"Wir müssen in Afghanistan bleiben"

10.10.2007
Grünen-Fraktionsvize Jürgen Trittin will sich gemäß dem Parteitagsbeschluss bei der Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz im Bundestag enthalten. Man müsse in Afghanistan bleiben und brauche einen Strategiewechsel, aber keine Aufklärungsflugzeuge, sagte Trittin.
Birgit Kolkmann: Erst am Freitag wurden drei Bundeswehrsoldaten bei einem Selbstmordanschlag im nordafghanischen Kundus verletzt. Gleich am Sonntag kam es zu einem weiteren Anschlag auf das Feldlager der Bundeswehr mit Raketen. Niemand wurde verletzt. Aber im örtlichen Radiosender triumphierten Taliban "wir haben viele Kreuzritter getötet".

Es ist auch ein Propagandakrieg. Die Taliban wissen, wie nervös die deutsche Öffentlichkeit auf diese Nachrichten reagiert, gerade vor der Abstimmung über die Verlängerung der Mandate in Afghanistan. Darüber lacht im Hintergrund schon Jürgen Trittin. Den haben wir nämlich schon hier am Telefon. Jürgen Trittin ist der außenpolitische Koordinator der Grünen. Am Freitag, Herr Trittin, wird ja nun über den ISAF- und den Tornado-Einsatz namentlich abgestimmt. Gestern wurde geübt in den Fraktionen, also Probeabstimmungen gemacht. Da gab es nur zwei Nein-Stimmen bei der Union, zehn bei der SPD. Damit ist die Mehrheit im Bundestag gesichert. Aber interessant war ja das, was bei den Grünen los war. Sieben stimmten mit Nein, 26 enthalten sich und 15 wollen sich mit einem Ja gegen den Parteitagsbeschluss stellen, auch Fraktionschef Kuhn. Wie werden Sie abstimmen?

Jürgen Trittin: Wir werden uns, wie die Mehrheit auf dem Parteitag entschieden hat, enthalten, weil wir der Auffassung sind, wir müssen in Afghanistan bleiben, wir brauchen dort einen Strategiewechsel, aber nicht zusätzliche Aufklärungsflugzeuge.

Kolkmann: Also getreu der Parteilinie. Was aber ist Ihre politische Meinung? Muss der Einsatz so weitergehen?

Trittin: Die Parteilinie ist eine hoch politische Linie, und die Partei hat mit fast 90prozentiger Mehrheit beschlossen, dass Deutschland in Afghanistan bleiben soll. Sie hat aber auch beschlossen, dass dieses Verbleiben nur dann wirklich ein Erfolg werden wird, wenn man zwei Dinge tut. Erstens, wenn man dafür sorgt, dass es einen zivilen Strategiewechsel gibt. Dazu gehört, dass die zivile Hilfe in Afghanistan verdoppelt wird, dass das Missverhältnis zwischen ziviler Hilfe und militärischen Kosten endlich zugunsten der zivilen Hilfe aufgestockt wird und dass gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass in Afghanistan Schluss gemacht wird mit den Kommandoaktionen, die im Rahmen der Operation "enduring freedom" permanent dazu führen, dass zum Beispiel zivile Opfer zu beklagen sind und dass die internationale Präsenz insgesamt hier in ein schlechtes Licht gerückt wird.

Kolkmann: Und dass auch die internationalen Truppen und Soldaten, die dort sind, immer unsicherer sind. Die Sicherheitslage in Afghanistan, würden Sie sie als desolat bezeichnen und wenn ja weshalb? Trotz oder wegen des ISAF-Einsatzes?

Trittin: Ich würde da versuchen, in der Geschichte zu differenzieren. Es hat eine Stabilisierung gegeben ganz zu Anfang nach dem Sturz des Taliban-Regimes. Danach hat es viele Möglichkeiten gegeben für die oppositionellen Militanten, sich zu reorganisieren, insbesondere in Pakistan. Dann ist gleichzeitig ein Prozess in Gang getreten, wie sich ISAF erst ganz langsam, Schritt für Schritt im Lande ausgebreitet hat. Sie können sehen: Dort, wo diese Konzepte der Entwicklung und der militärischen Absicherung schon sehr lange existieren – das ist im Norden, das ist zum Teil im Westen auch so -, ist die Sicherheitslage deutlich besser als im Süden und im Osten. Insofern gibt es eine sehr schwierige Situation, aber einfach einen Strich drunterzuziehen und zu sagen, die Lage wäre immer schlechter gewesen, wäre sicherlich verkehrt, denn dann würden nicht beispielsweise, wie es bis heute so ist, so viele Flüchtlinge aus den Nachbarländern schrittweise wieder nach Afghanistan zurückkehren. Die Einschätzung dieser Afghanen ist wohl eher, dass sich die Sicherheitslage schrittweise gebessert hat, auch wegen der Präsenz internationaler Helfer und des Militärs.

