"Wir haben im Prinzip keine Legitimität"

Slim Amamou im Gespräch mit Susanne Führer · 05.05.2011
Vor der Revolution hat er als Blogger gegen das Regime in Tunesien protestiert. Inzwischen ist Slim Amamou selbst Mitglied der Übergangsregierung. Wichtigste Aufgabe dieser sei, dafür zu sorgen, dass die Tunesier an der Demokratie auch teilnehmen.
Susanne Führer: Revolutionen sind radikal, sie werfen das Alte über den Haufen, aus oben wird unten, aus unten oben. Und so musste in Tunesien der frühere Präsident, Ben Ali, aus dem Land fliehen, und der frühere Häftling, Slim Amamou, wurde Regierungsmitglied, und zwar als Staatssekretär für Jugend und Sport. Zuvor war Slim Amamou als regimekritischer Blogger berühmt geworden. In diesen Tagen ist er auf Einladung verschiedener Journalistenverbände in Berlin, und ich freue mich sehr, dass er nun bei uns im Funkhaus ist. Bienvenue, Monsieur Amamou!

Slim Amamou: Merci!

Führer: Kneifen Sie sich manchmal noch selbst – im Januar saßen Sie ja noch im Gefängnis, und wenige Tage nach der Freilassung dann schon in der Regierung?

Amamou: Nein, dazu habe ich ehrlich gesagt überhaupt keine Zeit. Seit dem 6. Januar diesen Jahres, an dem Tag, an dem man mich verhaftet hat, ist jeden Tag etwas Neues passiert, haben sich jeden Tag die Dinge entwickelt, und da habe ich überhaupt nicht die Möglichkeit gehabt, mich auch nur mal zu erholen. Und erst im Juli, nach den Wahlen, da werde ich dann ein bisschen Ferien nehmen, und dann werde ich auch die Möglichkeit haben, mal ein bisschen nach hinten zu schauen.

Führer: Auf die Wahlen kommen wir noch zu sprechen, die ersten freien Parlamentswahlen sind für Juli geplant. Was ist denn jetzt zurzeit eigentlich Ihre Hauptaufgabe, Ihre Hauptarbeit?

Amamou: Das Ziel dieser Übergangsregierung ist es erst einmal, die Wahlen vorzubereiten, sodass eben auch alle an diesen Wahlen teilnehmen können und dass wir Bedingungen dafür schaffen. Weil es reicht ja nicht alleine eine Logistik zu installieren, sondern man muss eben auch ein Umfeld dafür schaffen, dass die Leute in Ruhe wählen können, dass es dann auch eine hohe Wahlbeteiligung gibt, dass die Tunesier an dieser Demokratie wirklich auch teilnehmen.

In meinem Ministerium verfolge ich zurzeit eigentlich nur zwei Projekte: Das erste Projekt nennt sich Open Data, und damit möchte ich eigentlich, dass alle Tunesier einen Zugriff wirklich auch auf die Daten des Ministeriums haben. Und ich versuche das eben auch auf andere Ministerien auszuweiten, damit sich jeder normale Bürger eben auch wirklich informieren kann, was in unserem Ministerium und was überhaupt politisch geschieht. Und das zweite Projekt ist es, die Jugendhäuser wieder zu reaktivieren, sie wieder zu öffnen. Diese Jugendhäuser haben unter dem Regime von Ben Ali eigentlich nur der Propaganda gedient, es fand dort überhaupt keine Kultur statt. Und diese wiederzueröffnen und mit Leben zu erfüllen, ist eins meiner beiden Projekte.

Führer: Nach den Parlamentswahlen im Juli soll es ja auch eine verfassunggebende Versammlung geben, weil man ja noch gar nicht weiß, wie soll eigentlich der neue Staat aussehen. Wie ist denn jetzt so die, ja, wie soll ich sagen, die Atmosphäre im Land vor den Wahlen? Haben die Tunesier das Gefühl, dass die Zeit ausreicht, sich zu entscheiden zwischen den verschiedenen Parteien, gibt es genügend Mittel und Wege, damit die Menschen sich zu Parteien zusammenschließen können und so weiter, oder kommt das nicht vielleicht doch noch auch etwas zu schnell jetzt?

