Wir sehen mehr, als wir glauben

22.08.2012
Blaue Wellenlinien lesen wir als Symbol für Wasser, ein Daumenkino gaukelt Bewegung vor: Die niederländische Kinderbuchautorin Joke van Leeuwen beschreibt, wie sich Sehgewohnheiten ausprägen - und unsere gesamte Wahrnehmung bestimmen.
Die Zeichnung besteht nur aus Punkten, Kreisen und wenigen Linien. Erst beim Blick auf den Titel wird klar, was hier dargestellt ist: "Tanzende Früchte". So hat Paul Klee seine Komposition genannt. Doch was würden wir ohne diese Bezeichnung sehen? Oder was wäre, hätte er sein Blatt "Narbengesichtige Monster" oder "Zwei geschmückte Stühle im schiefen Wald" betitelt, wie Joke van Leeuwen alternativ vorschlägt?

Dann sähen wir etwas völlig anderes, weiß die niederländische Kunsthistorikerin und Kinderbuchautorin. Denn Bilder entstehen im Kopf. Wie das geschieht, wie sich Sehgewohnheiten ausprägen und wie sie unsere Wahrnehmung bestimmen – ebenso wie Farbe, Form, Komposition und nicht zuletzt der kulturelle Hintergrund –, erklärt van Leeuwen in ihrer ausgezeichneten Sehschule "Augenblick mal".

"Unser Gehirn möchte gerne, dass wir an etwas denken", schreibt sie anfangs und zeigt zunächst mit einfachen Beispielen, dass wir ausnahmslos interpretieren, was wir sehen. Blaue Wellenlinien lesen wir als Symbol für Wasser. Ein zittriger Strich im Comic steht für Unsicherheit. Und ein Daumenkino gaukelt Bewegung vor.

Selbst, was wir nicht sehen, ordnen wir ein. Eine halb abgedeckte Zeichnung eines Mädchens etwa vervollständigt unser Gehirn mühelos zu einem Ganzen. Allerdings nicht unbedingt richtig, wie sich beim Umschlagen offenbart. Anstelle von Beinen, erscheint eine riesige Hutkrempe, und das Mädchen ist nur deren Verzierung. Ein verblüffender und zugleich Augen öffnender Effekt.

In den folgenden Kapiteln zeigt van Leeuwen, dass nicht nur unser Gehirn selbst manipuliert – etwa in dem es nicht Vorhandenes "mitdenkt"– es wird auch selbst manipuliert. Die Autorin erklärt dazu, wie Farben unterschiedliche Stimmungen erzeugen. Warum der Goldene Schnitt unser Harmoniebedürfnis befriedigt. Wieso Lichteinfall und Bildkomposition uns beeinflussen, oder, dass die Wahl der Perspektive unsere Wahrnehmung lenkt. Nicht ohne Grund ließ Leonardo da Vinci in seinem "Abendmahl" alle Fluchtlinien auf Jesus zulaufen und rückte Judas in den Schatten.

Große Werke der Kunstgeschichte kommen bei van Leeuwen ebenso zum Einsatz wie Comics, Zeichnungen, Fotografien und Werbebilder. Tatsächlich kann sie an jeder einzelnen Abbildung nachweisen, dass wir immer mehr sehen, als wir glauben. Beispielsweise wenn sie erläutert, dass Uhren in Werbebroschüren meist zehn Minuten nach zehn anzeigen, weil der Betrachter damit unbewusst jubelnd nach oben gestreckte Arme assoziiert. Das "sehen" wir, wenn auch nicht bewusst.

Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit van Leeuwen ihr komplexes Thema handhabt. Sie vermittelt spielerisch eine Fülle an Wissen und sensibilisiert ihre Leser für die unterschiedlichsten Wahrnehmungsphänomene. Zudem gelingt ihr immer wieder von Sehmustern auf Denkmuster zu schließen und umgekehrt. So warnt sie in einem größeren Absatz davor, Menschen als Piktogramme zu sehen. Und so ist ihre schöne Schule des "achtsamen" Sehens quasi nebenbei auch eine des "achtsamen" Denkens.

Besprochen von Eva Hepper

Joke van Leeuwen: Augenblick mal. Was wir sehen, wenn wir sehen und warum
Übersetzt von Hanni Ehlers
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2012
128 Seiten, 14,95 Euro
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