"Wir erwarten von ihm eine eindeutige Erklärung"

Birgit Homburger im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 08.09.2009
Die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Birgit Homburger, hat Verteidigungsminister Franz Josef Jung vorgeworfen, den Bundestag "nicht rechtzeitig und vollumfassend" über den NATO-Angriff in Afghanistan informiert zu haben.
Birgit Kolkmann: Mindestens 135 Menschen sollen beim Luftangriff auf die Tanklastzüge in Afghanistan ums Leben gekommen sein, darunter auch Kinder. Das sind die Angaben des Distriktgouverneurs. Doch die decken sich nicht mit den Informationen, die das deutsche Verteidigungsministerium publik gemacht hat. Dessen Informationspolitik nach dem von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff wird nun heftig kritisiert – auf nationaler und internationaler Ebene. Der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe nannte sie ein Desaster. Der einzige Weg, wieder Vertrauen herzustellen, sei die Flucht in die Wahrheit.

In diesen Augenblicken sollen die Obleute des Verteidigungsausschusses von Minister Jung persönlich informiert werden. Wir sind nun mit der FDP-Verteidigungsexpertin Birgit Homburger verbunden. Frau Homburger, was hat das Verteidigungsministerium bislang falsch gemacht?

Birgit Homburger: Das Verteidigungsministerium hat, wie die Bundesregierung im Übrigen insgesamt, den Deutschen Bundestag eben nicht rechtzeitig und vollumfassend informiert. Es kann nicht sein, dass der Minister übers Wochenende in der Öffentlichkeit mehr an Informationen preisgibt als das, was er den Obleuten des Ausschusses mitteilt.

Kolkmann: Was wissen Sie bislang Genaues?

Homburger: Es ist immer noch offen, wie die Lage tatsächlich ist, insbesondere wissen wir nach wie vor nicht, wie hoch die Opferzahlen tatsächlich sind und ob es zivile Opfer gegeben hat oder nicht. Und deswegen ist es vor allen Dingen wichtig, dass es zu einer vollständigen Aufklärung dieses Vorfalls kommt, das ist nicht nur im Interesse der Opfer, sondern auch im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten und auch im Interesse unserer Zusammenarbeit mit der afghanischen Seite vor Ort, die bisher ganz hervorragend war.

Kolkmann: Die Flucht in die Wahrheit, die Volker Rühe angemahnt hat, wie sollte sie konkret aussehen?

Homburger: Wir erwarten, dass die Bundesregierung für Aufklärung sorgt. Es ist doch so, dass es Richtlinien gibt, Richtlinien dahingehend, dass in den Einsätzen in Afghanistan zivile Opfer vermieden werden sollten. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr verantwortungsvoll handeln und sich auch an diese Direktiven halten. Und deshalb denke ich, ist alles, was jetzt ohne Kenntnis der tatsächlichen Sachlage läuft, ein Stück weit eine Vorverurteilung, und ich denke, da sollte man vorsichtig sein.

Kolkmann: Welchen Schaden richtete das Ganze bislang an?

Homburger: Das ist im Augenblick nicht absehbar. Wir sind natürlich daran interessiert, jetzt von politischer Seite alles dafür zu tun, dass die hervorragende Zusammenarbeit, die wir bisher mit der afghanischen Seite haben, auch fortgesetzt werden kann. Und deswegen, glaube ich, ist es ein gemeinsames Interesse aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, dass jetzt zunächst mal für eine vollständige Aufklärung gesorgt wird.

Kolkmann: Das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in die ISAF-Mission könnte dadurch natürlich auch weiter erschüttert werden, aber auch das Vertrauen der deutschen Bürger. Ist es missbraucht worden?

Homburger: Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung große Fehler gemacht hat in der Kommunikation des Einsatzes. Sie hat ja nun über einen längeren Zeitraum immer wieder versucht, der Bevölkerung deutlich zu machen, dass es sich hier um einen Entwicklungshilfeeinsatz der Bundeswehr handelt. Das ist ja mitnichten der Fall.