Amamou: Nun, es stimmt, es kommt alles sehr schnell, und man hat dann auch nicht immer die Zeit, um das alles optimal vorzubereiten. Andererseits sind schnelle Wahlen auch wirklich sehr wichtig, weil zurzeit ist einfach keine Verfassung da, der in irgendeiner Weise gefolgt wird, und ganz Tunesien hängt eigentlich von dem guten Willen ab, aber wir sind nicht repräsentationsfähig, wir sind nicht vom Volk gewählt worden, wir haben im Prinzip keine Legitimität. Das ist eine reine symbolische Legitimität, die wir zurzeit haben, und das ist auf Dauer kein Zustand. Und deswegen muss das Volk selbst entscheiden und muss das Volk diese Situation, die eben für einige auch zu schnell kommt, einfach auch akzeptieren.

Führer: Bis zum Sturz Ben Alis herrschte ja Einigkeit, Ben Ali muss weg, jetzt ist er weg, und nun ist die Einigkeit sicher dahin, das ist so in einer Demokratie, aber ich kann mir vorstellen, dass das für viele auch enttäuschend ist.

Amamou: Nun ja, vor allem junge Menschen, auch die, die damals unter diesen Demonstranten waren, die wollten, dass Ben Ali verschwindet. Die sind jetzt in einer etwas anderen Situation, weil sie haben es geschafft, Ben Ali ist weg, aber sie sind jetzt in einer Phase, wo sie sich selbst realisieren wollen, wo sie sich selbst ausdrücken wollen, auch das, was sie sich wünschen, ganz lautstark ausdrücken. Aber natürlich hat sich Tunesien nicht über Nacht verändert. Es ist eine Administration da, die eben noch dort ist, und das ist auch ganz normal, dass sich ein Land nicht so radikal und auch nicht so schnell verändern kann. Es ist immer noch das gleiche Land, der Unterschied ist einfach nur, es gibt eine andere Perspektive, es gibt einen anderen Ausblick, der streckenweise auch sehr radikal ist, aber das ist so die derzeitige Situation.

Führer: Sie haben vorhin gesagt, nach den Wahlen werden Sie erst mal ein bisschen Urlaub machen – heißt das, dass Sie sich nicht zur Wahl stellen werden? Wollen Sie die Politik wieder verlassen?

Amamou: Diese verfassungsgebende Versammlung wird ja für zwei Jahre gewählt, und ich hatte eigentlich nicht die Absicht, ein Berufspolitiker zu werden. Außerdem habe ich wie alle Mitglieder der Übergangsregierung versprochen, dass wir uns selber als Person nicht zur Wahl stellen werden und auch dem Volk gegenüber einfach ehrlich und anständig bleiben.

Führer: Der tunesische Staatssekretär für Jugend und Sport und zugleich Tunesiens berühmtester Blogger ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur: Slim Amamou. Herr Amamou, vor der Revolution haben Sie immer wieder gegen die Zensur in Tunesien protestiert, agiert, getwittert, gebloggt – wie ist das heute? Gibt es noch Zensur in Tunesien?

Amamou: Nein, es gibt derzeit keine Form von Zensur mehr in Tunesien, im Internet sowieso nicht, aber auch, was die klassischen Medien angeht, gibt es keine Zensur mehr. Was es allerdings schon noch gibt, ist eine Form von Selbstzensur, vor allen Dingen in diesen klassischen Medien, weil die Journalisten, denen ist es noch nicht gelungen, sich wirklich an diese neuen Zeiten anzupassen, die haben da wirklich noch Probleme mit.

Dann haben wir nach wie vor auch ein Problem mit Fehlinformationen, überhaupt einer gewissen Logistik, einer gewissen Struktur von Informationen, das sind Probleme, die wir mit Journalisten generell zurzeit haben, aber die Regierung selbst übt überhaupt keine Form von Zensur mehr aus auf die Medien. Und was die Internetzensur angeht, gegen die ich so lange gekämpft habe, wie Sie richtig gesagt haben, das Problem habe ich sofort geregelt. Das war auch eine Bedingung, als ich Mitglied der Regierung wurde. Ich habe mich mit denjenigen, die verantwortlich waren für diese Zensur, zusammengesetzt, und eine Internetzensur gibt es nicht mehr.

Führer: Könnten Sie das noch ein bisschen erläutern, welche Probleme die tunesischen Journalisten mit der neuen Freiheit haben?

Amamou: Nun, die tunesischen Journalisten haben einfach in einem ganz anderen System gelebt. Sie waren daran gewöhnt, Befehle auszuüben, und sie verstanden überhaupt nichts von journalistischer Freiheit und waren auch gar nicht dazu in der Lage, weil sie waren letztendlich nur Ausführende. Sie hatten sozusagen ihren eigenen Job gar nicht richtig verstanden. Und nun, wo alles möglich ist, wo plötzlich eine journalistische Freiheit entsteht, haben sie zwar gute theoretische Voraussetzungen für ihren Job, aber praktisch haben sie so noch nicht gearbeitet.

