"Wir leben längst in einer Pokemon-Welt"

Alvis Hermanis im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 27.11.2011
Der lettische Regisseur Alvis Hermanis hat Puschkins "Eugen Onegin" an der Berliner Schaubühne inszeniert. Theater basiere auf Dialog, "auf einem energetischen Austausch", meint Hermanis, der in Riga ein Theater leitet und mit seinen Inszenierungen regelmäßig auf Festivals zu Gast ist.
Alvis Hermanis hat eine ganz neue Form gefunden, wie man den Stoff von damals heute noch vermitteln kann. Susanne Burkhardt hat Alvis Hermani während der Proben zu Puschkins "Eugen Onegin" in Berlin getroffen und ihn zuerst danach gefragt, welche Form das sein kann und was ihn an dem Puschkin-Stoff interessiert hat.

Alvis Hermanis: Es ging mir vor allem darum, zu begründen, warum man diesen historischen Text einem Publikum von heute nahebringen will – und wie man dabei den geschichtlichen Kontext entsprechend würdigt. Eunegin ist einer der ersten Dandys, und für uns war es wichtig mit dokumentarischen Anmerkungen den Bezug zu seiner Zeit herzustellen. Bei den Proben kam uns plötzlich der Gedanke, wir müssten die Geschichte so erzählen, dass wir mit Gerüchen beginnen, damit, wie die Welt damals roch, wie die Menschen gerochen haben, denn das erzählt eine Menge auch über Eugen Onegin.

Dandys waren die ersten Menschen damals, die sich jeden Tag gewaschen haben. Die Welt im 19. Jahrhundert war stinkig. Heute dagegen haben die Menschen ihren eigenen Geruch verloren. Wir können nur noch theoretisch mutmaßen, dass jeder Mensch seinen eigenen, einzigartigen Geruch hat. Das kann ja ein sehr schlechter oder guter, aber jedenfalls ein sehr privater, persönlicher Geruch sein.

Dandys waren mit die Ersten, die künstliche Gerüche verwendeten. Ganz wie heute, zum Beispiel an Flughäfen oder in Opernpremieren kannst du genau sagen: Ah – diese Dame hier riecht nach Valentino, diese hier nach Cavalli und diese nach Dior. Und Eugen Onegin war einer der Ersten, der diese Geruchs-Identität abgelegt hat. Sein Eigengeruch wurde durch einen künstlichen Geruch ersetzt.

Susanne Burkhardt: Sie haben gesagt, Sie haben sich gar nicht so auf die Geschichte von Eugen Onegin konzentriert, sondern mehr auf dieses Gesellschaftsporträt, trotzdem frag ich noch mal, was stimmt nicht mit ihm?

Hermanis: Er war zu sehr mit sich beschäftigt, zu narzisstisch, er hat sich selbst viel zu stark kontrolliert. Denn was heißt das denn, sich zu verlieben? Das heißt doch, die Deckung aufzugeben, ungeschützt zu sein, du bist verwundbar und durchlässig.

Burkhardt: Es gibt ja den schönen Satz von Puschkin "Er liebte, wie man heute nicht mehr lieben kann" – was würden Sie sagen, machte diese Liebe aus – und warum ist eine solche Liebe vielleicht nicht mehr möglich?

Hermanis: In unserer modernen, entwickelten, weißen Gesellschaft empfinden vermutlich nur noch die Teenager ehrliche Gefühle. Die anderen lernen sehr schnell, wie man sich schützt – das sieht man auch an den katastrophalen demografischen Zahlen in Europa. Jeder will sich schützen – eben auch vor echten Gefühlen. Wenn man Romane aus dem 19. Jahrhundert liest, da endet jede unglückliche Liebesgeschichte mit ernst zu nehmenden Gesundheitsproblemen:
Wie bei Werther oder wie all die jungen Frauen und Mädchen – die liegen monatelang im Bett aus Liebeskummer – manche überleben – manche nicht. Liebe war damals noch ein Auslöser physischer Versehrtheit. (physical distraction)

Burkhardt: Aber hat das mit unserer Gesellschaft zu tun, dass das so selten stattfindet, dass wir auch zu wenig wagemutig sind, zu wenig in der Lage, uns ganz hinzugeben, weil wir – wie sie ja sagen, uns immer schützen wollen?

Hermanis: Es geht gar nicht nur um Gefühle. Es ist so, wie Slvavoj Zizek sagt: Für alles gibt es heute einen Ersatz: den entkoffeinierten Kaffee, die elektronische Zigarette, es gibt Porno statt richtigen Sex – für alles gibt es einen künstlichen Ersatz – wir sind in jedem Moment davon umgeben. Wir leben längst in einer Pokemon-Welt. Statt eines echten Leben, leben wir ein Pokemon-Leben – mit Pokemon-Gefühlen …

Burkhardt: DeutschlandRadio Kultur im Gespräch mit dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis, seine Inszenierung des Puschkin-Stoffs "Eugen Onegin” ist seit dieser Woche an der Berliner Schaubühne zu sehen. Für "Schukschins Erzählungen" fuhren Sie mit dem Ensemble zur Recherche nach Sibirien, für "Lettische Geschichten" haben Sie das Leben von Kindergärtnerinnen, Soldaten und Bartänzerinnen in Riga studiert, und in der "Kölner Affäre" erzählen Sie die Lebensgeschichten ganz normaler Kölner Bürger – wo und wie haben Sie für "Eugen Onegin" recherchiert?