Der Bundesverteidigungsminister spricht fortgesetzt von einem Stabilisierungseinsatz. Natürlich will man der afghanischen Regierung helfen, die Lage im Lande zu stabilisieren, aber im Grunde handelt es sich um einen Kampfeinsatz. Und ich erwarte, dass die Bundesregierung das auch deutlich sagt, und das erwarte ich nicht nur vom Verteidigungsminister, sondern ich erwarte es auch vom Außenminister, und selbstverständlich gilt das auch für die Bundeskanzlerin. Man muss sich da nicht wundern als Bundesregierung, wenn es jedes Mal Überraschungen gibt und Entsetzen gibt in der deutschen Bevölkerung, wenn etwas passiert, wenn man vorher die Dinge nicht beim Namen genannt hat.

Kolkmann: Heute wird die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgeben im Bundestag, eine Aktuelle Stunde ist angesetzt, eine Stunde Debatte. Kann das reparieren an Vertrauensverlust, was schon kaputtgegangen ist?

Homburger: Es wird sehr darauf ankommen, wie das auch intoniert werden wird im Deutschen Bundestag, was dann vonseiten der Bundesregierung gesagt wird in dieser Regierungserklärung und ob die Bundesregierung nun wirklich auch mal den Mut dazu hat, deutlich auszusprechen, was vor Ort los ist. Und ich glaube, diese Ehrlichkeit ist die Bundesregierung den Soldatinnen und Soldaten schuldig, die einen schwierigen Dienst in Afghanistan tun und den sehr, sehr verantwortungsvoll und auch gut machen. Aber sie ist es auch den Menschen hier in Deutschland schuldig, die natürlich ein Recht darauf haben, klar zu wissen, was dort in Afghanistan passiert ist.

Kolkmann: Ist das Thema Krieg in Afghanistan nun ein Wahlkampfthema geworden?

Homburger: Das war auch schon zuvor ein Thema und es wird auch weiterhin ein Thema sein völlig zu Recht. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass noch mal deutlich wird: Wir sind in Afghanistan deshalb, weil wir die afghanische Regierung unterstützen wollen dabei, selbst Strukturen zu schaffen, die auf Dauer geeignet sind, selbst für Sicherheit und Ordnung in Afghanistan zu sorgen. Das ist das Ziel. Und hier, sage ich auch noch mal sehr, sehr deutlich, hat die Bundesregierung natürlich auch Versäumnisse. Es geht nicht nur hier um Wiederaufbau, es geht natürlich auch um Militärausbildung – die läuft ganz ordentlich –, es geht aber auch um Polizeiausbildung, die ganz zentral ist, wenn man irgendwann die Verantwortung an die Afghanen übergeben möchte. Und hier steht die Bundesregierung wie andere Länder auch im Wort, und sie hat eben mitnichten die nötige Anzahl von Polizeiausbildern für Afghanistan bereitgestellt, sie liegt weit unter dem, was sie selbst zugesagt hat. Und wenn man davon spricht, wie lange man noch in Afghanistan sein muss, dann ist eine wesentliche Voraussetzung, dass der Aufbau von Strukturen in Afghanistan funktioniert, sodass Afghanistan selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann, und deswegen brauchen wir vor allen Dingen auch bei der Polizeiausbildung deutlich mehr internationales Engagement.

Kolkmann: Zum Schluss: Ist der Verteidigungsminister Jung nach diesen Vorfällen noch tragbar?

Homburger: Der Bundesverteidigungsminister wird heute den Verteidigungsausschuss unterrichten und er wird auch den Deutschen Bundestag unterrichten über das, was jetzt in Afghanistan vorgefallen ist. Und wir erwarten von ihm eine eindeutige Erklärung auch darüber, warum er dem Deutschen Bundestag nicht schneller mehr Informationen zur Verfügung gestellt hat. Und dann werden wir darüber sprechen, wie es weitergeht.

Kolkmann: Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende und Verteidigungsexpertin Birgit Homburger im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Vielen Dank dafür!

Homburger: Bitte sehr!