"Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen"

Marco Müller im Gespräch mit Jürgen König · 01.09.2010
"Wir müssen einfach zuhören, was uns die Filmemacher sagen, und wir müssen auch ihre Obsessionen beispielsweise ernst nehmen." Das sagt Marco Müller, Leiter der Filmfestspiele Venedig. Venedig sei "eine Art Testballon", wo man Filme auch auf den Weg schieben könne.
Jürgen König: Heute beginnen die 67. Filmfestspiele von Venedig. Gestern Nachmittag hatte ich Gelegenheit, mit dem Leiter dieser Filmfestspiele zu sprechen, mit Marco Müller. Unser Dolmetscher war Jörg Taszman.

Die Berlinale hatte ja in diesem Jahr durchaus durchwachsene Kritiken bekommen, der Festivalleiter von Cannes, Thierry Frémaux, er hatte im Vorfeld über die Schwierigkeiten berichtet, sein Programm zusammenzustellen, und also habe ich Marco Müller als Erstes gefragt, ob er jetzt der lachende Dritte im Bunde sei, ob er also die filmischen Highlights dieses Jahres abbekommen hätte.

Marco Müller: Ja, ich denke, das Problem liegt einfach an den Startterminen. Es hat sich in den letzten Jahren herauskristallisiert, dass die meisten attraktiven Filme einfach im Herbst und im Winter gestartet werden, und da haben wir einfach Glück, weil es ja mit dem Festival in Toronto noch ein zweites Festival gibt, was vor allen Dingen das Marktpotenzial der Filme ausschöpft und betont, und davon profitiert auch Venedig, weil wir dann eben zuerst die Premieren haben können, und die Filme wandern dann weiter nach Toronto. Und so haben wir sehr, sehr attraktive Filme, die streckenweise ihr Marktpotenzial dann auch schon bewiesen haben. Und es ist wirklich so, dass sehr viele Filmverleiher jetzt dazu neigen, ihre sehr attraktiven Filme erst Ende des Sommers herauszubringen.

König: Wenn man von den großen Filmfestivals spricht, dann fallen immer die Namen Venedig, Cannes und Berlin. Was unterscheidet diese Festivals überhaupt noch voneinander?

Müller: Sie reden hier mit jemandem, der einfach es ganz großartig hatte in seinem Leben. Ich hatte zuerst das Festival in Rotterdam geleitet, und das ist nun alles, aber eben keine dieser großen Festivalmaschinen, das ist eben keine Titanic. Und danach hatte ich das Glück, in Locarno Festivalleiter sein zu dürfen, und auch da hat man ja diesen wunderbaren Rhythmus, man hat diese Piazza Grande, wo Zehntausende von Zuschauern immer Platz finden. Und es ist mittlerweile so, dass eben auch die großen Festivals in Venedig von diesen kleinen Festivals profitiert haben. Und nicht umsonst heißt ja das Filmfestival in Venedig "La Mostra", das ist ja gar kein Festival.

König: Was können Sie denn von den kleineren Festivals lernen oder was haben Sie schon gelernt?

Müller: Nun, bei einem so großen Ereignis wie dem Filmfestival in Venedig müssen wir einfach auch für die Filmemacher da sein, wir müssen für die Leute da sein, die eben Filme machen, und eben auch für jene, die diese Film dann zirkulieren lassen, die diese Filme dann beispielsweise in die Kinos bringen. Und Kino ist heutzutage einfach auch anders verknüpft, und das ist anders, als beispielsweise Filmkritiker auf Filme und auf Kino reagieren. Und wir müssen einfach zuhören, was uns die Filmemacher sagen, und wir müssen auch ihre Obsessionen beispielsweise ernst nehmen, und wir müssen sozusagen fast transkribieren, was ihre ursprünglichen Intentionen waren.

Dabei ist es natürlich ganz wichtig, dass wir nicht bereits irgendwelchen vorgefestigten Ideen versuchen da nachzurennen, da sind überhaupt keine Ideologien bei uns mit im Spiel, und wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Und da entsteht dann praktisch eine Programmlinie, die darauf achtet, dass wir Filme zeigen, die sich eben auch mit Kino beschäftigen.