Hermanis: Wir haben viel recherchiert und dabei die Charaktere von Puschkins Geschichte wie anthropologische Phänomene behandelt. Schließlich haben sie vor über 2. Jahrhunderten gelebt – es gibt keine Zeitzeugen mehr. Also mussten wir uns auf Bücher verlassen. In unserem Fall haben wir die "Onegin"-Vers-Texte von Puschkin mit Kommentaren von Literaturwissenschaftlern, Übersetzern gemischt – und mit Arbeiten von Juri Lotman. Lotman war ein international bekannter Semiotiker, in den 60er- und 70er-Jahren war er der Guru der Semiotik. Er glaubte, dass man historische Texte nur verstehen kann, wenn man das Alltagsleben der Menschen aus dieser Zeit kennt. Zum Beispiel – wenn wir über Tatjana sprechen, müssen wir uns zuerst fragen: Tatjana ist ein 16-jähriges Mädchen, also im Alter der ersten Menstruation. Also fragten wir uns erstmal – wie sah das damals aus – mit der täglichen Hygiene? Für Adlige oder Bauernmädchen? Lotman glaubte, dass ohne dieses Basiswissen kein Verständnis der Texte von damals möglich ist. Er fand, man müsse diese alten Texte als archäologische Grabungen verstehen. Und das haben wir mit "Eugen Onegin" versucht – ich habe schon vorgeschlagen, das Stück "Eugen Onegin mit Fußnoten" zu nennen – aber mit so einem Titel hätten wir vermutlich kaum Tickets verkauft…

Burkhardt: Bei Puschkin heißt es: "Anstelle des Glücks gibt Gott uns die Gewöhnung" – in einem früheren Interview haben Sie einmal gesagt, die Vorstellung, immer das gleiche machen zu müssen, oder überhaupt, sich irgendwie zu wiederholen, ist für Sie ganz schrecklich… denken Sie immer noch so?

Hermanis: Das ist die einzige Chance in meinem Beruf – als Theaterregisseur - um langfristig überleben zu können. Das ist ganz klar. Die Regisseure, die an einer Ästhetik festhalten, sind viel gefährdeter. Denn das Publikum verändert sich viel schneller, als wir uns das vorstellen können…

Burkhardt: Und was ist es, was Sie dabei antreibt – ist es eher die Neugierde oder die Angst vor der Langeweile – für sich selber oder fürs Publikum?

Hermanis: Beides. Das Publikum zu ignorieren ist völlig bescheuert, denn Theater basiert ja auf Dialog. Auf einen energetischen Austausch. Das ist die Idee des Theaters. Dass Menschen sich Tickets kaufen und für Stunden in einem dunklen Raum sitzen und auf der Bühne jemandem zuschauen, der vorgibt, jemand anderes zu sein – das ist eine ziemlich schräge Verabredung. Die ganze Situation dreht sich um die Kommunikation mit dem Publikum – das kann man nicht ignorieren. Und das Publikum, mit dem ich heute zu tun habe, ist ein ganz anderes Publikum als das vor zehn Jahren…

Burkhardt: Wie hat es sich verändert? Ist es elitärer geworden?

Hermanis: Ums ganz einfach zu sagen: Vor fünfzehn Jahren konnte ich mich auf ein Publikum verlassen, das Bücher liest. Heute habe ich es mit einem Publikum zu tun, das nicht mehr liest – sondern Fernsehen schaut und am Computer sitzt. Das sind verschiedene anthropologische Gattungen. Man führt den Dialog mit einem anderen Partner.

Burkhardt: Das beeinflusst dann aber sicher auch Ihre Arbeit – weil die Erwartungen von einem Fernsehpublikum sind, vielleicht andere?

Hermanis: Eine ganz andere Sprache. Eine völlig andere Art der Kommunikation. Ein anderes Tempo, anderer Zugang, andere Energien – eine andere Atmosphäre. Alles. Es ist offensichtlich, dass wir es mit einem Publikum zu tun haben, das keine Bücher liest. Sie lesen wirklich keine Bücher. Wenn man sie fragt, sagen sie vielleicht: "Aber ich lese natürlich Bücher" – aber wenn man nachfragt, lesen sie in zwei Monaten ein Buch. Intelligente Menschen, mit akademischen Abschlüssen – aber sie lesen keine Bücher.

Burkhardt: Vielleicht war das der Grund, warum Sie Eugen Onegin mit Fußnoten angereichert haben, um dieser neuen Generation die ganze Geschichte zu erzählen..

Hermanis: Es ist wie googlen. Wir erzählen Eugen Onegin und halten immer an, wenn wir was nicht wissen und googlen das dann. Eine andere Mentalität zum Beispiel. Naja – ich will nicht wie der alte Großvater klingen, der sich über die laute Musik aufregt. In Lettland zum Beispiel habe ich bemerkt, dass es eine junge Generation gibt, Studenten, die überraschend idealistisch und irrational sind, und die sind sehr enttäuscht von diesem pragmatischen, rationalen, modernen Lifestyle. Also wer weiß – in den USA folgten ja auch auf die Yuppies die Grunge-Generation – also mit ganz gegensätzlichen Wertvorstellungen. Zukünftige Entwicklungen folgen manchmal keiner Logik – wir wissen also nicht, was uns erwartet.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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