"Wir heimatlosen Weltbürger" von Marsili und Milanese

Plädoyer für eine transnationale Partei

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Wir heimatlosen Weltbürger". Im Hintergrund ist ein Blick auf das Plenum des EU-Parlaments in Strasbourg.
Marsili und Milanese rufen in ihrem Buch "Wir heimatlosen Weltbürger" dazu auf, sich den EU-Institutionen zu bemächtigen. © Suhrkamp / Picture Alliance / dpa / Patrick Seeger / epa
Von Eike Gebhardt · 20.05.2019
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Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese wollen Europa retten. Kämpferisch in der Haltung kritisieren sie die bestehenden Strukturen. Ihre Vision: Mehr Partizipation und kultureller Austausch.
Wie kann man Europa vor sich selbst retten? Das ist die Frage, die sich die beiden jungen Autoren Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese stellen. Beide sind sie 1984 geboren und Gründer der Organisation European Alternatives, die sich für ein demokratischeres, gerechteres und kulturell offenes Europa einsetzt.
Ihr Text versucht eine historische Rekonstruktion der – eben hausgemachten, also weder naturwüchsigen noch aufgedrängten – Probleme, die Europa zur Zeit teils lähmen, teils zu zerreißen scheinen. Und er will natürlich eine Alternative aufzuzeigen, eben die "Rettung" und zwar nicht durch abgehobene politische Programme, sondern durch die Gestaltungsmacht der Betroffenen: "Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind bislang die vergessenen politischen Subjekte des europäischen Einigungsprojektes", schreiben die Europaexpertin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse in ihrem Vorwort.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten

Marsili und Milanese werden gleich konkret: "Zwei unterschiedliche Geschichten" habe Europa in den letzten Jahren durchlaufen: "die der Bürgerinnen und Bürger auf der Überholspur, die neue politische, soziale und kulturelle Formen erfinden, um die Probleme der Gegenwart zu lösen; und die eines institutionalisierten Europa, das auf der rechten Spur nicht wirklich vorankommt und sich verzweifelt bemüht, den Anschein von Souveränität und Kontrolle aufrechtzuerhalten, als ob die Geschichte wirklich vorbei wäre und wir nun bis ans Ende unserer Tage den Status quo verwalten könnten."
Die Klage, die Bürger seien von der Gestaltung ihres eigenen Schicksals weithin ausgeschlossen, ist nicht neu, wohl aber die kämpferische Haltung, die sich nicht beschränken will auf noch ein paar Proteste, Konzeptpapiere und Wahlhilfen. "Die unsichtbare Hand kann nicht bestehen ohne die sichtbare Faust", so hätten Neoliberale überall auf der Welt ihren "Kreuzzug" gerechtfertigt, "um die Marktkräfte aus den noch verbliebenen Fesseln der sozialen Gerechtigkeit zu befreien".

Gegen die Entfremdung der Kulturen

Zwar plädieren die Autoren nicht für eine entsprechende bewaffnete Antwort, wohl aber für einen Marsch durch die Institutionen, den, etwas behäbiger und langfristiger gedacht, schon die 68er ins Auge gefasst hatten. Kurzum, es geht ihnen im eine transnationale Partei, die die stetig zunehmende Entfremdung der europäischen Kulturen – und am Ende nicht nur dieser – überwindet wie das Schengen-Abkommen die Landesgrenzen.
Was wissen wir denn über die spanischen oder griechischen Parlamentarier in Brüssel, die über unser Schicksal daheim mitbestimmen sollen – selbst die Kenntnis der jeweiligen Kulturen, ja das Interesse daran, habe in den letzten Jahrzehnten radikal abgenommen, könnte man, gestützt von deprimierenden Statistiken, hinzufügen. Transnationaler Dialog? Fehlanzeige. Höchstens in bisschen in Wissenschaft und Wirtschaft.

Werbung für ein sozialpolitisches Europa

"Wenn es uns nicht gelingt, hier, im am stärksten integrierten und privilegiertesten Teil der Welt, transnationale Kooperation und Innovation auf die Beine zu stellen, senden wir damit eine düstere Botschaft an alle Menschen in weniger glücklichen Umständen." Es geht den Autoren also nicht um ein "Make Europe great again!", sondern um eine umfassendere Verantwortung für das sozialpolitische Modell, das in vielen Teilen der Welt noch immer als Vorbild dient.
Die transnationale Partei, eben jener angeblich heimatlosen Weltbürger, für die sie plädieren, wird hier zwar nicht in allen institutionellen Feinheiten vorgestellt. Aber sie wird in ihren Vorformen diverser Bewegungen und Organisationen – und auch ihrer "Helden" – immerhin in Umrissen sichtbar genug, um überzeugend, ja vielleicht zwingend zu wirken.

Lorenzo Marsili, Niccolò Milanese: "Wir heimatlosen Weltbürger"
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer
Berlin, Suhrkamp 2019
280 Seiten, 18 Euro

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