König: Keine Ideologie, sagen Sie, wir müssen Risiken übernehmen. Wenn Sie dieses Jahr auf Ihr Programm blicken, welche Themen und Tendenzen lassen sich feststellen im Kino, formal wie auch inhaltlich?

Müller: Man muss in gewisser Weise dem Kino irgendwie hinterherrennen, man muss sehen, was in diesem Kino passiert. Und wir haben durchaus Filmemacher gefunden, die sich eine neue Filmsprache angeeignet haben und die vor allen Dingen all diese neuen Möglichkeiten, die visuelle Medien heutzutage bringen, auch ausnutzen, die visuelle Kultur bietet. Und Kino hat sich da auch einfach verändert, und diese Filmemacher, die haben diese aktuellen Entwicklungen auch verfolgt. Es gibt einfach auch neue Bilder, neue visuelle Techniken, und man kann eigentlich heutzutage eher von visuellen Welten reden.

König: Lassen Sie uns über das deutsche Kino reden. In Ihrem Wettbewerb läuft Tom Tykwers Film "Drei" – haben Sie den Eindruck, dass das deutsche Kino in den letzten Jahren interessanter geworden ist?

Müller: Nun, natürlich verfolgen wir sehr oft, was im deutschen Kino geschieht, und das deutsche Kino hat sich weiterentwickelt und es entwickelt sich wirklich in alle Richtungen. Und Sie haben ja auf den einzigen Film hingewiesen, der jetzt im Wettbewerb läuft, der neue Film von Tom Tykwer, aber es gibt natürlich sehr viel mehr zu entdecken in anderen Sektionen, wie Uli Conti beispielsweise, wo sich Filmemacher einfach mit anderen Filmformen auseinandersetzen, zum Beispiel mit kürzeren Formen, mit Kurzfilmen, oder aber – ich muss es wieder erwähnen – sich mehr auch als visuelle Künstler einfach fühlen.

Und Tom Tykwer, ja, der ist nun wieder zurück in Venedig und er ist auch wieder da angekommen, wo er einmal angefangen hat. Er ist nach wie vor jemand, der eben versucht, Kino in Geschichten zu übersetzen, die in der Gesellschaft geschehen. Es freut mich sehr, dass das jetzt eben eine Komödie ist, und mittlerweile ist das so, dass über Komödien auch die lachen können, die eben keine Deutschen sind.

König: Im Arthousebereich, also im Filmkunstbereich, hat es ja in den letzten Jahren eine neue Entwicklung gegeben. Es gibt nicht mehr so die Filme, die den Spagat schaffen zwischen Publikum und Kritik – die Goldene Palme, der Goldene Bär, der Goldene Löwe, sie sind alle keine Garanten mehr für einen Kinoerfolg. Mein Eindruck ist, Regisseure wie, nehmen wir Pedro Almodovar, Aki Kaurismäki oder Wong Kar-Wai, sie haben keine wirklichen Nachfolger. Wie verfolgen Sie diese Entwicklung?

Müller: Nun, Festivals sind eben nach wie vor unglaublich wichtig. Und die Frage, die wir uns dann immer stellen, wie kann ein Film überleben, wie können wir dafür sorgen, dass ein Film auch noch andere Zuschauerschichten erreichen kann, dass er sein Spektrum erweitern kann. Und Venedig hat da wirklich die Möglichkeit, Venedig ist eine Art Testballon, hier können Filme zum ersten Mal auch ein wenig getestet werden, auch beim Publikum. Und ich glaube, selbst wenn dann Regisseure dabei sind, die vielleicht nicht so bekannt sind wie die, die Sie gerade erwähnt haben.

