"Wir haben noch reichere Reiche und noch ärmere Arme"

Moderation: Birgit Kolkmann · 14.03.2008
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, hat eine negative Bilanz der Agenda 2010 gezogen. Die Gesetze hätten Deutschland sozial tief gespalten, sagte Schneider. Die Mittelschicht breche weg und gleichzeitig vergrößere sich die Kluft zwischen Arm und Reich erheblich.
Birgit Kolkmann: Heute vor fünf Jahren leitete Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 die Reformpolitik der rot-grünen Koalition ein. Zum Interview begrüße ich nun den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, schönen guten Morgen, Ulrich Schneider.

Ulrich Schneider: Schönen guten Morgen.

Kolkmann: Herr Schneider, gibt es mehr Gewinner oder Verlierer der Agenda-Politik?

Schneider: Ich glaube, es sind eher mehr Verlierer, wenn man mal das Saldo rechnet, denn wir dürfen nicht übersehen, die Agenda und insbesondere die Hartz-Gesetze haben zu einem rasanten Anstieg der Armut in Deutschland beigetragen. Wir haben heute die Situation, dass rund 13 Prozent aller Menschen an oder unter der Armutsgrenze leben. Diese Gesetze haben Deutschland ganz tief gespalten im Einkommensbereich, wir sprechen von einer wegbrechenden Mittelschicht. Das heißt, die Kluft zwischen Arm und Reich hat gleichzeitig erheblich zugenommen. Wenn man sich also dieses anschaut, muss man feststellen, leider haben wir es offensichtlich mit mehr Verlierern als Gewinnern zu tun.

Kolkmann: Also die wegbrechende Mittelschicht, dass also die existenzbedrohlichen Situationen auch in dem Mittelbereich der Gesellschaft ankommen, das sehen Sie als eine klare Folge der Agenda 2010?

Schneider: Das hat außerordentlich stark damit zu tun, denn wir müssen sehen, die Agenda 2010, insbesondere die Hartz-Gesetze haben ja den Weg nach unten frei gemacht, indem man bei den Lohnersatzleistungen, also hier bei Hartz IV, jegliche Zumutbarkeitsregelungen strich und gesagt hat, ihr müsst jetzt alles machen, was tatsächlich kommt, hat man natürlich einen Schub dahin geschaffen, dass hier auch Dumpinglöhne plötzlich eine Rolle spielten und dass hier plötzlich Preise gezahlt wurden, der Niedriglohnsektor in eine Art ausgebreitet wurde, dass Menschen tatsächlich mit dem, was die verdienten, nicht mehr über die Runden kommen. Wir haben heute bei Hartz IV eine Millionen sogenannter Aufstocker, das heißt Menschen, die arbeiten, aber die trotzdem nicht über die Runden kommen. Und da sind immerhin 400.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Vollerwerbstätige darunter. Wir haben das, was man in der Sozialwissenschaft, in der Wirtschaftswissenschaft "working poor" nennt, also ein Arbeiten, eine Erwerbstätigkeit in Armut in einem Ausmaß, wie wir uns das vor fünf oder zehn Jahren nie hätten träumen lassen.

Kolkmann: Auf der anderen Seite stehen ja die über eine Millionen Arbeitsplätze, die seitdem neu geschaffen worden sind. Der Aufschwung, der auch da war, nun langsam wieder abflacht, hat das nun nichts mit der Agenda-Politik zu tun?

Schneider: Doch, das hat sehr, sehr deutlich damit zu tun, denn viele dieser Arbeitsplätze sind nun mal schlechte Arbeitsplätze, das heißt, Arbeitsplätze mit außerordentlich geringer Bezahlung, Arbeitsplätze, die sehr stark zeitlich befristet sind, Arbeitsplätze, die dem Menschen im Grunde genommen keine dauerhafte Perspektive geben, und dafür, für diese Form von Arbeitsplätzen hat die Agenda 2010 praktisch den Weg frei gemacht.

Kolkmann: Ist das eine Unsozial-Agenda?

Schneider: Ja, diese Agenda war von Anfang an unsozial, wenn man sich das ganze Gesamtzusammenspiel der Reformen ansieht. Wir dürfen nicht vergessen, in dem Jahr, als wir Hartz IV in Kraft setzten und hier 3,5 Milliarden Euro praktisch an Transferleistungen abzogen gegenüber den Menschen, die dringend das Geld brauchten, in dem gleichen Jahr und an dem gleichen Tag hat man die dritte Stufe der Steuerreform in Kraft gesetzt, das heißt, die Senkung des Spitzensteuersatzes, was eine Entlastung für Spitzenverdiener in etwa der gleichen Größenordnung brachte. Und das bedeutet ganz klar, auch staatlich initiierte Umverteilung von unten nach oben, die damit stattgefunden hat. Das heißt, die Agenda 2010 war alles andere als neutral, sondern hat in der Tat auch dafür gesorgt, dass die Umverteilung stattfand mit dem Ergebnis, was wir heute haben, nämlich noch reichere Reiche und noch ärmere Arme.