Kolkmann: Der Grünen-Politiker Tom Koenigs will nur noch bis Ende des Jahres als UN-Sonderbeauftragter für Afghanistan amtieren. Er meint ja, man müsse mit den Taliban reden. Wäre das eine Kapitulation aus Ihrer Sicht?

Trittin: Nein. Wir haben schon im Petersberg-Prozess den Versuch gemacht - damals zur Schaffung einer entsprechenden Verfassung und der Organisation von Wahlen -, mit möglichst allen zu sprechen. Darunter waren viele, die auch nach den großzügigsten Maßstäben nicht als Demokraten gelten konnten. Hier den Versuch zu machen, mit allen, die sich auf die Basis der Verfassung der islamischen Republik von Afghanistan stellen wollen und die der Gewalt abschwören, auch zu sprechen und möglicherweise zu Verhandlungsergebnissen zu kommen, das ist vernünftig. Hier hat es ja auch einen entsprechenden Vorstoß von Präsident Karzai gegeben.

Kolkmann: Aber auch Präsident Karzai ist natürlich machtlos gegen die regionalen Clan-Chefs, gegen die Korruption innerhalb der Polizei, der Sicherheitsbehörden und in der gesamten Verwaltung. Afghanistan ist der größte Opium-Produzent der Welt. Dagegen kann offenbar die ISAF nichts machen, der afghanische Präsident nichts machen. Das läuft auf einer ganz anderen rechtlichen Schiene, nämlich in der Illegalität.

Trittin: Nein, das ist eher etwas anderes. Es ist nicht Aufgabe von ISAF, den Drogenhandel zu bekämpfen. Das ist auch richtig so. Das ist Aufgabe der Afghanen. Die Afghanen dafür in Stand zu setzen, das ist Teil der internationalen Hilfe, und hier muss sich insbesondere Deutschland schwere Vorwürfe gefallen lassen. Die Hilfe für den Polizeibereich ist völlig ungenügend. Gerade mal zwölf Millionen werden hier investiert. Bis heute sind die Polizisten, die Deutschland in hervorragender Art und Weise über zwei Jahre ausgebildet hat, nicht in ihre Funktionen eingerückt, in die Fläche gebracht worden. Statt diese Missstände zu beheben, haben wir in der polizeilichen Zusammenarbeit dieses Jahr gegenüber dem letzten Jahr eher einen Rückschlag zu verzeichnen. Das zeigt auch: Das eigentliche Problem in Afghanistan neben der Frage eines militärischen Strategiewechsels liegt in der zivilen Hilfe. Sie kommt zu langsam. Sie kommt nicht schnell genug am Boden an. Es gibt hier zu viele Hindernisse. Und wenn man Korruption, wenn man den Einfluss von regionalen Warlords zurückdrängen will, dann muss man staatliche Strukturen aufbauen und eine der wesentlichen staatlichen Strukturen ist die Frage der Polizei. Hier muss endlich was passieren, aber die Bundesregierung hat diese Aufgabe ja offensichtlich in Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit an Europa abgegeben.

Kolkmann: Da schließt sich nun wieder der Kreis, und wir kommen wieder zurück zu Ihrer Forderung, dass die zivile Hilfe verdoppelt werden müsste. Ist das, selbst wenn es dazu käme, immer noch eine Generationenaufgabe?

Trittin: Das wird eine Aufgabe sein, die nicht in wenigen Jahren zu erreichen ist, aber womit tatsächlich Bewegung und tatsächliche Verbesserung zu erreichen ist. Das kann man heute auch daran sehen, was zum Beispiel an Investitionen im Schulbereich geleistet worden ist. Hier ist man zu deutlichen Verbesserungen der Beschulung von Kindern, insbesondere auch von Mädchen gekommen.

Kolkmann: Vielen Dank! Das war Jürgen Trittin, der außenpolitische Koordinator der Bündnis-Grünen im Bundestag.