Es gibt immer noch alte Reflexe, die sie haben, und die müssen durch neue Reflexe ersetzt werden. Beispielsweise Themen wie Quellenschutz oder dass man seine Quellen prüft, dass man Informationen überhaupt prüft, ist etwas, was sie lernen müssen. Und dann kommt auch noch hinzu, dass es eine weitere Form von Diffamierung gibt. Früher wurde die Opposition diffamiert, die gegen Ben Ali war, und diese Diffamierung geht jetzt weiter, nur dass jetzt eben das alte Regime um Ben Ali diffamiert wird. Da hat sich also stilistisch eben noch nichts geändert, das ist noch ein langer Weg für die ausgebildeten Journalisten in Tunesien, wirklich ihren Job zu lernen.

Führer: Sie haben vorhin von Ihrem Projekt Open Data im Ministerium erzählt, welche Rolle spielt denn das Internet ansonsten für Ihre Arbeit und welche Rolle spielt das Internet – es war ja auch ein bisschen, sagte man, eine Internetrevolution in Tunesien – welche Rolle spielt das Internet überhaupt auch für die Tunesier insgesamt in der politischen Meinungsbildung und Information?

Amamou: Nun, das Internet ist nach wie vor die erste Quelle, aus dem sich die Tunesier informieren, und die klassischen Medien verbreiten das, was im Internet steht, dann einfach nur weiter und können es eben weiter streuen.

Führer: Und twittern Sie immer noch direkt aus den Kabinettsitzungen heraus?

Amamou: Ja, das stimmt, ich hab das wirklich getan, dann hat mich aber der Premierminister doch gebeten, das nicht mehr live zu tun. Ich sage immer noch, was ich denke, ich teile meine Meinung immer noch mit, ich twitter immer noch, aber nach Ende dieser Sitzung.

Führer: In Deutschland, in Europa spricht man sehr viel von den tunesischen Flüchtlingen – wie stehen Sie zu diesem Problem?

Amamou: Ich würde sie nicht als Flüchtlinge bezeichnen, es sind Emigranten, es sind Auswanderer, und die wollten schon immer nach Europa. Und wir reden hier von einer Gruppe von etwa 20.000 Auswanderern, die sowieso nach Europa wollten. Das waren Menschen, die sind unter Ben Ali ins Gefängnis eingesperrt worden, weil es Abkommen mit europäischen Ländern, wie zum Beispiel mit Italien gab, dass man sie in Tunesien selbst noch ins Gefängnis steckte, weil hier bei euch in Europa dürft ihr sie nicht ins Gefängnis stecken. Und es ist jetzt einfach so, dass man sich heutzutage in Tunesien frei bewegen kann, dass es eine neue Regierung gibt und dass sie sich nun so frei bewegen können, wie das eigentlich jeder Mensch tun sollte.

Und ehrlich gesagt, ich finde diese Zahl nicht schlimm. Wir haben selber 300.000 Flüchtlinge aus Libyen beispielsweise im Land, und wir versuchen dieses Problem sozial zu lösen und nicht mir irgendwelchen Härten. Und wenn man schon von Freiheit redet, ich glaube, das Problem dieser 20.000 wäre auch nicht so bedeutend, wenn sie sich frei bewegen könnten. Aber sie sind praktisch gezwungen, keine Papiere zu haben, um überhaupt eine Chance zu haben, in Europa als Emigranten aufgenommen zu werden. Also meine persönliche Meinung ist die: Wenn es eine echte Bewegungsfreiheit gäbe für die Tunesier, dann wäre die Zahl von 20.000 auch nicht so hoch, weil sie dann wieder hin und zurück könnten und nicht unbedingt dann in Europa bleiben möchten.

Und der zweite Punkt ist eigentlich sehr einfach: Wenn all das Geld, was man in Europa dafür ausgibt, um sich abzuschotten, um diese Leute eigentlich nicht hineinzulassen, dafür ausgegeben würde, dieses Geld direkt an die Länder des Südens zu geben, damit es zum Beispiel so etwas wie eine Arbeitslosenversicherung in diesen Ländern gibt oder eine Sozialversicherung, würden viele dieser Leute überhaupt nicht auswandern wollen.

Führer: Slim Amamou, Tunesiens Staatssekretär für Jugend und Sport, ich danke für das Gespräch, merci beaucoup, Monsieur Amamou!

Amamou: C'est moi.

Führer: Und unser Filmkritiker Jörg Taszman kam auch zu Wort, diesmal als Dolmetscher. Danke auch Dir, Jörg!

Amamou: Danke!

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