"Wir haben es gut gemacht, und wir haben aber auch Glück gehabt"

Claudia von Wilcken im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.11.2011
Die künftige Regierung in Tunesien stehe im Zentrum des Interesses der Bevölkerung, meint die Übersetzerin Claudia von Wilcken. Tunesien könne sich aber glücklich schätzen, dass es nicht die Probleme hat, wie die andere Länder der arabischen Welt, zum Beispiel Ägypten oder Libyen.
Dieter Kassel: Genau einen Monat nach den ersten freien Wahlen nach 23 Jahren Diktatur tritt heute in Tunesien erstmalig die verfassungsgebende Versammlung zusammen. Sie soll - deshalb heißt sie ja so - eine neue Verfassung ausarbeiten für dieses Land, sie muss aber vor allen Dingen zuerst mal dafür sorgen, dass es eine Übergangsregierung gibt, die das Land regieren kann, während dieser Prozess stattfindet. Deshalb wird von der Versammlung ein neuer Staatspräsident gewählt, der dann wiederum einen Ministerpräsidenten damit beauftragen wird, diese neue Regierung zu bilden.

Gestern Abend aber haben die drei Parteien, die in dieser Regierung zusammenarbeiten wollen, bekannt gegeben, wie sie die wichtigsten Ämter untereinander aufteilen wollen, und wenig überraschenderweise will die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei, die bei den Wahlen 40 Prozent der Stimmen bekam, den Regierungschef stellen. Es ist ein ganz besonderer Tag heute in Tunesien, wo diese Versammlung ihre Arbeit aufnimmt, und wie dieser Tag in Tunesien wahrgenommen wird, darüber wollen wir jetzt mit Claudia von Wilcken reden. Sie ist Dolmetscherin und Übersetzerin und lebt seit 1995 schon in Tunesien. Schönen guten Morgen, Frau von Wilcken!

Claudia von Wilcken: Guten Morgen!

Kassel: Ist es denn wirklich auch von der Stimmung her in Tunis ein besonderer Tag heute? Nehmen die Leute das noch wahr, wenn so etwas passiert?

von Wilcken: Ja. Ja, auf jeden Fall, weil das ist, ja jetzt noch - sagen wir mal, was jetzt konkret nach den Wahlen erst mal passiert. Was jetzt konkret dabei herauskommen wird - die künftige Regierung -, das ist schon im Zentrum des Interesses, des allgemeinen, also auf jeden Fall, ja.

Kassel: Nun sind Sie heute Morgen quasi unterwegs, wir reden auch über das Mobiltelefon mit Ihnen, weil Sie auch selber an einer Demonstration teilnehmen werden, die heute stattfindet vor dem Parlamentsgebäude. Warum wird denn heute an dem Tag, wo die Arbeit erst beginnt, schon wieder demonstriert?

von Wilcken: Das ist eine Demonstration, deren Ziel es ist, sagen wir mal, daran zu mahnen, dass die Rechte der Frauen beachtet werden und garantiert werden, auch durch die neue Regierung und in der neuen Verfassung, also dass daran nicht gerüttelt werden soll. In Tunesien haben die Frauen eigentlich sehr weitreichende Rechte, und die sollen erhalten bleiben. Und es geht eigentlich hauptsächlich darum, dass das noch mal ganz klar auch in Erinnerung gerufen wird und da auch noch mal mit hoffentlich sehr vielen Demonstranten das noch mal auch klar gesagt wird, ja.

Kassel: Nun haben aber ja führende Vertreter der Ennahda-Partei nach dem großen Wahlerfolg dieser Partei vor einen Monat wiederholt, beteuert, dass sie auch gar nicht vorhaben, irgendetwas an den Rechten der Frauen und an der Gleichberechtigung in Tunesien zu ändern. Wenn heute trotzdem demonstriert wird, heißt das doch auch, man traut der Ennahda und dem, was sie sagt, nicht so ganz.

von Wilcken: Nein, denen traut man nicht, also die demokratischen Kräfte. Man muss sehr vorsichtig sein, man kann jetzt auch nicht pauschal sagen, dass die das Gegenteil tun werden, aber es wird halt gut drauf aufgepasst, dass sie sich an ihre Versprechen tatsächlich auch halten werden. Also ich glaube, man muss da sehr aufmerksam sein und jeden Schritt verfolgen. Und es gibt auch immer wieder etwas widersprüchliche Aussagen, und dann kommt auch immer wieder sofort ganz massive Kritik auf, sobald etwas, sagen wir mal, etwas nicht in die Richtung geht, die man sich so wünscht von den demokratischen Kräften her.