Kolkmann: Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundeskanzler brachte diese eigentlich sehr lange überfälligen Reformen dann ja auf den Weg. Nun sagt sein Amtsnachfolger im Parteivorsitz, Kurt Beck, die Agenda sei zu verteidigen, wenn auch die ein oder andere soziale Verträglichkeit wiederhergestellt werden müsse. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Schneider: Halte ich für hochvernünftig, denn das, was die Agenda 2010 versuchte anzupacken, war ja durchaus richtig erkannt. Ein ausuferndes Gesundheitssystem, was die Kosten anbelangte, das musste in den Griff bekommen werden. Oder eben auch diese fürchterliche Doppelverwaltung zwischen Arbeitsverwaltung einerseits, Sozialhilfeverwaltung andererseits, dass Menschen für Kleinstbeträge von einem Amt zum anderen Amt rennen mussten, das waren Dinge, die musste man anpacken. Nur wie man es machte, hatte soziale Verwerfungen zur Folge, die unvertretbar waren.

Kolkmann: Also der Ansatz richtig, aber alles nicht richtig durchdacht?

Schneider: Das war alles ein bisschen mit der heißen Nadel gestrickt, dadurch nicht durchdacht. Und wahrscheinlich hatte man von vielen Konsequenzen, die eintraten, auch schlicht überhaupt keinen Schimmer. Dass derartig stark die Armutsquoten nach oben schnellen würden, damit hat wahrscheinlich auch im Kanzleramt und im Arbeitsministerium zum Zeitpunkt der Verabschiedung von 2010 noch keiner gerechnet.

Kolkmann: Wahrscheinlich auch nicht damit, dass es nun in Folge der Agenda-Politik auch ein Fünf-Parteien-System in Deutschland gibt.

Schneider: Ja, diese Radikalisierungstendenzen und diese neue Parteienlandschaft ist sicherlich eine direkte Folge der Agenda 2010, klar. Und damit hat keiner gerechnet. Es hat auch keiner mit den Montagsdemonstrationen gerechnet, es hat keiner damit gerechnet, dass wirklich viel weniger Menschen als erwartet diese Politikagenda 2010 unterstützen würden.

Kolkmann: Was würden Sie für die nächsten Jahre sagen? Es muss weiter reformiert werden, aber im Grunde muss doch die Reform reformiert werden, oder?

Schneider: Wir müssen jetzt die Reformen praktisch hier und da korrigieren. Ich denke, wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass bei Hartz IV endlich Regelsätze, wie das heißt, also ein Höhe von Transferleistungen einbezogen wird, wovon Menschen wirklich leben können. Denn das war ja auch so eine Sache, vor den Wahlen hatte hier die SPD und insbesondere der Kanzler ja gesagt, wir werden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenlegen, aber auf einem höheren Niveau als Sozialhilfe. Das war versprochen, das passierte nicht. Bei der großen Agenda-Rede hieß es plötzlich, da wird wohl keine Luft mehr drin sein, aber das müssen wir jetzt tun. Wir müssen um 10 Prozent, 20 Prozent erhöhen, damit die Leute über die Runden kommen. Wir müssen sicherlich hingehen und jetzt klare Strukturen schaffen endlich, was die Arbeitsverwaltung und die Hartz-IV-Gesetze und deren verwaltungsrechtliche Umsetzung anbelangt. Wenn das Bundesverfassungsgerichtsurteil hier gesagt hat, mit diesen Mischkonstruktionen geht es nicht, dann sollte man das ernst nehmen, dann sollte jetzt man dafür sorgen, dass die Kommunen endlich zuständig werden und nicht jetzt wieder mit faulen Kompromissen arbeiten wollen, wie das im Moment seitens des Arbeitsministeriums der Fall ist. Und dritte Maßnahme, wir müssten hingehen und uns der Tatsache stellen, dass wir bei allen Agenda- und bei allen Hartz-Gesetzen viele Menschen derzeit einfach nicht mehr erreichen für den ersten Arbeitsmarkt, Menschen mit besonderen Handicaps, Menschen, die auch schon älter sind. Und da braucht es einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor, um auch diesen endlich wieder Perspektiven zu geben. Dann hätte man wahrscheinlich die Agenda 2010 so flankiert, dass sie Sinn macht.