort von Kant für vollkommen richtig hält, eben zum Beispiel bei der Lüge denke ich kommt er in seiner logisch vollkommen stringenten Vorangehensweise dann aber am Schluss zu einem Ergebnis, und da bin ich wieder der Meinung, da muss die Moral dann eingreifen – ist denn das richtig? Und dann finde ich es nicht. Und außerdem muss man sagen, dass Kant tatsächlich unser – jetzt auf jeden Fall in Deutschland –, unser philosophisches und juristisches Denken ganz, ganz massiv geprägt hat und deswegen ein ganz wichtiger sozusagen Ankerpunkt ist auch für richtiges Verhalten.

Bürger: Und was würde Kant und/oder Erlinger zu der Frage sagen, ob man eine Liebesbeziehung per SMS beenden darf?

Erlinger: Also was Kant dazu sagen darf – ich glaube, auch Kant würde wahrscheinlich da zum selben Ergebnis kommen: Ich glaube, es geht immer um die Frage, wie erhält man die Würde des Menschen? Das ist ja dieser zentrale Begriff. Man darf den Menschen, sagt bei Kant immer der kategorische Imperativ in der Selbstzweckformel, … Der Mensch muss immer Zweck sein und darf nicht Mittel werden, und ich glaube, wenn man im Zwischenmenschlichen, jetzt beim Schluss, beim Beenden einer Beziehung, was ja sehr, sehr hart an den Kern eines Menschen rangeht, wenn man da zu Mitteln greift, die dazu dienen, Zeit und Mühen zu sparen – wie jetzt eben sei es die SMS, sei es ein gelber Post-it, den man vielleicht womöglich dann aufs Frühstückstablett klebt und sagt, nun ist Schluss –, dann zeigt man, dass einem dieses schnelle Vorangehen wichtiger ist als der Mensch, und deswegen halte ich es nicht für richtig.

Bürger: "Moral: Wie man richtig gut lebt", so heißt das neue Buch von Rainer Erlinger, das bei S. Fischer erscheint und ab morgen ist es im Handel. Danke für Ihren Besuch!

Erlinger: Ich danke!