Kassel: Sind denn eigentlich die Tunesier im Moment noch - ich kann mich erinnern: Ein Gespräch, das wir mit Ihnen geführt haben, ganz wenige Tage vor den Wahlen, da haben Sie von einer Euphorie, aber auch von ganz, ganz großem Stolz gesprochen, weil die Tunesier gesagt haben, ja, gut, die anderen haben es versucht, wir haben es geschafft mit dieser demokratischen Revolution -, ist dieser Stolz jetzt immer noch da?

von Wilcken: Ja, ich glaube schon, also der Stolz ist noch da und auch, dass man sagt: Ja, wir haben Glück gehabt auch, wir haben es gut gemacht, und wir haben aber auch Glück gehabt, wenn man sieht, was in anderen Ländern in der Region passiert. Jetzt auch wieder in Ägypten, wo man also die ganzen Monate auch schon immer das Gefühl hatte, jetzt seit Anfang des Jahres, das klappt dort nicht so wie hier, weil das Militär halt immer an der Macht schon gewesen ist und immer noch ist. Also sie haben im Endeffekt keine große Veränderung herbeigeführt, und in Tunesien war ja auch nach dem Sturz von Ben Ali waren ja auch immer noch Sit-ins vor dem Regierungsgebäude und so weiter - es ist ja auch noch die erste vorübergehende provisorische Regierung gestürzt worden, die zweite -, um halt sicherzustellen, dass nicht nur die Person gestürzt wird, sondern auch das ganze System, was dahinter steht.

Kassel: Man blickt da ...

von Wilcken: Und darauf kommt es im Endeffekt an.

Kassel: Ja. Damit haben Sie es schon gesagt: Man blickt also durchaus - man ist nicht fixiert nur aufs eigene Land - man blickt zum Beispiel auch nach Ägypten oder nach Libyen, vielleicht sogar nach Syrien und sieht, wie es da eben nicht klappt.

von Wilcken: Ja, ja, natürlich. Natürlich, das wird natürlich sehr stark mitverfolgt, was in den anderen Ländern passiert, auch mit sehr viel Mitgefühl, und es ist natürlich auch ergreifend, wenn man diese Bilder sieht. Sagen wir mal so: Da sagt man schon, wir können uns hier glücklich schätzen, dass wir diese Probleme nicht haben in dieser Form, ja.

Kassel: Andererseits ist es natürlich so, dass die Prozesse Zeit brauchen. Die verfassungsgebende Versammlung, die heute ihre Arbeit aufnimmt, wird möglicherweise bis zu einem Jahr brauchen, um so eine Verfassung auch zu verabschieden. Die wirtschaftlichen Entwicklungen, die natürlich besonders wichtig sind, die haben ja auch am Anfang den Anlass gegeben zu diesen Protesten gerade junger Menschen in Tunesien. Die sind natürlich auch nicht so rasend schnell. Haben denn die Tunesier die nötige Geduld, um einzusehen, ehe es uns wirklich praktisch besser geht im Alltag, das wird schon noch ein bisschen dauern?

von Wilcken: Ja, das ist das Schwierigste, denke ich auch, weil die Arbeitslosigkeit lässt sich nicht von heute auf morgen beheben, und jetzt in dem vergangenen Jahr hat natürlich auch die tunesische Wirtschaft sehr viele Einbußen erlitten, also nicht nur im Tourismusbereich, der ja doch einen sehr wichtigen Anteil der Wirtschaft darstellt, sondern auch in anderen Bereichen. Und es gibt viele Firmen, die zugemacht haben, viele Arbeitsplätze sind verloren gegangen, und das allein wieder aufzuholen, ist schon eine schwierige Sache. Das ist halt dann auch die Schwierigkeit, den Leuten zu erklären, dass sich Dinge verändern, dass sich aber ihr Alltag konkret eben nicht in einem Jahr oder in zwei Jahren wirklich spürbar verbessern wird.