Das beste Beispiel ist, glaube ich, Kathryn Ann Bigelow, die mit ihrem Film, der mittlerweile für all diese Oscars ausgezeichnet wurde, "The Hurt Locker" – der Film ist hier in Venedig so gefeiert worden. Es gab hier diese ganz starke emotionale Reaktion auf diesen Film, und das hat diesem Film, glaube ich, auch geholfen, dass er dann einfach auch besser verliehen worden ist weltweit, dass er besser zirkulieren konnte. Und die Mostra hat eben diese Möglichkeit, Filme auf diesen Weg zu schieben. Und es ist einfach so, in Deutschland haben Sie noch ein sehr breites Filmangebot, in anderen Ländern, beispielsweise in Italien und in Spanien, da ist es viel, viel schwieriger, und da ist es auch viel, viel schwieriger, dass Filme, die eher neuen Tendenzen folgen, dann auch wirklich gezeigt werden.

König: Wenn Sie sagen, diese Entwicklung sei unterbrochen worden oder habe aufgehört, setzen Sie dieser Entwicklung etwas entgegen, jetzt mit dem Venedig-Festival, also zum Beispiel Ihr eigenes Land Italien betreffend?

Müller: Nun, die Mostra, die hat natürlich etwas versucht, und das ist ein Gleichgewicht zu schaffen aus dem, was unserem nationalen Stolz entspricht, und einem gewissen Widerspruch zu den Werken ausländischer Künstler, Schöpfer und Produzenten. Wir haben jetzt insgesamt in Venedig 29 italienische Filme, und ich gebe ganz offen zu, ich habe da die Berlinale ein bisschen nachgeahmt. Da gibt es diese deutsche Reihe, und nun gibt es hier in Venedig eben auch eine italienische Reihe.

Und das Interessante ist, dass wenn man sich zum Beispiel die neuesten Arbeiten von Marco Bellocchio oder Gabriele Salvatores anschaut, dann wird man feststellen, dass sie überhaupt nicht so aussehen wie die früheren Werke dieser Regisseure. Und warum sehen diese Filme so anders aus? Sie haben einfach nicht mehr genug Geld. Nun ist das wahrscheinlich wirklich nur eine Übergangsphase, also ich gehe davon aus, dass es eine ist, aber in diesem Fall haben diese beiden Filmemacher viel mehr experimentiert, auch mit neuen Bildern experimentiert, und all das führt dazu, dass sie für sich eine Art Neuanfang gefunden haben und dass das italienische Kino dadurch praktisch eine neue Seite aufgeschlagen hat.

König: Kommen wir zum Schluss, Herr Müller, noch einmal auf den Ort: Der Reiz von Venedig liegt natürlich eben an dem Ort, an dem verwunschenen Lido mit seiner melancholischen Stimmung. Nun musste man mit Schrecken lesen, dass das schöne Hotel Des Bains mit seinem prachtvollen Frühstückssaal, wo Visconti einst "Tod in Venedig" gedreht hat, dass dieses Hotel zugemacht wird. Das Hotel Des Bains ist doch auch ein Stück Kinogeschichte, dort waren immer die Gäste des Hotels untergebracht. Was bedeutet diese Schließung für Ihr Festival?

Müller: Nun, das ist natürlich eine Tragödie, aber dieser Visconti-Saal, der wird erhalten bleiben. Er ist jetzt auch unter Denkmalschutz gestellt worden, aber es geht natürlich auch um die Atmosphäre. Wissen Sie, Venedig ist eine melancholische Stadt, und diese Melancholie, die drückt sich dann auch manchmal bis hin auch auf die Gebäude. Und natürlich hätte man versuchen sollen, es zu erhalten, weil dieses fin du siècle in Venedig eben – man spürte da eben auch eine ganz andere Form von Kultur. Und es war eben diese Zeit, als ein neues Jahrhundert angebrochen war, und man fühlte sich da beispielsweise an die Künstler der Sezession erinnert – nicht nur an Visconti. Ja, und dieses Hotel hätte man wirklich erhalten sollen.

König: Letzte Frage, Herr Müller: Wie müssen wir uns die nächsten 24 Stunden eines Festivaldirektors vorstellen, schlafen Sie überhaupt noch?

Müller: Drei bis vier Stunden.

König: Und das reicht?

Müller: Ja.

König: Ich danke Ihnen! Heute beginnen die 67. Filmfestspiele von Venedig – ein Gespräch mit dem Leiter dieser Filmfestspiele, Marco Müller. Vielen Dank!