Kassel: Wir reden heute an dem Tag, an dem die verfassungsgebende Versammlung in Tunesien ihre Arbeit aufnimmt, mit Claudia von Wilcken, einer Deutschen. Sie ist Übersetzerin, Dolmetscherin und lebt seit Mitte der 90er-Jahre in Tunesien. Ganz praktisch, aus Ihren Alltag, Frau von Wilcken: Was ist heute spürbar anders in Tunis, in Tunesien, als vor einem Jahr?

von Wilcken: Ich würde spontan als Erstes sagen, natürlich, die Meinungsfreiheit. Also jetzt sagt jeder offen, was er meint, die Presse hört sich schon ganz anders an als früher, wenn es vielleicht auch noch ein bisschen Zeit bedarf, bis sich also wirklich neue Reflexe einspielen, aber auch im Verhalten des einfachen Bürgers hat sich sehr viel geändert. Das Verständnis der individuellen Freiheit steckt noch, sagen wir mal, in den Kinderschuhen, und wird halt teilweise auch ein bisschen überzogen verstanden.

Es gibt zum Beispiel jetzt, ich möchte sagen, eine neue Mode im Land, nämlich dass recht viele Leute, wenn sie der Ansicht sind, dass vor ihrem Haus die Autos ein bisschen zu schnell fahren auf der Straße, dann nehmen sie sich einen Sack Zement und machen da einen Hubbel auf die Straße, um die Leute zum Bremsen zu bringen. Also solche wilden Aktionen gibt es sehr viele, und das zeigt aber, jeder da pocht auf seine eigene Freiheit, und wo die Grenzen der Freiheit, der individuellen Freiheit jetzt sind, wo sie dann an die Interessen der Gemeinschaft anstoßen, das ist noch nicht so ganz klar definiert.

Kassel: Was bedeutet das denn auch für die Ordnung im Land? Es gab da so eine kurze Phase nach dem Sturz von Ben Ali, wo es auch keine geordnete Polizei und Ähnliches gab, das ist ja eigentlich vorbei. Also wenn zum Beispiel jemand da einfach einen Huckel auf die Straße macht, damit die Autos langsamer fahren, kommt halt wenigstens die Polizei und macht den wieder weg?

von Wilcken: Nein, also manchmal verschwinden wieder welche, dann kommen wieder neue - das kann man nicht so genau nachvollziehen. Aber ich glaube, die Polizei hat doch andere Sorgen. Also die Hubbel auf der Straße sind da jetzt nicht irgendwie Priorität, würde ich meinen. Es ist ja auch im letzten Jahr sehr, sehr viel wild gebaut worden, also es war eine Phrenesie, die Leute haben Häuser gebaut, wo sie konnten, wo es ging. Die sind jetzt auch, die Behörden sind jetzt auch dabei, zum Teil Häuser einzureißen wieder, die ohne Genehmigung gebaut worden sind, das sind alles sehr schwierige Sachen, und ansonsten, was jetzt die Ordnung angeht, ich glaube, es ist insgesamt jetzt also wieder geordnete Verhältnisse von der Sicherheit. Und ich glaube, das ist doch da die prioritäre Sorge gewesen, dass vor allem jetzt die Sicherheit der Personen wieder garantiert ist im Land, und das ist sicher der Fall.

Kassel: Nun gab es ja gerade so zu der Phase, als die Sicherheitsbehörden in Tunesien nicht geordnet arbeiten konnten, kurz nach Ben Alis Sturz, auch große Sorgen in Europa, gerade in Italien, was Flüchtlingsströme über das Mittelmeer angeht. Ist das eigentlich in Tunesien selbst überhaupt im Moment ein Thema?

von Wilcken: Eine Zeitlang wurde darüber gesprochen, als die Polizei und Armee wieder angefangen haben, die Küste zu überwachen. Aber ich glaube, das hat sich jetzt wieder, es wird überhaupt nicht mehr drüber gesprochen. Ich glaube nicht, dass das jetzt tatsächlich noch ein Problem ist. Es war eine Zeitlang Problem, weil eben keine Überwachung der Küsten gesichert war, und deswegen sind natürlich auch viele Leute übergesetzt nach Italien, weil sie niemand daran gehindert hat, schlechthin.

Kassel: In Tunesien, wo als einzigem Land in der arabischen Welt der Übergang von der Diktatur zur Demokratie im Großen und Ganzen zu funktionieren scheint, nimmt heute die verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit auf. Wir haben das zum Anlass genommen, um über den Status quo in Tunis und in dem Land zu reden mit der seit 1995 dort lebenden deutschen Übersetzerin und Dolmetscherin Claudia von Wilcken. Frau von Wilcken, ich danke Ihnen für das Gespräch, und wünsche Ihnen jetzt eine sinnvolle und nicht unangenehme Teilnahme an der Demonstration, danke schön!

von Wilcken: Danke schön!

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